
Designmethoden und -prozesse in der Praxis
Ohne einen wohlüberlegten Designprozess und dazu passende Methoden kann Gestaltung ins Leere laufen. Von iterativer Brand Evolution mittels Design Thinking bis zu partizipativen Ansätzen sowie Disrupt Design – wir zeigen, wie man den Spagat zwischen Struktur und Kreativität schafft
Leitplanken für Kreativität
Es gibt nicht den einen Designprozess, der sich eins zu eins in allen Fällen anwenden lässt. Vielmehr muss man je nach Kunde, Projekt und beteiligten Disziplinen ein Vorgehen auswählen und anpassen – ebenso wie die Methoden. Das kann mal mehr, mal weniger Research, viele oder wenige Workshops bedeuten. »Bei der Zusammenarbeit mit Menschen müssen wir immer flexibel sein. Das bedeutet auch, dass wir uns manchmal von Prozessen und Methoden frei machen müssen«, sagt Svetlana Matiouk. Um die Regeln sinnvoll brechen zu können, muss man sie allerdings erst einmal beherrschen. Zum Glück ist dieses Methodenwissen in immer mehr Designstudiengängen Standard – allen voran im UX Design und Designmanagement.
Wichtig: Prozesse und Methoden sollen Leitplanken für Kreativität sein, dürfen sie aber nicht zu sehr einschränken! Wir überlassen dazu gerne noch mal Eric Zimmerman das Wort: »In a well-designed process, just like in a game, there is a balance between structure and freedom, between planning and improvisation.« Erkenntnisse aus der Analyse oder aus Co-Creation-Workshops können ein tolles Sprungbrett für Ideen sein – wenn man sich darauf einlässt, andere Leute und deren Perspektiven miteinzubeziehen. Probiert einfach aus, welche Prozesse und Methoden bei welchen Projekten für euch passen, am besten spielerisch und immer offen für Neues. Vielleicht findet ihr ja die eine oder andere Inspiration in den hier vorgestellten Beispielen!
Transparente und iterative Brand Evolution
Mithilfe eines erweiterten Design-Thinking-Prozesses entwickelte Mutabor in enger Zusammenarbeit mit dem Kunden Futurice eine zeitgemäße Markenstrategie

Im Winter 2021 beschloss die internationale Innovationsberatung Futurice, folgende drei Aufgaben anzugehen: Firmen- und Markenstrategie miteinander abgleichen, den Status quo des Designs erfassen und bewerten, Brand Guidelines und ein Brandmanagementsystem etablieren. Futurice wählte Mutabor als externen Partner, weil die Agentur sowohl über Strategie- als auch über Design- und Brandmanagementkompetenz verfügt und so eine umfassende Außensicht einbringen konnte.
Ziel der Brand Evolution war es, die Marke Futurice für die Zukunft aufzustellen sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu befähigen, selbstständig mit den Brand Assets zu arbeiten. Aus diesem Grund war es dem Unternehmen wichtig, sie von Anfang an möglichst eng in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. »Uns war klar: Wenn wir etwas verändern, dann nicht im stillen Kämmerlein zusammen mit der Agentur. Bisherige Versuche, die Marke zu justieren, scheiterten daran, dass sie von den Mitarbeitenden – inklusive der Designerinnen und Designer – nicht langfristig akzeptiert und angewandt wurden. Deshalb mussten sie Teil des Prozesses sein«, erklärt Simone Mitterer, Global Head of Brand und Communications bei Futurice.
Für die Agentur war das insofern herausfordernd, als sie das Feedback von Geschäftsführungsebene, Mitarbeitenden und dem Brand-Team aufnehmen und austarieren musste. Zudem war es wichtig, dass die gleichzeitige Weiterentwicklung von Businessstrategie und Design nicht losgelöst voneinander geschah. Es war also ein integrierter Prozess notwendig, der beides verband sowie eine möglichst offene Teilhabe aller Stakeholder:innen erlaubte.
Der Prozess: Design Thinking reloaded
Kick-off: Mutabor geht solche Projekte mit ihrem »Next Level Process« an, der auf Design Thinking basiert und je nach Kunde und Herausforderung angepasst wird. Gestartet wird meist mit einem Kick-off-Workshop, für den das Team ein Framework mit zehn Fragekategorien entwickelt hat, um das Ziel des Projekts sowie die Herausforderungen zu definieren. »Dabei geht es vor allem darum, ein gemeinsames Mindset zu schaffen, was die Marke für das Unternehmen bedeutet und leisten soll«, erklärt Strategy Director Maximilian Friedrichs, der den Workshop mit Futurice moderierte.
Das dreistündige Remote-Treffen startete mit einem dreißigminütigen Brainstorming, bei dem alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer – CEO, Managing Directors der verschiedenen Länder, Personalchefin, Brand-Team, einer der Gründer sowie ein langjähriger Mitarbeiter von Futurice – ihre Antworten auf die Fragen auf einem Miro-Board festhielten und anschließend in der Runde diskutierten. »Strategie und Design sind hier gefordert, herauszuhören, was die Menschen am meisten beschäftigt, und da nachzuhaken«, erklärt Maximilian Friedrichs. Neben ihm nahmen von der Agentur Executive Creative Director Phillip Kortlang, eine Projektmanagerin sowie Designerinnen und Designer teil, die später die Umsetzung übernehmen würden.
Analyse: Im nächsten Schritt führte Mutabor eine Analyse in den vier Bereichen Unternehmen, Zielgruppe, Markt und Trends durch und entwickelte daraus erste Annahmen und Empfehlungen. Diese dienten als Grundlage für Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern aus Management und Belegschaft. Die gebündelten Ergebnisse bildeten die Basis für den nächsten Workshop.
Brand-Scenario-Workshop: Nun ging es darum, die künftige Rolle von Futurice im Markt und eine dazu passende Markenpersönlichkeit zu definieren, um daraus mögliche Szenarien für das Markenerlebnis abzuleiten. Die Zusammensetzung war ähnlich wie beim Kick-off, gleichzeitig waren sämtliche Dokumente und Materialien aus Workshops und Analyse (bis auf die persönlichen Interviews) im Intranet für alle interessierten Futurice-Mitarbeitenden einsehbar. »Wir haben parallel immer den Feedbackkanal ins Unternehmen offen gehalten. Es gab Informationsformate und ein digitales Sounding Board, wo jede und jeder Fragen, Bitten und Bedenken einbringen konnte«, erläutert Sanni Tiivola-Jurvainen, Brand-Managerin bei Futurice.
Bei diesem zweiten Workshop – ebenfalls im Remote-Format – nutzte Mutabor ein Set an projektiven Übungen, zum Beispiel mit Vergleichen (»Sind wir das Skillshare der Unternehmensberatungen?«) oder Archetypen. So ordneten die Teilnehmenden die Marke verschiedenen, im kollektiven Unbewussten verankerten Mustern zu und arbeiteten mit diesen Rollenbildern weiter (»Sind wir ein Creator, Hero oder Caregiver für unsere Kund:innen?«). »Man holt die Leute viel besser ab, wenn man über das Gefühl einer Marke spricht statt über das Design als solches. Das zeigt, dass mehr Dimensionen für ein Markenerlebnis wichtig sind als die bloße visuelle Komponente«, erklärt Friedrichs.
Das Team arbeitete diverse Archetypen heraus, die auf Kärtchen festgehalten wurden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wählten zwei bis drei davon aus und mussten ihre Wahl im Anschluss erklären. Am Ende entstanden Brand Scenarios, jeweils bestehend aus einem Key-Insight, einem Manifest und einem Erlebnis-Moodboard. Diese wurden dann gemeinsam evaluiert und neu zusammengestellt, bis sich zwei Richtungen ergaben, in denen das Designteam dann weiter explorierte.
Designentwicklung und Touchpoint-Workshop: Anschließend entwickelte Mutabor die Brand Scenarios iterativ weiter, immer in engem Austausch mit Futurice. Der Kunde hatte in Figma jederzeit Zugriff auf die Dokumente und konnte die gesamte Entwicklung mitverfolgen und kommentieren. »So wussten wir als Marketingverantwortliche zu jeder Zeit, wo die Reise hingeht, und konnten transparent an unsere Mitarbeitenden und die Geschäftsführung kommunizieren«, sagt Simone Mitterer.
Die späteren Anwender:innen des Designs standen immer im Mittelpunkt, so Phillip Kortlang: »Jede Entscheidung wurde daraufhin überprüft, ob sie die einfache Adaption fördert oder behindert.« Um sicher zu sein, dass alle Aspekte bedacht wurden, gab es mehrere Workshops mit den Mitarbeitenden. Bei einem Treffen mit dem Inhouse-Designteam und weiteren Stakeholder:innen ging die Agentur die Implikationen des Designs für alle Touchpoints durch, nahm Pain Points und Vorschläge auf.
»Diese enge Kollaboration verhindert, dass Luftschlösser gebaut werden. Das ist besonders wichtig bei flexiblen Designsystemen, die den Nutzerinnen und Nutzern im Umgang einiges abverlangen. Fürs Design liegt die Kunst darin, sich das Visionäre nicht nehmen zu lassen, aber gleichzeitig realistisch zu bleiben«, erklärt Phillip Kortlang. Einige Ergebnisse aus der Zusammenarbeit waren zum Beispiel der Einsatz von Google Fonts, weil das Unternehmen viel mit Google Docs arbeitet, sowie ein System aus mehreren harmonierenden Farben, bei dem man nicht viel falsch machen kann.
In dieser Phase gestaltete sich auch die Kommunikation mit der gesamten Futurice-Belegschaft intensiver. In sogenannten Brand-Taster-Events konnten alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Einblick in die Entwicklung bekommen, das Sounding Board stand weiterhin als Feedbackkanal zur Verfügung. »So wichtig die Einbindung der Mitarbeitenden ist, so wichtig ist es in solchen Prozessen auch, vorab Entscheider:innen festzulegen, die irgendwann ein finales Go geben. Sonst kann das ein sehr langatmiger Prozess werden«, warnt Friedrichs. Bei Futurice lag die Entscheidungsgewalt im Brand Team von Simone Mitterer. So wurden Schritt für Schritt alle Designs finalisiert und produziert.
Implementierung: Als Brandmanagementsoftware wählten Agentur und Kunde Frontify, dort finden sich nun alle Guidelines und Brand Assets. Derzeit läuft die interne Implementierung, die vorrangig Futurice selbst durchführt. Es finden regelmäßige Trainings statt sowie eine Markeneinführung beim Onboarding neuer Kolleg:innen. Zudem gibt es einen Slack-Channel und sogenannte Brand Quarterlys, in denen Leute weiterhin Feedback geben können. Die Adaptionsrate ist laut Mitterer ziemlich gut – im Januar habe sie bei 92 Prozent gelegen.

Das Ergebnis: modern und anwenderfreundlich
Das neue Futurice-Branding wirkt freundlich, farbenfroh und spielerisch. Bei der Entwicklung habe es enorm geholfen, dass die Agentur kontinuierlich Einblicke in die zeitgleich stattfindende Überarbeitung der Businessstrategie bekam. So stellte sich etwa heraus, dass der Aspekt der Anwendungsorientierung und schnellen Umsetzung für die Unternehmensstrategie zentral werden sollte. Das Brand Messaging und die Bildsprache greifen dies auf: Futurice präsentiert sich als »Outcome-focused digital transformation company«, die Illustrationen haben Scribble-Charakter und auf Fotos sind keine Menschen in Anzügen zu sehen.
Zukunftsforschung und Design Fiction
Die Berliner Strategie- und Kreativagentur Ellery Studio kombiniert in ihren Projekten sozialwissenschaftliche, gestalterische und partizipatorische Methoden

Co-Creation gehört seit seiner Unternehmungsgründung 2014 zur DNA von Ellery Studio. »Wir verstehen uns weniger als Empfänger einer Aufgabe, sondern als Partner. Dialog und Zusammenarbeit auf Augenhöhe sind uns sehr wichtig«, erklärt Mitgründerin und Geschäftsführerin Dodo Vögler. Die Berliner Agentur arbeitet regelmäßig für Forschungseinrichtungen und bewirbt sich häufig als Verbundpartner auf größere Forschungsprojekte. Zu ihren Auftraggebern gehören aber auch Wirtschaftsunternehmen, oft aus den Bereichen Energie und Nachhaltigkeit. Eine Vielzahl ihrer Projekte hat eine Laufzeit von eineinhalb bis zwei Jahren.
Die wissenschaftliche Orientierung schlägt sich auch im Prozess der Agentur nieder. »Wir haben einen methodischen Dreiklang aus Zukunftsforschung, Informationsdesign und Partizipation«, erklärt Dodo Vögler. Dabei betont sie, dass Ellery Studio keine naturwissenschaftliche Forschung betreibe, sondern sich an den qualitativen Methoden der Sozialwissenschaften orientiere. Außerdem sei die Agentur immer auf der Suche nach neuen Herangehensweisen – kürzlich fand eine organisationsweite Schulung zum Thema Creative AI statt. Ein Problem, das Ellery Studio bei öffentlichen Workshops immer wieder begegnet: »Es kommen nur die Partizipationswilligen«, so Vögler. Daher beschäftigt sich das Team viel mit der Frage, wo man die für ein jeweiliges Projekt relevanten Personen wirklich erreicht, etwa auf Spielplätzen oder bei Klimaschutzdemos.
Bei Ellery Studio arbeiten Kommunikationsdesignerinnen und -designer sowie Menschen aus der Zukunftsforschung und den Politikwissenschaften. »Letztlich unterscheiden sich die Methoden der verschiedenen Disziplinen gar nicht so sehr voneinander. Dennoch muss man im Team eine gemeinsame Grundlage schaffen«, erklärt Dodo Vögler. Die Agentur ist in die zwei internen Labs Foresight & Participation und Visuelle Strategie aufgeteilt, die bewusst sehr eng zusammenarbeiten.
Case: Die Zukünfte der Bioökonomie
Gemeinsam mit dem IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin und dem Zukunftsforscher Wenzel Mehnert erarbeitete Ellery Studio 2021 in einem vom Bundesbildungsministerium geförderten Projekt, wie man das Forschungsfeld Bioökonomie einer breiten Öffentlichkeit zugänglicher machen könnte. Dafür setzte das Team auf einen mehrstufigen Werkstattprozess und auf Design Fiction – laut Dodo Vögler ein gutes Mittel, um abstrakte Zukunftsvisionen ins Hier und Jetzt zu holen (mehr zum Thema Futures Design).
Interviews: Zunächst identifizierte das Team drei Innovationsfelder, auf die sich das Projekt beschränken sollte: Bio(r)evolution der Ernährung, Beyond Farming und künstliche Biowelten. Anschließend führte es Interviews mit Innovator:innen und Expert:innen in diesen Themenfeldern. Diese Gespräche erwiesen sich als so spannend, dass daraus sogar eine Podcast-Serie entstand.
Workshops: Zu jedem Thema fand ein Onlineworkshop statt. Unter den Teilnehmenden waren Studierende, Expert:innen, aber auch interessierte Laien – insgesamt 46 Personen. Die Teams wurden gemischt zusammengestellt. Um alle abzuholen und schnell ins Thema einzuführen, hatte Ellery Studio auf Basis der vorangegangenen Interviews Designartefakte »aus der Zukunft« gestaltet – darunter eine Postkarte aus einer Käsebrauerei, die ähnlich wie beim Bierbrauen Mikroorganismen einsetzt, um ein bestimmtes Protein herzustellen, und somit Kühe ersetzt. Der Workshop startete also mit der Betrachtung dieser Objekte.
Anschließend arbeiteten die Teilnehmenden in kleineren Gruppen an Futures Wheels – eine Methode, bei der man ausgehend von einer »Was wäre, wenn«-Frage verschiedene Szenarien aufspannt und dabei Implikationen für Politik, Gesellschaft, Natur et cetera untersucht. Ellery Studio modifizierte die bestehende Methode leicht für die Workshops. Darauf aufbauend entwirft man erste Lösungsideen, die oft schon recht konkret sind. In Einzelarbeit entstanden zu den einzelnen Ideen Blogbeiträge in Form von »News from the Future«, um sie greifbarer zu machen.
Gestaltung von Zukunftsszenarien und Design Fictions: Im Anschluss bewertete Ellery Studio die Ergebnisse qualitativ und sortierte sie anhand diverser Fragen in eine Matrix ein: Eignet sich das Szenario, um die Anliegen der Bioökonomie zu kommunizieren? Ist das Szenario plausibel? Et cetera. Zudem ordnete das Team die »News from the Future« möglichen, wahrscheinlichen und wünschenswerten Zukünften zu – nach dem sogenannten Future Cone.
Im Anschluss entwickelte Ellery Studio für jeden Themenbereich ein Zukunftsszenario, für das Gestalterinnen und Gestalter jeweils drei Design Fictions umsetzten, also konkrete Produktideen, die es in Zukunft geben könnte. Dabei entschied sich das Team für das Format Social-Media-Storys, in denen Alltagsszenarien im Collagestil dargestellt wurden, darunter ein Küchengerät, das auf Basis von im Internet zur Verfügung gestellten Gensequenzen per Knopfdruck Fleisch synthetisiert.
Ausspielung: Die Storys wurden mithilfe von sieben Influencer:innen aus Wissenschaft, Lifestyle und Nachhaltigkeit eine Woche lang über Instagram verbreitet. Insgesamt erreichten die Bio:fictions fast 300 000 Menschen – für Wissenschaftskommunikation ein sehr gutes Ergebnis. Darüber hinaus gab es viel und auch wertvolles Feedback, das in die Abschlusspräsentation des Projekts einfloss.

Co-Creation im Rebranding
Kirsten Bolender entwarf in ihrem Designmanagementstudium einen Rebranding-Prozess mit partizipativen Elementen

In ihrem Bachelorstudium im Fach Zeitbasierte Medien an der Hochschule Mainz hatte Kirsten Bolender eine strukturierte Vorgehensweise vermisst: »Meist wurde mit der Kreation losgelegt, ohne zu hinterfragen, was für ein Unternehmen und seine Kund:innen wirklich zielführend ist.« Deshalb entschied sie sich für ein Masterstudium Designmanagement an der Hochschule Macromedia in Köln – einen Studiengang, der Designstrategie und Projektmanagement zusammenbringt.
Für ihre Abschlussarbeit entwickelte Bolender einen Co-Creation-Prozess speziell fürs Rebranding. »Dieses geschieht aus anderen Beweggründen und hat eine andere Ausgangslage als ein Branding. Das Ziel besteht zumeist darin, die Markenidentität, also das Selbstbild, mit dem Markenimage, also dem Fremdbild, wieder in Einklang zu bringen«, erklärt die Designerin. Dafür müsse man den externen Meinungen mehr Raum geben – daher der Co-Creation-Ansatz, der Mitarbeitende und externe Stakeholder:innen wie Endkund:innen einbezieht.
Verschiedene Grade von Co-Creation
Kirsten Bolenders Prozess sieht bis zu sechs partizipative Workshops vor: bei der Bestandsaufnahme, der Ideenfindung und beim Feedback, jeweils mit internen und externen Stakeholder:innen. Visualisiert hat sie den Ablauf als Double-Diamond- sowie als Design-Thinking-Prozess. »Es war mir wichtig, Modelle heranzuziehen, die die meisten Designer:innen kennen und nutzen«, erklärt Bolender. Die Nutzungszentriertheit, Mehrstufigkeit und Iterationsschleifen der beiden Modelle eigneten sich gut, um partizipative Elemente zu integrieren.
Zudem entwickelte die Designerin eine Co-Creation-Skala: Strategische Tools wie Benchmarking kommen ohne Co-Creation aus, Umfragen mit geschlossenen Fragen haben einen geringen Co-Creation-Grad, Workshops mit persönlicher Beteiligung von Stakeholder:innen einen hohen. Ihr Prozess ist bewusst flexibel: Je nach Ausgangslage, Zeit und Budget kann man mehr oder weniger Co-Creation-Elemente einbauen. Dies war ihr wichtig, da partizipative Vorgehensweisen in kommerziellen Projekten aufgrund des Zeit- und Kostenaufwands meist eher kritisch gesehen werden.
»Viele halten Co-Creation für einen teuren Spaß«, sagt Svetlana Matiouk, Professorin für Digital Design und Coding an der Hochschule Macromedia und Bolenders Masterarbeitsbetreuerin. »Ich finde: Das Gegenteil ist der Fall. Mit Co-Creation gelangen wir viel schneller zum Kern eines Problems. Und bei gemeinsamen Workshops lässt sich wertvolles implizites Wissen abrufen, das sich durch Umfragen und Interviews nicht abfragen lässt.«
Eine Überprüfung in der Praxis konnte Kirsten Bolender im Rahmen ihrer Masterarbeit nicht leisten, jedoch führte sie Gespräche mit Designer:innen und ließ deren Feedback in ihr Prozessmodell einfließen. »Insgesamt waren die Rückmeldungen sehr positiv. Der Prozess sei gut verständlich und plausibel und käme den realen Abläufen in Agenturen recht nahe«, so Bolender. Hier kann man sich das Handbuch herunterladen.
Schnell und effizient: Design Sprints
Die Münchner Digitalagentur Format D entwickelt in Key Sprints innerhalb von fünf Tagen tragfähige Konzepte

Seit zwei Jahren arbeitet Format D mit Key Sprints, um schnell und effizient Lösungsansätze zu entwickeln. »Wir wollten weg vom klassischen Wasserfallmodell hin zu mehr Austausch mit dem Kunden und Interdisziplinarität«, sagt UX/UI-Designerin Victoria Rauch. In dem Format erarbeitet die Agentur innerhalb von fünf Tagen realistische Lösungen. Das Team setzt sich aus Mitarbeitenden aus Strategie, Technologie, UX/UI und Design sowie manchmal externen Expertinnen und Experten zusammen. Kund:innen werden punktuell für bestimmte Fragen hinzugezogen, ebenso wie projektfremde Kolleg:innen fürs schnelle Testing. »Jedes Teammitglied ist für die Woche fest eingeplant. Wir nehmen uns einen Raum in der Agentur, in dem wir die fünf Tage gemeinsam sitzen«, so Victoria. Pro Jahr macht die UX-Designerin sechs bis sieben Key Sprints – unterschiedlich intensiv, je nach Größe des Projekts.
Vom Original-Sprint-Format von AJ&Smart beziehungsweise Google Ventures weicht Format D insofern ab, als außer UX/UI meist nicht sämtliche Teammitglieder Vollzeit auf dem Projekt arbeiten, weil dies im Hinblick aufs Budget oft nicht machbar ist. Zudem steht am Ende des ursprünglichen Design Sprints meist nur ein Prototyp – bei Format D ist es eine ausgearbeitete Strategie- und Konzeptpräsentation. Daher testet die Agentur zwischendurch öfter, damit das Ergebnis am Ende möglichst umsetzbar ist. »Früher habe ich Kreativität mit Chaos verbunden«, sagt Digital Strategist Alina Kortwittenborg. »Wir haben ihr eine klare Struktur gegeben – sozusagen eine Art geordnete Kreativität, bei der wir die Zielgruppe und das Kernziel immer im Blick haben.«
Case: Ausstellungen per Web-App navigieren
Die Sammlung Goetz ist eine Sammlung zeitgenössischer Kunst in München, die Wechselausstellungen im eigenen Museumsgebäude sowie Kooperationsausstellungen in anderen Institutionen zeigt. 2022 bewarb sie sich um Fördergelder für die Digitalisierung im Kulturbereich und holte sich dafür Unterstützung von Format D. In einem Workshop erarbeiteten Agentur und Kunde ein Grobkonzept für eine Web-App, mit der Besucher:innen die Sammlung erkunden und Hintergrundinformationen einsehen können. Das Besondere an dem Ausstellungsgebäude ist, dass es dort an den Wänden keine Informationen zu den Werken gibt. Bislang mussten Besuchende sich anhand von gedruckten Flyern orientieren. Im Sommer 2022 kam die Zusage des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst, und die Sammlung Götz konnte Format D mit der Umsetzung beauftragen.
Wie jedes andere Projekt startete Format D auch dieses mit einem Strategieworkshop, in dem die Teilnehmenden die Grundlagen abklopften. Dafür analysierte das Team vorab alle vorhandenen Informationen zu Markt, Zielgruppen und Marke. »Bei diesem Termin ist es wichtig, dass alle Entscheidungsträger:innen des Unternehmens dabei sind. Wir involvieren sie von Anfang an, damit sie den weiteren Entwicklungsprozess verstehen«, erläutert Alina. Am nächsten Tag, bei der Entwicklung einer Empathy Map, standen dagegen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Mittelpunkt, die den engsten Kontakt zur Zielgruppe haben. Alina und Victoria konsolidierten die wichtigsten Ergebnisse und bereiteten sie für das Sprint-Team auf.
Der Key Sprint
Tag 1: Zu Beginn eines Sprints werden Regeln und Timings besprochen sowie Rollen festgelegt. Eine Person ist dafür zuständig, dass Termine eingehalten werden. »Der Key Sprint ist supereng getaktet. Die ersten beiden Tage sind fast bis auf die Minute genau geplant. Ziel ist es, am Abend des ersten Tages schon erste Entwürfe zu machen«, erklärt Victoria.
Das Onboarding mit den Ergebnissen aus dem Strategieworkshop darf entsprechend maximal dreißig Minuten dauern. Dabei wird auch das Kernziel vorgestellt, das fortan immer im Fokus steht und auf dessen Basis jede Idee validiert wird. Bei der Sammlung Goetz lautete es: »Entwicklung einer Web-App für die Besucher der Ausstellung, die einen Mehrwert für das Ausstellungserlebnis in der Sammlung Goetz und bei Kooperationsausstellungen schafft. Dafür soll eine optimale Verzahnung der stationären Ausstellung mit begleitenden Informationen erfolgen.«
Eine Besonderheit bei diesem Projekt: Der Sprint fand vor Ort in der Sammlung Goetz statt, und Vertreter:innen des Kunden waren fester Bestandteil des Teams. »Wir haben zwar ein Raster für unsere Sprints, passen dies aber je nach Kunde und Projekt auf Basis unserer Erfahrungen flexibel an. Hier war es sinnvoll, in den Ausstellungsräumen zu sein und die Expertise des Kunden mit im Team zu haben«, so Alina.
Im nächsten Schritt überlegten die Teilnehmenden anhand von »How might we«-Fragen, welche Herausforderungen sich für ihren jeweiligen Schwerpunkt – Technologie, UX, Strategie et cetera – ergaben. Anschließend wurden die Ergebnisse in großer Runde geclustert und priorisiert. Nach der Mittagspause ging es in die Inspirationsphase. In Form von Lightning Demos, also inspirierenden Kurzvorträgen, stellten die Teammitglieder – inklusive Kunde – Beispiele aus ihren jeweiligen Disziplinen vor, darunter Museums-Apps, JavaScript-Bibliotheken und Best Practices aus dem Kunstbereich. »In dieser Phase kann man die Erwartungshaltung des Kunden gut erfassen und ein Gefühl für seine Präferenzen bekommen«, sagt Alina.
Danach ging es ins Sketching. »Auch wenn der Kopf zu diesem Zeitpunkt schon raucht – es wäre schade, jetzt Schluss zu machen, weil zu viele Ideen über Nacht verloren gehen würden. Das Scribbeln ist außerdem ein guter Ausgleich zu dem ganzen Input«, meint Victoria. Ein klassischer Sprint-Tag beginnt um 10 Uhr und endet um 17 Uhr, mit einer Stunde Mittagspause.
Tag 2: Der Tag begann damit, dass alle ihre Entwürfe an eine Wand pinnten und sich die der anderen schon einmal ansehen konnten. Anschließend präsentierten die Teilnehmenden ihre Ideen und beantworteten Fragen dazu. »Dieser Punkt ist extrem wichtig. Oft hält man seine eigenen Ideen für sonnenklar, und erst im Gespräch zeigt sich, dass andere Menschen die Herausforderungen ganz unterschiedlich angehen. Entsprechend vielseitig fallen die einzelnen Konzeptideen aus«, so Victoria. Diese Runde dauerte circa eine Stunde.
Danach verteilten alle Punkte, sodass eine Heatmap der wichtigsten und besten Ideen entstand. »Diese fügten wir zu einer Art analogem Website-Wolpertinger zusammen und schauten, was ganzheitlich Sinn ergab«, so Victoria. An diesem Punkt legte das Team auch fest, was der Outcome des Sprints sein sollte: ein Konzept mit klickbarem Low-Fi-Prototyp und Moodboard. Danach widmete sich jedes Teammitglied seinem Fachgebiet – wobei nach wie vor alle in einem Raum saßen, um sich schnell austauschen zu können.
Tag 2,5 bis 5: Die Arbeit im eigenen Bereich setzte sich in den nächsten Tagen fort – mit einem Termin zum gemeinsamen Austausch pro Tag. Währenddessen zog das Team immer wieder externe Personen hinzu, um Dinge zu testen. Die Rolle des Tech Leads bestand zu diesem Zeitpunkt vor allem darin, die Vorschläge aus UX und UI auf ihre Machbarkeit zu überprüfen – unter anderem die Möglichkeit eines 3D-Raumplans innerhalb der App, den der Kunde selbst editieren und pflegen kann. Das Projektmanagement behielt fortlaufend den Kostenrahmen im Blick.
Tag 4 und 5: An den letzten beiden Tagen arbeitete das Team das Konzept aus und stellte die Präsentation fertig, die dann in der nächsten Woche stattfand. »Es ist immer gut, die Ergebnisse ein bisschen sacken zu lassen«, so Victoria. Bisher habe die Agentur am Ende jedes Key Sprints ein vorzeigbares Konzept gehabt.
Die Ausarbeitung
Bei der Präsentation der Ergebnisse beim Auftraggeber nahm das Projektteam weiteres Feedback auf und startete in die Umsetzung. Auch hier geht die Agentur in Sprints vor. Dabei ist der Kunde immer involviert, hat vollständige Einsicht in die laufende Arbeit und nimmt an den Review-Terminen teil. »Uns ist es sehr wichtig, dass der Auftraggeber Teil des Teams ist und aktiv mitarbeitet«, erklärt Alina. Die Entwicklung der Web-App für die Sammlung Goetz läuft noch, Ende April wird es eine Testversion für eine Ausstellung im Stadtmuseum München geben.
Dieser Artikel ist in PAGE 05.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.