
Das steckt hinter dem Begriff »Planet-Centric Design«
Groß denken und mutig handeln: Den komplexen Problemen der Gegenwart begegnet Planet-Centric Design mit neuen strategischen und methodischen Ansätzen, innovativen Prototypen und Produktentwicklungen

So viel ist klar: Wenn wir die drängenden Probleme wie den Klimawandel, unfaire Wirtschaftspolitik oder die Krise des Gesundheitswesens wirklich angehen wollen, ist ein radikales Umdenken erforderlich – auch im Design. Der in Berlin lebende Designstratege Jeff Humble, Gründer der Lernplattform The Fountain Institute, beobachtet, dass sich gerade eine neue Praxis entwickelt, die er »The design of really big things« nennt. Die Grundlage dafür bilden die in den letzten Jahren im Kontext von Sustainable-, Eco- oder Planet-Centric-Design-Ansätzen entstandenen Methoden und Tools – und eine systemische Herangehensweise.
»Design formt Verhalten«
Samuel Huber
»Es gibt viele Ansätze, die im Prinzip alle das gleiche Ziel verfolgen, nämlich über das User-Centered Design hinauszugehen und das Produkt im systemischen Kontext zu betrachten und zu gestalten«, erklärt Thorsten Jonas, strategischer UX-Designer und Gründer des Sustainable UX Network aus Hamburg. »Wir Gestalter:innen sind an vielen Stellen im Entstehungsprozess eines digitalen Produkts oder Services beteiligt und können entsprechend an vielen Stellen Einfluss nehmen.« Menschen in ihrer Rolle als Nutzer:innen von Produkten und Dienstleistungen sind beim Planet-Centric Design immer nur Teil der Systeme und nicht ihr Mittelpunkt: »Designer:innen müssen ihr Mindset ändern und nicht mehr Human-Centered, sondern Humanity- und Environmental-Centered denken und handeln«, so Jonas.

Eine unternehmerische Haltung für den Planeten
Die systemische Perspektive nicht nur selbst im Designprozess konsequent anzuwenden, sondern auch den Nutzerinnen und Nutzern zu vermitteln, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, für die Designer:innen aber alle nötigen Skills mitbringen. »Es gehört zu unserer Profession, abstrakte Dinge fassbar zu machen. Als Designer:innen haben wir außerdem großen Einfluss darauf, ob sich Menschen nachhaltig verhalten. Design formt Verhalten«, sagt Samuel Huber.
Der Einsatz von Tools wie dem Systemic Design Kit der belgischen Human-Centered-Design-Agentur Namahn und des Beratungsunternehmens für nachhaltige Entwicklung Shiftn kann dabei helfen. Samuel Huber selbst hat zudem den Service Blueprint für Geschäftsprozesse im Sinne des Planeten überarbeitet. Dieser enthält neben den üblichen Elementen wie Customer Journey oder Supportprozessen einen erweiterten, zirkulären Zeitrahmen und eine zusätzliche Zeile für den Planeten, die sogenannte Planet Lane. Diese bietet Platz zum Sammeln von negativen und positiven Auswirkungen. Der erweiterte Ansatz eröffnet einen breiteren Zeithorizont und bezieht auch nicht menschliche Akteure ein. Und indem man schon zu Beginn des Prozesses die möglichen negativen Impacts eines Produkts transparent macht, schafft man die Basis für eine bessere Lösung.

»Tatsächlich ist der wichtige erste Schritt, die negativen Auswirkungen aufzuzeigen. Es gibt noch immer viele Menschen, die glauben, digital sei nachhaltiger als Papier, weil ja kein Baum gefällt werden muss, um Papier herzustellen«, erklärt Thorsten Jonas. Samuel Huber geht das noch nicht weit genug: »Vor allem müssen wir das Individuum aus der Verantwortung nehmen und größere Hebel bedienen, sprich: bei den großen Organisationen ansetzen. Wir sollten diese direkt verantwortlich machen für die Verhaltensweisen, die sie fördern, und den viel größeren Impact auf die Gesellschaft und das ökologische Umfeld als einzelne Personen.« Dazu sei es wichtig, vor der Wertschöpfung anzusetzen, also bereits bei der Konzeption neuer Produkte ins Spiel zu kommen. »Denn danach stehen die Chancen für den Planeten eher schlecht, da wird Bestehendes oft nur grün kommuniziert. Es geht um eine unternehmerische Haltung für den Planeten«, so Huber.
Konkrete Schritte: Nachhaltigkeit & Design
»Wir müssen das Thema Nachhaltigkeit von Anfang an und in jeden Schritt unseres Designprozess als Default einbetten«, sagt Thorsten Jonas. So hilft es manchmal schon, zu fragen: Wie hoch ist eigentlich der CO₂-Impact unseres Produkts? Gefolgt von der Frage: Wo entstehen diese Emissionen? »Damit können wir dann anfangen, Ideen zu entwickeln. Oft lassen sich schnell Quick Wins finden, die sofort einen Impact haben. Entscheidend ist, dass nachhaltiger zu agieren kein einmaliges Projekt ist, sondern ein fortlaufender Prozess«, so Jonas.
Um Designs konkret nachhaltiger zu gestalten, lassen sich im Arbeitsalltag viele kleine, aber umso nachhaltigere Entscheidungen treffen. Wie können wir Apps und Websites weniger datenschwer designen? »Es bedeutet nicht, dass wir ab sofort gar keine Bilder und Videos mehr verwenden dürfen, sondern dass wir Elemente mit mehr Bedacht einsetzen und uns wieder mehr nach dem schönen Zitat von Antoine Saint-Exupéry richten: ›Perfektion ist nicht dann gegeben, wenn ich nichts mehr hinzuzufügen habe, sondern wenn ich nichts mehr wegnehmen kann.‹ Gleiches gilt für die User Journeys die wir entwerfen und designen: Je kürzer, desto weniger Seitenaufrufe, umso weniger Daten müssen übertragen werden«, erklärt Jonas.
»Ein Hebel für Nachhaltigkeit bei Marken liegt in der Eliminierung umweltschädlicher Elemente in Produkten. Sie könnten innovative, umweltfreundliche Materialien nutzen statt schädliches Plastik oder Einwegverpackungen«, erklärt Kim Fischer, Head of MetaSpaces bei MetaDesign in Berlin und Gründerin der Wissensplattform aware_. Dies könne sich nicht nur ökologisch positiv auswirken, sondern auch das Markenimage stärken und die Anziehungskraft auf umweltbewusste Verbraucher steigern.Mit Prototypen zu den richtigen Fragen gelangen
Um Problemstellungen fassbar zu machen und neue Ideen zu generieren, bietet es sich zudem an, Prototypen zu schaffen, die Fragen aufwerfen. Ein nützlicher Prototyp setzt einen bestimmten Rahmen, lässt aber Punkte offen, an denen alle Stakeholder mitarbeiten und so tiefer ins Projekt hereingeholt werden. Dies ist auch die Vorgehensweise von Samuel Huber. Ein durchdesignter Klickdummy ist nach seiner Erfahrung wenig hilfreich, ein offener lässt sich viel besser iterieren. »Diesen Prozess kann man mit crystallize und liquify gut beschreiben«, so Huber. »Wir legen einige Dinge fest, andere lassen wir unbestimmt. Wir versuchen, das große Ganze und das kleine Detail in Einklang zu bringen, reinzoomen, rauszoomen.«
»Umweltbewusste Kunden neigen zu einer stärkeren Markenloyalität«
Kim Fischer
Am Ende des Prozesses sollte immer ein Produkt stehen, das die Menschen dazu bringt, nachhaltige Entscheidungen zu treffen. »Die Frage ›Wann sind wir fertig?‹ stellt sich nicht. Wir werden nie fertig sein. Wir müssen uns stattdessen immer wieder fragen: Was kann ich bis nächsten Monat, bis zum nächsten Quartal, bis Ende des Jahres besser machen?«, sagt Thorsten Jonas. Es geht also darum, bei allem immer das große Ganze zu sehen und auf einen Systemwandel hinzuarbeiten – und zugleich die kleinen, konkreten Schritte zu tun, die sich direkt umsetzen lassen. »Wieso ist nicht die Default-Option in jedem Onlineshop die Lieferung zum nächsten Hub?«, schlägt Jonas vor. So einfach und doch so wirksam kann Innovation für den Planeten sein.
Nachhaltiges Design – auch fürs Business
Wie nachhaltiges Design auch den geschäftlichen Interessen zugutekommt, erklärt Kim Fischer, Head of MetaSpaces bei MetaDesign in Berlin. Die Devise der Agentur »Doing more with less« gilt auch für die räumlichen Markenerlebnisse und Retailkonzepte, die MetaSpaces entwickelt. Dies umfasst Abfallreduktion bei allen Design- und Produktionsabläufen und den vorrangigen Einsatz wiederverwendbarer oder recycelter Materialien.

Viele Verantwortliche in großen Unternehmen fürchten, dass umweltfreundliche Produkte teurer zu produzieren sind, vergessen aber, dass nachhaltiges Design sich nicht nur auf lange Sicht auszahlt. Auch kurzfristig kann es zu einer besseren Monetarisierung führen, indem es:
- Differenzierung ermöglicht. Nachhaltige Produkte heben sich von der Konkurrenz ab und sprechen dadurch Zielgruppen an, die bereit sind, für umweltfreundliche Optionen mehr zu bezahlen.
- Kosten langfristig senkt. Effiziente Ressourcennutzung, Recycling und Energieeinsparungen im Designprozess können zu einer langfristigen Kostenreduktion führen.
- Markenimages verbessert. Nachhaltiges Design trägt zu einem positiven Markenimage bei, was die Kundenbindung stärkt und langfristig positive Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit hat.
- Innovationschancen eröffnet. Nachhaltiges Design fördert Innovation und führt dadurch zu neuen Märkten und Einnahmequellen.
- Kundenbindung intensiviert. Umweltbewusste Kunden neigen zu einer stärkeren Markenloyalität, was zu wiederkehrenden Einnahmen führen kann.
4 Beispiele aus der Praxis für Planet-Centric Design




8 Tipps für einen Planet-Centric-Design-Prozess
Thorsten Jonas ist strategischer UX-Designer und Keynote Speaker mit Schwerpunkt auf Nachhaltigkeit, KI und Innovation. Er ist Koautor der Web Sustainability Guidelines und hat vor drei Jahren das Sustainable UX Network gegründet, eine Non-Profit-Community mit inzwischen mehr als dreitausend Designer:innen. Bei uns gibt er praktische Tipps, wie UX-Designer:innen ihre Projekte auf Basis von Planet-Centric-Design-Prinzipien konzipieren und umsetzen.
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