Statt gesellschaftliche Missstände zu beklagen, versuchen Kreative, mit der eigenen Arbeit etwas zu bewegen. Wir stellen bemerkenswerte Projekte vor
In der Kreativbranche findet ein Wandel statt: weg von der reinen Förderung des Konsums, hin zu grundlegenden menschlichen Werten. Ob die Pandemie diese Entwicklung noch beschleunigt hat, lässt sich schwer beweisen. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass in den Corona-Jahren 2020 und 2021 überdurchschnittlich viele engagierte Gestaltungsprojekte entstanden sind.
»Als Designer:innen haben wir eine soziale und gesellschaftliche Relevanz, wir können etwas initiieren und bewirken«, sagt Tina Müller, Gründerin und Geschäftsführerin der Berliner Agentur MüllerValentini. »Das war schon immer so, aber vielen ist das während der Pandemie erst richtig klar geworden.« Tina Müller und Miriam Valentini selbst stecken viel Herzblut in ihre Initiative »#fürRosi«, die sie zusammen mit der Charité in Berlin ins Leben gerufen haben. Ziel ist es, die Räume für die ambulante Chemotherapie so umzugestalten, dass aus der Wartezeit Lebenszeit wird.
Zum Guten gewendet
Auch große Agenturen nehmen Stellung zu gesellschaftlichen Fragen. Im letzten Jahr sorgte Philipp und Keuntje mit der Terre-des-Femmes-Kampagne »#unhatewomen« für Aufmerksamkeit, jetzt legte die Agentur zusammen mit fischerAppelt mit »Drowned Requiem« für die Seenotretter von United4Rescue nach. »Der weltweite Rückenwind aus der Kreativwirtschaft zunächst für ›#unhatewomen‹ und nun für ›Drowned Requiem‹, der sich in den Auszeichnungen manifestiert, zeigt aus unserer Sicht, wie sich die Wertestruktur in der Branche zum Guten gewendet hat«, so Bernhard Fischer-Appelt, Gründer und Vorstand der Agentur.
Dabei warten die Kreativen nicht einfach ab, bis Kunden auf sie zukommen, sondern werden selbst aktiv: »Wir beobachten laufend gesellschaftliche Debatten, ob sie sich als Resonanzfelder für die von uns betreuten Brands eignen«, so Diether Kerner, Geschäftsführer von Philipp und Keuntje in Hamburg. »Wenn eine Idee nicht für eine Marke im Bestand passt, aber trotzdem großartig und wirksam ist, suchen wir uns passende Partner.«
Befeuert wird der Wandel von jüngeren Generationen, für die ökologische Nachhaltigkeit und soziales Engagement selbstverständlich sind. Das zeigen die vielen Designabschlussarbeiten, die sich mit gesellschaftlich relevanten Themen beschäftigen. Einige Hochschulen bieten entsprechende Studiengänge an, die Universität für angewandte Kunst Wien etwa Social Design – Arts as Urban Innovation oder die SRH Berlin University of Applied Sciences den Masterstudiengang Social Design and Sustainable Innovation (mehr Informationen zum Thema Social Design studieren gibt es hier).
Geldverdienen ist okay
Ob man es aus persönlicher Betroffenheit tut, aus dem Bedürfnis heraus, benachteiligten Menschen zu helfen, oder der Erkenntnis, dass eine Gesellschaft nur durch das Engagement ihrer Mitglieder funktioniert: In der Regel schenken solche Projekte sehr viel Befriedigung. Gleichzeitig haben sie emotionale Risiken und Nebenwirkungen: Wer die Identity für eine Flüchtlingsinitiative gestalten will, muss sich mit den Einzelschicksalen Geflüchteter beschäftigen; wer die Räume einer Krebsstation freundlicher gestaltet, erfährt viel vom Leid der Betroffenen. Das kann ganz schön unter die Haut gehen.
Social Design bedeutet nicht automatisch, dass man seine Leistung pro bono erbringt, es ist durchaus legitim, sich den Aufwand vergüten zu lassen – wenn auch zu einem anderen Kurs, als man ihn bei der Logoentwicklung für einen global agierenden Konzern aufgerufen hätte. Wer sich gerne engagieren möchte, aber nicht so richtig weiß, wo und wie, kann sich auf der Plattform www.youvo.org registrieren, die Gestalter:innen mit verschiedensten gemeinnützigen Projekten zusammenbringt.
Die Beispiele auf den nächsten Seitenzeigen, wie wichtig gesellschaftlich orientiertes Design ist und wie viel man mit guten Konzepten erreichen kann. Außerdem tragen sie hoffentlich dazu bei, noch mehr Kreativen Lust auf Social-Design-Projekte zu machen – zu tun gibt es genug.