Healthcare-Kommunikation: Neue Chancen für Kreative!
Digitalisierung und Covid-19 haben die Gesundheitskommunikation gründlich verändert. Für Kreative bietet sich ein wachsender Markt, in dem gerade viel Neues passiert
Seit der Pandemie hat Gesundheit für die meisten von uns deutlich an Relevanz gewonnen – das wiederum erhöht den Informationsbedarf. »Patient:innen und HCPs brauchen eine individuell relevante Orientierung im Informationsdschungel der diversen Absender. Die früher so beliebten Stockfotos funktionieren in Kampagnen nicht mehr – die Bildwelt muss passgenau zur Lebenswelt der Zielgruppe passen«, weiß Reichl.
Anders als früher beziehen Kampagnen heute vermehrt das Umfeld der Patient:innen mit ein. Für die Ipsen Pharma GmbH etwa entwickelte Health Angels die Initiative »Räume zum Reden«, um Angehörigen, die schwer kranke Familienmitglieder unterstützen oder pflegen, eine Stimme zu geben. Inzwischen hätten alle verstanden, dass Kommunikation eine Therapiesäule sei, für die Geschäftsführerin ist das die vielleicht wichtigste Folge von Covid-19: »Sie trägt dazu bei, dass Patient:innen ihre Therapien besser annehmen und dabei bleiben sowie verstehen, dass sie mit Ärzten besser kommunizieren können, weil sie selbst mehr verstehen. Kommunikation ist Teil einer gelungenen Therapie«, so Karin Reichl.
Social-Media-Persönlichkeiten nutzen
Noch relativ neu ist in der Healthcare-Kommunikation das Arbeiten mit Influencer:innen. »Gerade bei dem Thema Disease Awareness setzen immer mehr unserer Kund:innen auf Authentizität und Nahbarkeit. Influencer:innen können da ein geeignetes Mittel sein, um zu kommunizieren, vor allem wenn es darum geht, Patient:innen über Social-Media-Kanäle zu erreichen«, so IPG Health Creative Director Marius Becker. Allerdings muss man in diesem streng regulierten Markt genau hinschauen, mit wem man zusammenarbeitet.
Health Angels beispielsweise hat mit dem Influencer Ralf Bohlmann und dem Dermatologen Prof. Dr. Marcus Maurer einen Podcast zum Thema Nesselsucht aufgesetzt, der sehr gut funktioniert. »Wichtig ist, dass man einen Mediziner hat, der so spricht, dass Nichtmediziner ihn verstehen, und einen Influencer, der genau weiß, was er darf und was nicht«, erklärt Karin Reichl. So dürfe er kein Heilsversprechen geben, keine verschreibungspflichtigen Medikamente empfehlen und auch die Medikamentenmarke nicht nennen, sondern nur den Wirkstoff. »Wir probieren hier alle gerade viel aus, aber ich denke es ist ein Bereich, in dem wir ständig analysieren, zuhören und lernen müssen«, erklärt Reichl.
Begrenzter kreativer Spielraum
Für Kreative, die Lust auf Gesundheitskommunikation haben, eröffnen sich interessante Jobs – wenn auch mit eigenen, sehr strengen Regeln. Das macht sich schon bei den sogenannten OTC(Over the Counter)-Mitteln, also den nicht verschreibungspflichtigen Arzneien, bemerkbar – noch eindeutiger sind die gesetzlichen Vorgaben bei RX-Arzneien, den rezeptpflichtigen Medikamenten. Es ist ein anderes Arbeiten als etwa im Consumer-Bereich. »Als Kreative in Health-Agenturen brauchen wir das gleiche Mindset wie etwa Sanitäter:innen: eine gesunde Obsession für Menschen und ihre Gesundheit«, sagt Marius Becker. Da die Healthcare-Kommunikation regulierter und wesentlich sensibler ist als in anderen Branchen, lässt IPG Health jede ihrer Arbeiten von den agentureigenen Medical Writern sorgfältig überprüfen und auf Kundenseite einem Legal Check unterziehen.
Kreative müssen die möglichen Spielräume genau kennen und oft einen langen Atem haben, mal eben ein schnelles Refreshment ist eher nicht drin. Als ahnungsloser Verbraucher fragt man sich beim Anblick der einen oder anderen Nasenspray- oder Hustensaftverpackung ja schon, weshalb die nicht mal eine neue Gestaltung bekommen. »In die Falle sind viele Agenturen schon getappt, wollten einfach mal die Farben oder die Schrift erneuern, aber das geht gar nicht, denn jede noch so kleine Veränderung bedeutet endlos lange Zulassungsverfahren«, erklärt Karin Reichl.
Klar sein muss man sich auch darüber, dass viele der Kampagnen nicht öffentlich zu sehen sind, sie hängen nicht an Litfasssäulen, laufen nicht im Fernsehen und sind auch nicht in Social Media präsent. Immerhin haben inzwischen alle großen Kreativwettbewerbe eine Health-Kategorie, in die man seine Arbeiten einreichen kann. Und mit dem Global Healthcare Illustration Award gibt es jetzt sogar einen für Illustrationen in diesem Bereich.
Neben Interesse für Medizin, Wissen um all die Regulierungen und viel Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten brauchen Kreative in Health-Agenturen auch Abstand zum Job. »Wir befassen uns täglich mit schwerwiegenden, teils unheilbaren Krankheiten, daher müssen wir mehr als andere auf uns achten«, weiß Marius Becker. »Dafür ist die Arbeit sinnstiftender und verantwortungsvoller als eine Kampagne für Waschpulver oder den neuesten Protein-Shake.«
Spezialisten oder Generalisten?
Um optimal auf die speziellen Gegebenheiten und Regulierungen der Branche eingehen zu können, entstanden explizit auf Healthcare-Kommunikation spezialisierte Agenturen. »Wir benötigen Spezialisten, weil wir es mit einem extrem sensiblen Bereich zu tun haben: dem Leben und der Gesundheit von Menschen. Die Kommunikation braucht wirklich Fachwissen, auch in der Kreation«, sagt Marius Becker. Tatsächlich gibt es nur wenige »normale« Agenturen, die sich Projekte in dieser Branche zutrauen. Eine davon ist UnitedUs aus Brighton. »Der Healthcare-Sektor ist aus Sicht einer externen Agentur unglaublich kompliziert zu verstehen, aber mit Neugier und dem Willen, zuzuhören und zu lernen, kann es sehr lohnend sein, dort zu arbeiten«, sagt Luke Taylor, Partner bei UnitedUs. »Das Wichtigste ist, emotionale Intelligenz in die Projekte einzubringen – das gilt im Übrigen auch für andere Branchen.«
Luke Taylor ist sich der Tatsache bewusst, dass die Verantwortung in der Healthcare-Kommunikation ausgesprochen hoch ist. Schließlich würden Konsument:innen aufgrund von Kampagnen Entscheidungen treffen, die sich unmittelbar auf ihr Wohlbefinden auswirken können. »Healthcare-Brands müssen besonders vertrauenswürdig auftreten, und das erreicht man durch konsistente Kommunikation über einen längeren Zeitraum.«
Aufklärung statt Produktwerbung
Eine alternde Bevölkerung sowie Fortschritte in Technologien und Therapien sorgen dafür, dass der Gesundheitsmarkt weiter wächst. »Kampagnen werden sich stärker darauf konzentrieren, Patienten aufzuklären und zu befähigen, fundierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen, anstatt nur für ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung zu werben«, so Luke Taylor.
Um in Zukunft in der Healthcare-Kommunikation noch zielgerichteter und individualisierter arbeiten zu können, wird die Kommunikation noch datengetriebener werden, Gesundheitsökonomen und Datenanalysten werden die Kreativteams verstärken, davon ist Karin Reichl überzeugt. »In der Pharmaindustrie gilt ›No Outcome no Income‹, und das wird sich auch in der Kommunikation durchsetzen. Als Agenturen werden wir daran gemessen werden, wie spezialisiert wir sind und wie schnell wir auf gerade benötigte Ressourcen zugreifen können.«
Den durch Covid-19 begonnenen Trend zu einem stärkeren Gesundheitsbewusstsein und mehr Prävention fortzusetzen, betrachtet Marius Becker als zukünftige Aufgabe. »Bereits jetzt sind authentische Kommunikation, Transparenz und Nachhaltigkeit bei unseren Kunden von großer Bedeutung, wir sind da wesentlich weiter als andere Branchen. Für Agenturen und Kreative gilt es, innovative Freiräume zu nutzen und auszubauen.«
In der Tat erschließt sich Healthcare-Kommunikation innerhalb der strengen Auflagen immer neue kreative Möglichkeiten, um die Menschen zu bewegen und ihr Verhalten positiv zu beeinflussen. Das »Bread Exam« von IPG Health aus London und Paris etwa ist so ein Beispiel (siehe oben) oder auch die Sugar Kids von VMLY&R Health (siehe unten). Neue Apps wie Eyedar von Area23 (linke Seite oben) nutzen modernste Technologien, um wie in diesem Fall blinden Menschen zu ermöglichen, ihre räumliche Umgebung zu hören. Und weil das Thema immer mehr ins Bewusstsein der Menschen dringt, interessieren sich auch immer mehr kreative Talente für diese Sparte – ich denke, die Healthcare-Branche blickt in eine gesunde Zukunft.
Dieser Artikel ist in PAGE 04.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.