Gefühl statt Grids: So tickt die Next Gen im Design!
Die viel beschworene Next Gen, die mit Smartphones, mit Gaming und YouTube aufgewachsen ist, hat ihre ganz eigene Vorstellung von Design. Ein Glück!
Schnell, spontan und Instagram-getrieben
»New Aesthetic« nennt der Grafikdesigner Leonhard Laupichler, der zurzeit im Bureau Borsche in München arbeitet, den neuen Stil und hat gleich zwei Anthologien herausgebracht, die zeigen, wie dieser die junge Typografie bestimmt (siehe PAGE 01.21, Seite 64 f.). Jenseits von Lesbarkeit und Funktion ist er so expressiv wie künstlerisch – und, wie die aktuelle Gestaltung generell, stark instagram-getrieben.
Die Unmittelbarkeit Instagrams stachelt die eigene Kreativität an. Alles ist schnell, und nichts muss zur Gänze durchdacht sein. Man postet gerade entstandene Arbeiten, Ideen, wilde Einfälle, sieht umgehend, was ankommt, pusht sich gegenseitig und seine Intuition gleich mit. Man wird ermutigt, zu experimentieren, und so »verschwindet die Grenze zwischen Design und Kunst immer mehr«, sagt Leonhard Laupichler. Mit kleinen Makeln im Detail wird »gegen die cleane Designwelt« angezeichnet, gegen Helvetica und Universalität, und werden jenseits technischer Perfektion Eigenheiten zelebriert.
Experiment und Überraschung
»Ein Next Generation Design gab es natürlich schon immer«, sagt Christoph Knoth, Professor für Digitale Grafik an der HFBK Hamburg. »Jede Generation möchte schließlich etwas Neues erschaffen.« Aber da es immer die Tools sind, die definieren, wie man denkt und gestaltet, und so auch Visualität und Bildsprache bestimmen, ist entscheidend, dass die Studierenden in der digitalen Welt zu Hause sind. Programme seien so einfach zu erlernen wie nie zuvor, Ideen ließen sich ungeheuer schnell umsetzen.
Gerade auch im Webdesign sind die technischen Möglichkeiten durch die Browserupdates der letzten Jahre – von HTML5 Video und Audio über WebGL bis hin zu Webfonts et cetera – so ungemein gewachsen, dass es kaum noch Einschränkungen in der Gestaltung gibt. Kombiniert mit dem so selbstverständlich gewordenen Self-Learning, bei dem viel ausprobiert und experimentiert werde, habe dies ein neues Design hervorgebracht, zu dessen wichtigsten Merkmalen das Überraschungsmoment zählt. »Eine Generation, die es zulässt, hat eine andere Ästhetik«, sagt Christoph Knoth.
Wie es aussieht, wenn jemand Überraschungen nicht scheut und gleichzeitig so selbstverständlich mit Code umgeht, als würde sie mit dem Stift ein paar übermütige Kringel zeichnen, zeigt das umwerfend verspielte Webdesign der jungen Koreanerin Yehwan Song (siehe Interview rechts). Von Templates hält sie ebenso wenig wie von Minimalismus. Lieber lässt sie Websites zur Seite kippen oder sich um die eigene Achse drehen, schneidet sie in der Mitte durch, fordert den Nutzer auf, festgefahrene UX-Pfade zu verlassen und manchmal auch, etwas Körpereinsatz zu zeigen. Lässt ihn mit den Fingern über den Screen und durch eine imaginäre Landschaft laufen, Websites wie ein Leporello auffächern und das Smartphone drehen und wenden, um die Welt darin zum Rotieren zu bringen – und das Verhältnis des Users zum Webdesign gleich mit.
Technologie mit Gemeinschaftssinn
»Ich glaube ganz fest an die Gemeinschaft«, sagt Maria Cristina Sega, Creative Technologist aus Kopenhagen. Mit Computerspielen aufgewachsen, bestimmen Icons ihr Design, Symbole und Shortcuts. Aber auch fluide Formen und vor allem Glitches, die für sie den Übergang in die Epoche von 5G visualisieren, wenn die Gestaltung den Bildschirm verlassen und sich durch den realen Raum bewegen wird. Faszinierend und unheimlich zugleich findet Sega das, steht Big Data genauso kritisch gegenüber wie der Verschmelzung von Kapital und digitaler Macht. Zugleich glaubt sie an die sozialen Möglichkeiten von Technologie und hat deshalb direkt nach ihrem Bachelor in Communication, Design & Media an der Kea Copenhagen School of Design and Technology Ende 2018 das Cisor Studio gegründet.
Dass es »LGTBTQ & femme driven« sei, betont Maria Cristina Sega, aber auch, dass das nicht heiße, dass sie nicht auch mit Männern arbeiten würde. »Doch es gibt nun mal einen Gender-Gap und dass wir hier nur Frauen sind, gibt uns Kraft.« Die Mitstreiterinnen wechseln, das Engagement bleibt. Damit Cisor Experimentierfeld sein und auch mit Jobs überleben kann, die engagiert, aber nicht lukrativ sind, arbeitet Sega gleichzeitig bei Virtue, der Kreativagentur von Vice, preisgekrönt etwa für ihre Digital Clothing Collection Carlings oder die erste geschlechtsneutrale AI Voice. »Das gibt mir die Freiheit, bei Cisor keine Kompromisse machen zu müssen«, sagt sie.
So unterstützte Cisor die Non-Profit-Plattform Social Service Club, die Künstler und Kreative fördert, mit einer AR-Ausstellung, die Macher des Frauen-Urinals Lapee mit einer Website und entwickelte für das Kopenhagener soul:fest, das sich der Musik und Kunst von People of Color widmet, nicht nur die Identity, sondern öffnete auch die Räume des Studios selbst. Als Safe Space für alle, die sich auf den vollen Straßen unwohl fühlten.
Im September schließlich hat Sega »The Wørmhole« gelauncht. Eine VR-Website, die Kreative, die an neuen Technologien interessiert sind, inspirieren und informieren möchte und Künstlern ihre Startseite für Ausstellungen zur Verfügung stellt. In die Kategorien »Technologies«, »Inspiration« und »Resources« unterteilt, führt sie zu Lernprogrammen, Studios und Künstlern, zu Code-Camps, netzkritischen Organisationen und Hacker-Kollektiven. »The Wørmhole« will ständig wachsendes Inspirationsboard sein, aber vor allem auch dabei helfen, aus der eigenen Social-Media-Bubble herauszutreten, in der vorrangig die eigenen Interessen gespiegelt werden. Wie hieß es neulich in einer Trendstudie von Virtue/Vice: »Access is the New Pay Wall«.
Virtuelle Körper: Digitaler Raum als Safe Space
In keiner Generation zuvor war das Konzept der Identität so selbstverständlich losgelöst vom physischen Körper. Welches Wechselspiel und welche therapeutischen Kräfte sich daraus entwickeln können, zeigt Marcel/a Baltarete in den 3D-Animationen »A Journey of Digital Introspection and Relief«, die am Royal College of Art entstanden sind. Baltarete bezeichnet sich als nonbinär (they/them) und setzt sich in den Kurzfilmen mit der eigenen Geschlechtsidentität auseinander und verwandelt die Arbeit in 3D in eine Therapie. Unsicher und von Depressionen geplagt, kreierte Baltarete als Alter Ego einen Avatar. Er trägt den eingescannten Kopf Baltaretes und dazu einen schimmernden Körper mit goldenem Schutzschild und Fell, ist in ständiger Veränderung und wächst über sich hinaus.
Der digitale Raum ist Ort uneingeschränkter Freiheit und Safe Space zugleich. »Er gibt mir die Freiheit, unendliche Möglichkeiten meines Körpers zu erforschen, und bietet dabei eine sichere Distanz, mich mit meiner Geschlechtsidentitätsstörung, Krankheit und Depression auseinanderzusetzen«, sagt Baltarete. »Und er ermöglicht es mir, mich besser zu spüren. Als ich mich das erste Mal als Avatar in einem männlich erscheinenden Körper sah, war das lebensverändernd für mich – es fühlte sich so richtig an.«
Baltarete war mitten in der Abschlussarbeit im Studiengang Fashion Design, als die Depressionen immer stärker wurden. »Ich verlor meinen Sinn für Ästhetik und musste mir einen neuen Weg suchen, mich auszudrücken.« Weil die Arbeit mit konkreten Materialien, mit Stoffen und Models nicht mehr möglich war, tauchte Baltarete in die 3D-Modellierung und -Animation ein. »Das digitale Arbeiten hat wie ein Filter funktioniert, der meine Ideen zwar durchgelassen hat, meine Depressionen aber auf Abstand hielt.« Auch deshalb empfindet Baltarete die Abschlussarbeit nicht als Design, sondern eher als eine Kunsttherapie, die klassische Therapieformen in den digitalen Raum übertragen hat, den Therapeuten durch die eigene Gestaltung ersetzte und so zur Selbstheilung beigetragen hat.
Trotziges Design
Als Sophia Krasomil begann, an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle Grafikdesign zu studieren, hat es etwas gedauert, bis sie dort einen Platz für sich fand. »Ich habe viel abstrakt gezeichnet, und das passte nicht wirklich ins Grafikdesign«, sagt sie. »Aber eben auch nicht in die Illustration, weil ich kein Interesse hatte, konkrete Geschichten zu erzählen.« Lieber wollte sie ihrer Intuition folgen, wenn sie vor dem weißen Photoshop-Dokument saß, und mit Formen und Farben arbeiten, die keinen bildlichen Ausdruck haben, sondern ein Gefühl vermitteln.
»Auch wenn ich es schwierig finde, Dinge zu verallgemeinern, kann man schon sagen, dass meine Generation es viel mehr zulässt, Gefühle zu zeigen. Mental Health ist ein großes Thema und auch, zur Therapie zu gehen«, sagt Krasomil. »Es hat sich eine Gesprächskultur entwickelt, in der man sich nicht scheut, über tiefe Gefühle zu reden, und auch nicht vor der Verletzlichkeit, die dadurch entsteht.« Man könne fast sagen, dass es en vogue ist, verletzlich zu sein. Vielleicht sei das ein Gegenpol zur Technologie, die einen den ganzen Tag umgibt.
Ein Schlüsselerlebnis, was ihre eigene Arbeit angeht, hatte Krasomil, als sie einen Workshop bei Grafikdesigner Jonathan Castro machte. Da wurden sie in Zweiergruppen eingeteilt und mussten sich mit einer Augenbinde um den Kopf gegenseitig eine halbe Stunde lang durch die Stadt führen und anschließend mit den Bildern, die dabei im Kopf entstanden, arbeiten. »Ich habe ja schon immer so intuitiv gestaltet«, sagt sie, »aber da hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass es legitim ist.«
In ihrer Bachelorarbeit hat sie diesen Strang weiterverfolgt und gezeigt, welche Schnittstellen es zwischen Spiritualität und Technologie gibt. Geht es im New Age darum, dass alles beseelt ist, finden sich Parallelen zum Smart Home, das ein Eigenleben führt. Böse Geister, Voodoo- und andere Mächte ähneln denen, die von Big Data, von Cookies und technischer Überwachung ausgehen. Während ein Trancezustand oder eine Flucht in eine andere Welt, die man durch Psychopharmaka, durch luzides Träumen oder andere Methoden erlangen kann, sich in Games oder in VR wiederfinden lässt.
In ihrer eigenen Gestaltung trifft eine sleeke digitale Ästhetik auf abstrakte Formen, manchmal kombiniert mit ironischen Zitaten von Designelementen, die man sonst vielleicht eher an einer Imbissbude sieht, oder mit No-Go-Schriften wie Papyrus. Man könnte das als »Postironie« bezeichnen oder als »90ies Acid Aesthetic«. Aber Sophia Krasomil bleibt auch da ganz bei sich. »Trotziges Design« nennt sie es, das sich gegen die Regeln, die man an der Hochschule gelernt hat, auflehnt und Neues entstehen lässt.
»Eine Momentaufnahme ist viel wichtiger für uns als die Ewigkeit«
Die Webdesignerin Yehwan Song verbindet Coding mit spielerischem Ernst. Auf Websites, die für Kunst-Biennalen, Museen und Media Art Festivals oder Volkswagen entstehen, lotet sie die Möglichkeiten des Coding aus und kämpft so für die Freiheit des Users im Netz.
Gibt es für dich so etwas wie ein Next Gen Design?
Yehwan Song: Auf jeden Fall. Man erkennt es daran, dass Inhalte und Gestaltung gerade wie fließendes Wasser sind, in ständiger Veränderung und Erneuerung. Face-Filter, VR-Animationen, Websites. Wir legen uns nicht mehr auf einzelne Formen fest und auch nicht auf ein großes Ganzes. Das sehe ich auch in meiner Arbeit. Ich entwickle viel lieber Microsites und einzelne Tools als eine komplette Website. Dass sie ein Log-in und ein Log-out benötigt, eine Such- und eine Kommentarfunktion und dann auch noch auf allen Geräten laufen soll, das interessiert mich nicht. Eine Momentaufnahme ist viel wichtiger für uns als die Ewigkeit – und dass etwas charmant und spannend ist. Wir suchen mit unserem Design keine Antworten, sondern haben den Anspruch, frei und expressiv zu gestalten.
Das sieht man sehr genau in deinem Webdesign. Wie bist du zum Coden gekommen?
Ich habe es mir selbst beigebracht, bin aber auch sehr stark von meinem Vater beeinflusst. Er liebte neue Technologien, Codes und Mathematik. Von ihm habe ich gelernt, dass Software nicht eine feste Form, sondern nur ein Werkzeug ist. So habe ich schon früh angefangen, Tools zu verändern und meine eigenen zu bauen. Gleichzeitig ist meine Skepsis gegenüber vorgefertigten Tools gewachsen, da diese Rechte und Möglichkeiten der Nutzer stark einschränken. Das will ich in meinem Design zeigen und auch, dass es anders geht. Ich stelle Standards auf den Kopf, und so ist nach und nach mein eigener Stil entstanden. Er ist experimentell, aber da wir mit dem Digitalen aufgewachsen sind, haben wir keine Angst vor Bugs und Errors. Das hilft mir bei meiner Arbeit sehr.
Was bedeutet es, wenn du sagst, dass du dich in deinem Webdesign auf den Inhalt konzentrieren möchtest, so wie es das Grafikdesign tut.
Wenn wir an die ganzen Behälter denken, die wir in unserem Alltag nutzen, fällt auf, dass sie je nach Inhalt ganz unterschiedlich aussehen. Ist dieser gefährlich oder für Kinder ungeeignet, sind manche sogar besonders schwer zu öffnen. So sollten wir auch über Websites nachdenken. Anstatt dass alle Templates gleich aussehen, egal welchen Inhalt sie transportieren, sollten auch sie unterschiedliche Formen haben, unterschiedliche Interaktionen und Erfahrungen bieten.
Beziehen deine Arbeiten deshalb auch stark den Körper mit ein? Ganze Screens werden zu Touchpoints, man muss sein Smartphone drehen und wenden.
Mit den Gesten und Körperbewegungen will ich die virtuelle und die reale Welt miteinander verbinden. Aber nicht mit einem Design, das auf dem Prinzip basiert »Macht der User das, passiert das«, sondern indem ich versuche, die Bewegungen, die User mit ihren Fingern und Körpern im täglichen Leben machen, auf die Website zu übertragen. Im Gegensatz zu VR Experiences, die meist sehr unangenehm sind, kann so eine natürliche Brücke zwischen beiden Welten entstehen.
Anfangs warst du von Netzkünstlern wie Yugo Nakamura und Angelo Plessas inspiriert. Wie ist es heute?
Ihr freier Umgang mit digitalen Plattformen hat mich sehr beeindruckt. Ihre Arbeiten sehen wie digitales Kritzeln aus und zeigen, welchen Spaß sie hatten. Heute inspirieren mich eher Musikvideos wie Sias »Soon We’ll Be Found« oder Dokumentationen wie »Powers Of Ten« von Ray und Charles Eames.
Auch auf deiner eigenen Site kann man sich verlieren. Sie wird von einer Grafik bestimmt, die an Planeten erinnert, die sich überschneiden. Ist sie Sinnbild deiner Arbeit?
Sie zeigt meinen Workflow. Gerade anfangs wollte ich mich nicht nur über eine Bezeichnung wie »Designer« oder »Developer« definieren. Denn wie bei den meisten von uns ist meine Arbeit ein Mix. Deshalb habe ich Code geschrieben, der dieses Diagramm entstehen lässt. Durch meine Arbeiten, die hinzukommen, verändert es sich beständig und zeigt, was für ein Mensch ich bin.
Wie sieht du das Web- und Grafikdesign der Zukunft?
Es wird diverser und flüchtiger sein. Universelle, internationale Websites wird es noch geben, aber auch viele kleine, spezialisierte. Auf die Massenware folgen Vielfalt und ein Design jenseits reiner Funktionalität, personalisierte Sites und gestalterische »Schocks«, und die User bekommen ihre Freiheit zurück. Das ist meine Hoffnung.
»Wir sind einfach müde von der Digitalisierung«
Charlotte Rohde ist eine der stilprägenden Gestalterinnen ihrer Generation. Wir sprachen mit ihr über veraltetes maskulines Design, über Schriften als visuelle Stimmen – und warum man sich verletzlich machen sollte. Zum Interview mit Charlotte Rohde.
Dieser Artikel ist in der PAGE 02.2021 erschienen. Als PAGE+ Abonnent können Sie sich die vollständige Ausgabe im Print-Layout herunterladen: