»Eye to Eye« gibt Tieren eine Stimme – im wahrsten Sinne des Wortes. Mit dem Realtime-VR-Dialog erweitern Demodern und Kolle Rebbe die Grenzen der Technik. Wir zeigen, wie.
Manche Momente sind fast unerträglich. Wenn die Tiere hinter der stählernen Schlachthoftür schreien, wenn man in die glühenden Augen all der Kühe, Schweine und Hühner blickt, die im Laufe eines Jahres gegessen werden, oder wenn man im Blitzlichtgewitter kaum die Welt jenseits der Käfigstäbe sehen kann. Da ist man froh, wieder in dem dunklen Raum zu sitzen und sich mit dem Hasen zu unterhalten – auch wenn der einige unbequeme Wahrheiten bereit hält. Die von Demodern und Kolle Rebbe für PETA Deutschland entwickelte VR Experience »Eye to Eye« hat es in sich. Premiere feierte sie im Mai auf der re:publica in Berlin, langfristig soll sie weltweit auf Tour gehen. Dabei hilft, dass die komplette Anwendung in einem mobilen Truck installiert ist.
Seinen Anfang nahm das Projekt im Herbst 2017, als die Hamburger Kreativagentur Kolle Rebbe mit der noch recht allgemeinen Idee für einen Dialog mit einem Tier in VR zu Demodern kam. Der Ansatz war, dass die Menschen gegenüber den Schockvideos aus Schlachthöfen und Laboren abgestumpft sind und PETA daher neue Wege braucht, um sie zu erreichen. Gemeinsam arbeiteten Kolle Rebbe und Demodern das Konzept aus – und das mit einer solchen Begeisterung, dass beide Agenturen am Ende zusätzlich in das Projekt investierten, weil sie vom Leuchtturmcharakter der Anwendung so überzeugt waren.
Nur du und der Hase
Um ihre Idee möglichst kompromisslos umsetzen zu können, arbeitete Demodern explorativ und testete verschiedene Systeme und Geräte, bis das endgültige Set-up stand. Der Dialog mit dem Hasen ist dabei Dreh- und Angelpunkt der Anwendung, die Idee für weitere szenische Elemente kam erst später dazu. Oberste Prämisse war, dass sich das Gespräch so echt wie möglich anfühlen sollte. Ein Chatbot kam daher nicht infrage. »Die Qualität ist einfach nicht gut genug«, erklärt Christopher Baumbach, Senior Creative Engineer bei Demodern, »der Gesprächsverlauf ist zu geradlinig und schematisch, und die Sprachsynthese klingt zu künstlich.« Inhaltlich ging es weder um Wissensvermittlung noch um einen erhobenen Zeigefinger, sondern um ein respektvolles Gespräch, das zum Nachdenken anregt – und sich so ganz anders anfühlt, als eine Unterhaltung mit PETA-Aktivisten in der Fußgängerzone.
Menschen sind gegenüber den Schockvideos aus Schlachthöfen und Laboren abgestumpft – PETA braucht daher neue Wege, um sie zu erreichen
»Wir wollten, dass der Hase einem auf Augenhöhe begegnet – von Lebewesen zu Lebewesen«, erklärt Christopher Baumbach. Deshalb steckt hinter dem Hasen ein Schauspieler, der auf jeden User individuell eingeht, ihn dem Gesprächsverlauf entsprechend an verschiedene Orte bringt und persönliche Nähe herstellt. Manche führt er auf das Feld mit todgeweihten Tieren, andere in das Labor eines Kosmetikherstellers. Der virtuelle Hase übernimmt nicht nur die Stimme des Schauspielers, sondern auch dessen Gestik und Mimik, die mittels Face- und Bodytracking in Echtzeit auf den Hasen übertragen werden. Kombiniert mit voranimierten hasentypischen Bewegungen wie Trippeln und Ohrenzucken in asynchroner Abfolge, wirkt er besonders lebensecht.
Damit sich der User ganz auf das Gespräch einlassen kann, befindet er sich während der VR Experience allein in einem abgedunkelten Teil des Trucks und trägt Noise-Cancelling-Headphones. Über sie hört er auch den extrem guten, lebensechten Sound: vom Hoppeln des Hasen über die Auslöser der Kameras bis hin zum Schreien der Tiere im Schlachthof. Die Soundexperten von German Wahnsinn trugen damit wesentlich dazu bei, dass das VR-Erlebnis so eindringlich geworden ist.
Inhaltlich geht es weder um Wissensvermittlung noch um einen erhobenen Zeigefinger, sondern um ein respektvolles Gespräch, das zum Nachdenken anregt
Mit kleinen Tricks sorgt das Team zudem dafür, dass die virtuelle und die reale Welt ein Stück weit verschwimmen. Über eine versteckte Kamera sieht der Schauspieler den Nutzer und kann auf dessen Kleidung, Körpersprache und Mimik reagieren – und ihn zum Beispiel auf seine Lederjacke ansprechen. Diese direkte Ansprache nach dem Motto »Ich sehe dich« ist im ersten Moment ganz schön creepy, macht den Dialog aber umso echter. Weiteres »Mindfuck«-Element: Am Ende hinterlässt der Hase einen Brief auf seinem Hocker, der, wenn man die VR-Brille absetzt, tatsächlich greifbar vor einem auf dem realen Hocker liegt. Darin bedankt sich der Hase für das Gespräch und verweist auf die Aktivitäten von PETA Deutschland. Puh, erst mal durchatmen.
Zum Streicheln echt
Der Hase ist Protagonist der gesamten VR-Anwendung. Die 3D Artists verwendeten rund 50 Prozent ihrer Zeit allein darauf, ihn zu modellieren und zu animieren. Rund 500 Arbeitsstunden stecken in dem kleinen Nager. Für das Fell nutzten sie Extrasoftware wie das Nvidia-Plug-in HairWorks für Unreal sowie das Grooming-Tool Yeti, mit dem man wie mit einer digitalen Bürste Haare verwuscheln oder glätten und die Wuchsrichtung bestimmen kann. Eine große Herausforderung bestand darin, die menschlichen Bewegungen auf den Hasen zu übertragen, da die Anatomie eine andere ist. Der Hase hat keine Schultern und daher weniger Beweglichkeit in den Armen.
Die 3D Artists verwendeten rund 50 Prozent ihrer Zeit allein darauf, den Hasen zu modellieren und zu animieren: Rund 500 Arbeitsstunden stecken in dem Tier
Nach einigem Experimentieren entschied sich das Demodern-Team schließlich, die Gestik datentechnisch zu übersetzen. Das von ihnen entwickelte System erkennt bestimmte Posen des Menschen und wandelt sie in tierische Bewegungen um, die ihnen aber nicht 1:1 entsprechen. Auch an den Übergängen zwischen voranimierten Sequenzen, wie etwa bei der Ankunft und dem Abgang des Hasen (hier besonders glaubhaft durch seine Tolpatschigkeit) und den vom Bodytracking ausgelösten Bewegungen feilte der Animator lange. Am Ende sind sie so flüssig geworden, dass der Nutzer sie nicht wahrnimmt.
»Nur bei den Augen haben wir ein bisschen geschummelt«, sagt Christopher Baumbach. Diese zeigen bei Hasen normalerweise leicht nach außen. In »Eye to Eye« sind sie nach vorne gerichtet und schauen den User direkt an. Dabei war natürlich eine große Gefahr, ins Uncanny Valley abzudriften, jenem Graubereich zwischen stilisiert und realistisch, in dem am Computer generierte Charaktere einfach nur gruselig aussehen. Hierbei hilft unter anderem die realistische Textur von Fell und Augen. »Wir arbeiten nach dem Leitspruch: Material in CGI ist erst dann gut, wenn ich weiß, wie es sich anfühlt«, so Baumbach.
Monstermaschine und Klimaanlage
Im Gegensatz zur Detailliertheit des Hasen sind die Räume innerhalb der Anwendung äußerst reduziert. Das ist jedoch nicht dem Renderbudget geschuldet, sondern war in diesem Fall eine konzeptionelle Entscheidung: »Wir haben bewusst auf Effekte verzichtet, damit die Szenen nicht allzu sehr vom Gespräch ablenken«, erklärt Baumbach. Dennoch liegt die visuelle Umsetzung auf einem sehr hohen Niveau. Programmiert wurde in der Game-Engine Unreal.
Damit alles rundläuft, hat das Demodern-Team ein ausgefeiltes Hardwaresystem in den PETA-Truck eingebaut. Ein Rechner für das Aufnehmen und Umrechnen des Body- und Facetrackings ist mit einem weiteren Rechner per Netzwerkkabel verbunden, der für das VR-Rendering zuständig ist. »Wir haben hier eine Monstermaschine mit zwei Grafikkarten, von der jeder Gamer träumt«, so Christopher Baumbach.
Der Schauspieler trägt einen Helm mit einer Angel, an der eine GoPro-Kamera und eine Lampe angebracht sind, die für das Facetracking notwendig sind. Dazu kommt ein filigranes Bügelmikro, das bei den Kopfbewegungen mitgeht und so das Facetracking nicht stört. Die Räume, in die er den Nutzer lenkt, bedient der Schauspieler über ein Pedal. Eine Klimaanlage sorgt für eine erträgliche Temperatur in dem Technikkabuff, in dem sich zusätzlich auch immer ein Techniker aufhält.
Viel Gefühl, viel Verantwortung
PETA ist von dem Projekt begeistert. »Wir leben in einer technikverliebten Welt, da bietet uns Virtual Reality die Chance, auch Menschen zu erreichen, die sich bislang wenig oder gar nicht mit dem Thema Tierrechte beschäftigt haben«, so Hendrik Thiele, Leiter des Bereichs Kreation und Großprojekte bei PETA. Der Nachfrage auf der re:publica nach zu urteilen geht die Idee auf: Die Installation war die gesamten drei Tage ausgebucht. Da die Teilnehmerzahl aufgrund der Individualität jedes Gesprächs begrenzt ist, arbeitet Demodern derzeit an einer Mobile-App mit 360-Grad-Video. »Die App wird natürlich weniger immersiv und individuell sein«, so Baumbach, »aber sie erhöht die Reichweite enorm und gibt immerhin ein Gefühl für die Original-Experience.« Eine große Rolle spielt auch die virale Verbreitung: Der Casefilm wurde bis Mitte Mai bereits über 1,6 Millionen Mal angesehen. Wer den Hasen lieber live erleben möchte, findet auf der Projekt-Website bald die nächsten Daten und Locations.
Die Schauspieler brauchen Feingefühl, um an Körpersprache und Mimik zu erkennen, wann sie das Gespräch besser beenden sollten
Dass die unmittelbare Erfahrung starke emotionale Reaktionen auslösen kann, hat das Team sowohl in den User-Tests vorab als auch während der re:publica gemerkt. »Ein Teilnehmer war so begeistert, dass er das komplette Team umarmt hat und uns unbedingt einen Kaffee spendieren wollte«, berichtet Christopher Baumbach. Andere waren derart ergriffen, dass sie noch einige Minuten brauchten, um sich zu fangen. »Gerade bei einer so intensiven VR-Story muss man sich seiner Verantwortung als Betreiber bewusst sein«, so Baumbach. Neben gesundheitlichen Aspekten wie Epilepsie, Klaustrophobie oder der Neigung zu Schwindel, die das Team vorab abfragt, ist es wichtig, dass immer jemand vor Ort ist, der schnell einschreiten kann, wenn etwas schiefläuft. Auch das Feingefühl des Schauspielers ist hierbei wichtig, um an Körpersprache und Mimik zu erkennen, wann er das Gespräch besser beenden sollte. Die beiden Schauspieler, die derzeit den Hasen mimen, wurden im Vorfeld von einem speziellen Schauspiel- und Rhetorik-Coach intensiv trainiert und nutzten die User-Tests zum Üben.
Nach eigener Erfahrung können wir sagen: Der Aufwand hat sich gelohnt! Nicht nur die Technik überrascht, sondern auch die Inhalte nimmt man sich als User zu Herzen. Auch beim Team hinter »Eye to Eye« hat die Arbeit Spuren hinterlassen: Zwei ernähren sich seither vegetarisch.
Die Reaktionen auf der re:publica:
Komplette Gespräche kann man sich hier, hier und hier ansehen.
Das PETA-Team bei Demodern
Development: Christopher Baumbach (Senior Creative Engineer), Franziska Neu (Junior Developer),
Sebastian Schuchmann (Werkstudent)
Artdirektion/Design: Robin Janitz
3D Art: Daniel Harrison (Hase), Mirko Wiedmer
(3D Art und Animation), Bastian Hantsch (temporäre Unterstützung)
Projektmanagement: Deborah Montag
Creative Director: Alexander El-Meligi
Das PETA-Team bei Kolle Rebbe
Andreas Brunsch (Executive Creative Director)
Nicole Holzenkamp (Brand Experience Director)
Christian Rentschler (Creative Director Konzeption)
Lorenz Ritter (Creative Director Text)
Max Wort (Senior Text)
Martin Bergmann (Art Director)
Alexa Schulze (Creative Director Social Media)
Sophie Stock (Senior Beratung Social Media)
André Martens (Teamleitung Beratung)
Lea Zaydowicz (Beratung)
Vanessa Rüsch (Beratung)
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