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Das steckt hinter dem Begriff »Planet-Centric Design«

Groß denken und mutig handeln: Den komplexen Problemen der Gegenwart begegnet Planet-Centric Design mit neuen strategi­schen und methodischen Ansätzen, innovativen Prototypen und Produktentwicklungen

Planet-Centric Design

Wie wäre es, wenn plötzlich Vögel, Bäume, Flüsse oder auch Moorlandschaften die Stakeholder unseres nächsten Designprojekts wären? Wenn nicht der Mensch und seine kurzfristigen, oft zerstörerischen Bedürfnisse im Fokus von Entwicklung und Gestaltung stünden, sondern der Planet als Ganzes – und die Koexistenz aller Spezies? »Beim Planet-Cen­tric Design gilt es, eine planetare Perspektive einzunehmen, selbst wenn es ein mühsamer Weg ist und Tausende von neuen, nicht menschlichen Akteuren zu berücksichtigen wären«, erklärt Samuel Huber, Designstratege und Gründer des For Planet Strategy Lab.

Das Schweizer Unternehmen leistet forschungsgetriebene Stra­te­giearbeit im Bereich Nachhaltigkeit und hat ein eigenes »Um-Denk-Modell« entwickelt, das Orga­ni­sationen dabei hilft, unser planetares Ökosystem und seinen Schutz bei der Produktentwicklung mit einzubeziehen.

 

Human-Centric Design
Vom Human-Centered- (hier) hin zum Planet-Centric Design (oben): Diese Sichtweise fördert die Gleichbehandlung menschlicher und nicht menschlicher Stakeholder und betont die dynamischen Wechselbeziehungen in (Öko-)Systemen

So viel ist klar: Wenn wir die drängenden Prob­le­me wie den Klimawandel, unfaire Wirtschaftspolitik oder die Krise des Gesundheitswesens wirklich an­gehen wollen, ist ein radikales Umdenken erforderlich – auch im Design. Der in Berlin lebende De­sign­stra­te­ge Jeff Humble, Gründer der Lernplattform The Fountain Institute, beobachtet, dass sich gerade eine neue Praxis entwickelt, die er »The design of really big things« nennt. Die Grund­lage dafür bilden die in den letzten Jahren im Kontext von Sustainable-, Eco- oder Planet-Centric-Design-Ansätzen entstandenen Methoden und Tools – und eine systemische Herangehensweise.

»Design formt Verhalten«

Samuel Huber

»Es gibt viele Ansätze, die im Prinzip alle das glei­che Ziel verfolgen, nämlich über das User-Centered Design hinauszugehen und das Produkt im systemi­schen Kontext zu betrachten und zu gestalten«, erklärt Thorsten Jonas, strategischer UX-Designer und Grün­der des Sustainable UX Network aus Hamburg. »Wir Gestalter:innen sind an vielen Stellen im Entstehungsprozess eines digitalen Produkts oder Servi­ces beteiligt und können entsprechend an vielen Stel­len Einfluss nehmen.« Menschen in ihrer Rolle als Nutzer:innen von Produkten und Dienstleistungen sind beim Planet-Centric Design immer nur Teil der Systeme und nicht ihr Mittelpunkt: »Designer:innen müssen ihr Mindset ändern und nicht mehr Human-Cente­red, sondern Humanity- und En­vironmental-Centered den­ken und handeln«, so Jonas.

Planet-Centric Design, Die vier Movements für eine planetare Perspektive
Die vier Movements für eine planetare Perspektive Samuel Huber beschreibt damit die Ansatzpunkte für das allmähliche Umdenken hin zu einer planetarischen Perspektive. Die vier Movements sollen Designer:innen anregen, neue Planet-Centric-Tools in ihre Prozesse zu integrieren, wie etwa die erweiterte Stakeholder Map. Damit lassen sich nicht menschliche Akteure und ihre Beziehungen untereinander darstellen, statt sie einfach unzusammenhängend aufzulisten.

Eine unternehmerische Haltung für den Planeten

Die systemische Perspektive nicht nur selbst im Designprozess konsequent anzuwenden, sondern auch den Nutzerinnen und Nutzern zu vermitteln, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, für die Designer:innen aber alle nötigen Skills mitbringen. »Es gehört zu un­serer Profession, abstrakte Dinge fassbar zu machen. Als Designer:innen haben wir außerdem großen Ein­fluss darauf, ob sich Menschen nachhaltig verhalten. Design formt Verhalten«, sagt Samuel Huber.

Der Einsatz von Tools wie dem Systemic Design Kit der belgischen Human-Centered-Design-Agen­tur Namahn und des Beratungsunternehmens für nachhaltige Entwicklung Shiftn kann dabei helfen. Samuel Huber selbst hat zudem den Service Blueprint für Geschäftsprozesse im Sinne des Planeten überarbeitet. Dieser enthält neben den üblichen Elementen wie Customer Journey oder Supportprozessen einen erweiterten, zirkulären Zeitrahmen und eine zusätzliche Zeile für den Planeten, die sogenannte Planet Lane. Diese bietet Platz zum Sammeln von negati­ven und positiven Auswirkungen. Der erweiterte An­satz eröffnet einen breiteren Zeithorizont und bezieht auch nicht menschliche Akteure ein. Und indem man schon zu Beginn des Prozesses die möglichen ne­gativen Impacts eines Produkts transparent macht, schafft man die Basis für eine bessere Lösung.

Planet-Centric Design, Samuel Hubers Service Blueprint
Erweiterter Service Blueprint Samuel Hubers Service Blueprint fürs UX-Design enthält neben den Prozessebenen mit ihren verschiedenen Schritten eine zusätzliche Zeile für den Planeten sowie einen langfristigeren und zyklischen Zeitrahmen. Damit macht man schon während der Konzeptionsphase die Auswirkungen auf die Erde deutlich.

»Tatsächlich ist der wichtige erste Schritt, die negativen Auswirkungen aufzuzeigen. Es gibt noch im­mer viele Menschen, die glauben, digital sei nachhaltiger als Papier, weil ja kein Baum gefällt werden muss, um Papier herzustellen«, erklärt Thorsten Jonas. Samuel Huber geht das noch nicht weit genug: »Vor allem müssen wir das Individuum aus der Verantwortung nehmen und größere Hebel bedienen, sprich: bei den großen Organisationen ansetzen. Wir sollten die­se direkt verantwortlich machen für die Verhaltensweisen, die sie fördern, und den viel größeren Impact auf die Gesellschaft und das ökologische Umfeld als einzelne Personen.« Dazu sei es wichtig, vor der Wertschöpfung anzusetzen, also bereits bei der Konzeption neuer Produkte ins Spiel zu kommen. »Denn danach stehen die Chancen für den Planeten eher schlecht, da wird Bestehendes oft nur grün kommuniziert. Es geht um eine unternehmerische Haltung für den Planeten«, so Huber.

Konkrete Schritte: Nachhaltigkeit & Design

»Wir müssen das Thema Nachhaltigkeit von Anfang an und in jeden Schritt unseres Designprozess als Default einbetten«, sagt Thorsten Jonas. So hilft es manchmal schon, zu fragen: Wie hoch ist eigentlich der CO₂-Impact unseres Produkts? Gefolgt von der Frage: Wo entstehen diese Emissionen? »Damit können wir dann anfangen, Ideen zu entwickeln. Oft lassen sich schnell Quick Wins finden, die sofort einen Impact haben. Entscheidend ist, dass nachhaltiger zu agieren kein einmaliges Projekt ist, sondern ein fortlaufender Prozess«, so Jonas.

Um Designs konkret nachhaltiger zu gestalten, lassen sich im Arbeitsalltag viele kleine, aber umso nachhaltigere Entscheidungen treffen. Wie können wir Apps und Websites weniger datenschwer designen? »Es bedeutet nicht, dass wir ab sofort gar keine Bilder und Videos mehr verwenden dürfen, sondern dass wir Elemente mit mehr Bedacht einsetzen und uns wieder mehr nach dem schönen Zitat von An­toine Saint-Exupéry richten: ›Perfektion ist nicht dann gegeben, wenn ich nichts mehr hinzuzufügen habe, sondern wenn ich nichts mehr wegnehmen kann.‹ Gleiches gilt für die User Journeys die wir ent­werfen und designen: Je kürzer, desto weniger Sei­tenaufrufe, umso weniger Daten müssen übertragen werden«, erklärt Jonas.

»Ein Hebel für Nachhaltigkeit bei Marken liegt in der Eliminierung umweltschädlicher Elemente in Produkten. Sie könnten innovative, umweltfreundliche Materialien nutzen statt schädliches Plastik oder Einwegverpackungen«, erklärt Kim Fischer, Head of MetaSpaces bei MetaDesign in Berlin und Gründerin der Wissensplattform aware_. Dies könne sich nicht nur ökologisch positiv auswirken, sondern auch das Markenimage stärken und die Anziehungskraft auf umweltbewuss­te Verbraucher steigern.Mit Prototypen zu den richtigen Fragen gelangen

Um Problemstellungen fassbar zu machen und neue Ideen zu generieren, bietet es sich zudem an, Prototypen zu schaffen, die Fragen aufwerfen. Ein nützli­cher Prototyp setzt einen bestimmten Rahmen, lässt aber Punkte offen, an denen alle Stakeholder mitarbeiten und so tiefer ins Projekt hereingeholt werden. Dies ist auch die Vorgehensweise von Samuel Huber. Ein durchdesign­ter Klickdummy ist nach seiner Erfahrung wenig hilfreich, ein offener lässt sich viel besser iterieren. »Diesen Prozess kann man mit crystal­lize und liquify gut beschreiben«, so Huber. »Wir le­gen einige Dinge fest, andere lassen wir unbestimmt. Wir versuchen, das große Ganze und das kleine Detail in Einklang zu bringen, reinzoomen, rauszoomen.«

»Umweltbewusste Kunden neigen zu einer stärkeren Markenloyalität«

Kim Fischer

Am Ende des Prozesses sollte immer ein Produkt stehen, das die Menschen dazu bringt, nachhaltige Entscheidungen zu treffen. »Die Frage ›Wann sind wir fertig?‹ stellt sich nicht. Wir werden nie fertig sein. Wir müssen uns stattdessen immer wieder fragen: Was kann ich bis nächsten Monat, bis zum nächs­ten Quartal, bis Ende des Jahres besser machen?«, sagt Thorsten Jonas. Es geht also darum, bei allem immer das große Ganze zu sehen und auf einen Systemwandel hinzuarbeiten – und zugleich die kleinen, konkre­ten Schritte zu tun, die sich direkt umsetzen lassen. »Wieso ist nicht die Default-Option in jedem Onlineshop die Lieferung zum nächsten Hub?«, schlägt Jonas vor. So einfach und doch so wirksam kann Innovation für den Planeten sein.

Nachhaltiges Design – auch fürs Business

Wie nachhaltiges Design auch den geschäftlichen Interessen zugutekommt, erklärt Kim Fischer, Head of MetaSpaces bei MetaDesign in Berlin. Die Devise der Agentur »Doing more with less« gilt auch für die räumlichen Marken­erleb­nisse und Retailkonzepte, die MetaSpaces entwickelt. Dies umfasst Abfallreduktion bei allen Design- und Produktionsabläufen und den vorrangigen Einsatz wiederverwendbarer oder recycelter Materialien.

Planet-Centric Design, Kim Fischer Portrait
Bild: Annette Koroll

Viele Verantwortliche in großen Unternehmen fürchten, dass umweltfreundliche Produkte teurer zu produzieren sind, vergessen aber, dass nachhaltiges Design sich nicht nur auf lange Sicht auszahlt. Auch kurzfristig kann es zu einer besseren Monetarisierung führen, indem es:

  1. Differenzierung ermöglicht. Nachhaltige Produkte heben sich von der Konkurrenz ab und sprechen dadurch Ziel­gruppen an, die bereit sind, für umweltfreundliche Optionen mehr zu bezahlen.
  2. Kosten langfristig senkt. Effiziente Ressourcennutzung, Recycling und Energieeinsparungen im Designprozess können zu einer langfristigen Kostenreduktion führen.
  3. Markenimages verbessert. Nachhaltiges Design trägt zu einem positiven Markenimage bei, was die Kunden­bindung stärkt und langfristig positive Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit hat.
  4. Innovationschancen eröffnet. Nachhaltiges Design fördert Innovation und führt dadurch zu neuen Märkten und Einnahmequellen.
  5. Kundenbindung intensiviert. Umweltbewusste Kunden neigen zu einer stärkeren Markenloyalität, was zu wiederkehrenden Einnahmen führen kann.

4 Beispiele aus der Praxis für Planet-Centric Design

Planet-Centric Design, Klimaschutzpostkarten von Studierenden des Urban Complexity Lab der Fachhochschule Potsdam
Klimakarten – Impact interaktiv erkunden Wie gut schneidet Deutschland bei der Eindämmung der Klimakrise ab? Wo gibt es die meisten Fortschritte? In welchen Sektoren muss noch mehr getan werden? Zur Beantwortung dieser Fragen entwarfen Studierende des Urban Complexity Lab der Fachhochschule Potsdam Klimaschutzpostkarten für alle 401 deutschen Landkreise und Bundesländer. Unter https://uclab.fh-potsdam.de/projects/klimakarten lassen sich die fünf Bereiche Energie, Mobilität, Gebäude, Landwirtschaft und Abfall interaktiv erkunden. Physische Karten wurden an öffentlichen Stellen wie zum Beispiel in Cafés in Potsdam und Berlin sowie auf dem Campus der Fachhochschule ausgelegt.
Planet-Centric Design, Zero Waste Body Care von Kankan
Kankan – Zero Waste Body Care Die 2019 gegründete Kosmetikmarke Kankan verbindet Nachhaltigkeit mit bequemer Handhabung und verkauft daher ihre Produkte in einfach recycelbaren Weißblechdosen. Letztes Jahr versah Two Times Elliott sie mit einer neuen visuellen Identität, und Morrama, ebenfalls aus London, entwickelte eine wiederverwendbare Clip-on-Pumpe aus recyceltem Plastik. Dadurch verbesserte sich auch die Funktionalität der Produkte. Statt die Flüssigseife erst in andere Behälter umfüllen zu müssen, lässt sich die Pumpe einfach auf die Dose klemmen und mit einer Schraube befestigen.
Planet-Centric Design, Re-handle, ein Kreislauf von handgefertigten Türklinken von d line
Re-handle – Lebenszyklus verlängern Unter dem Label Re-handle führte der dänische Hersteller von handgefertigten Türbeschlägen d line erstmals ein Kreis- lauf­system für Türklinken ein. Indem er die Edelstahlbeschläge zurücknimmt, diese repariert oder ersetzt und bürstet, spart er bis zu 90 Prozent CO₂ ein. Das ist ein Beispiel für das Movement von Quantität zu Qualität, denn die massiven d-line-Produkte lassen sich bis zu viermal wieder aufarbeiten. Dadurch verlängert sich die Lebensdauer einer Türklinke auf bis zu 100 Jahre.
Planet-Centric Design, Indigenous Mapping Collective
I am Amazon – Indigene Kultur bewahren Nicht nur andere Spezies werden vom Menschen verdrängt oder ausgerottet. Das Indigenous Mapping Collective kartiert indigene Gebiete auf Google Maps und Google Earth, darunter 3100 Reservate der First Nations, Siedlungs­gebiete indigener Völker in Kanada und zahlreiche Gebiete im südamerikanischen Amazonas. Die interaktiven Karten sind mit Videos und Informationen zu diesen Orten und den darin lebenden Menschen angereichert. Darüber hinaus lädt die Map zur Auseinandersetzung mit den von Abholzung bedrohten tropischen Regenwäldern ein, die sich wie ein grüner Gürtel um den Planeten ziehen

8 Tipps für einen Planet-Centric-Design-Prozess

Thorsten Jonas ist strategischer UX-Designer und Keynote Speaker mit Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit, KI und Innovation. Er ist Koautor der Web Sustainability Guidelines und hat vor drei Jahren das Sustainable UX Network gegründet, eine Non-Profit-Community mit inzwischen mehr als dreitausend De­signer:innen. Bei uns gibt er praktische Tipps, wie UX-Designer:innen ihre Projekte auf Basis von Planet-Centric-Design-Prinzipien konzipieren und umsetzen.

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