Ist die Trennung zwischen Kampagnen- und Produktideen überhaupt noch zeitgemäß? Hat 360°-Kommunikation ausgedient? Rei Inamoto, Vice President und Chief Creative Officer bei AKQA, gibt Richtlinien für die Zukunft der Werbung.
Ist die Trennung zwischen Kampagnen- und Produktideen überhaupt noch zeitgemäß? Hat 360°-Kommunikation ausgedient? Rei Inamoto, Vice President und Chief Creative Officer bei AKQA, gibt Richtlinien für die Zukunft der Werbung.
Das Ende der Werbung, wie wir sie kennen
»Wie sollen wir eine kreative Idee beurteilen, verglichen mit einer Produktidee?« Diese Frage tauchte während einer unserer vielen langen Sitzungen letzte Woche in Südfrankreich auf, wo ich den Vorsitz über die Kategorie »Mobile« innehatte, eine von 16 Kategorien beim Cannes Lions International Festival of Creativity.
Bei der Jurysitzung sorgte diese Frage für einige Aufregung. Einige vertraten vehement die Auffassung, dass kreative Ideen und Produktideen nicht in die gleiche Kategorie gehören, während andere dagegenhielten, die tatsächlichen Benutzer würden zwischen beiden gar nicht unbedingt differenzieren. Ob Kampagne oder Produkt: Marken kämpfen um die Zeit der Menschen. Ein anderer Juror stellte eine etwas existenziellere Frage: Warum sollte man automatisch davon ausgehen, dass »Kampagnen«-Ideen »kreativ« sind und »Produkt«-Ideen nicht?
Das Thema »Kampagnen vs. Produkte« entstand zumindest teilweise einfach aus der temporären Verwirrung heraus – allerdings auch durch eine unterschwellig vorhandene (und vielleicht auch nicht eingestandene) Angst und Unsicherheit. Müssen sich Marken heute nicht nur gegen andere Marken behaupten, sondern auch gegen Unternehmen außerhalb der unmittelbaren eigenen Branche? Und stehen Agenturen nicht nur im Wettbewerb mit anderen Agenturen, sondern auch mit Unternehmen, die Produkte herstellen und Dienstleistungen anbieten?
Ja und ja.
Kodak meldete am selben Tag Konkurs an, als Instagram von Facebook für 1 Mrd. $ gekauft wurde. Airbnb verkauft heute mehr Übernachtungen als Hilton. Nike+ Kinect Training (um ganz korrekt zu sein: eine Arbeit von AKQA) ist heute »so gut wie ein echter Trainer, kostet weniger als eine einstündige Trainerstunde und ist rund um die Uhr zu Hause verfügbar«, wie Chris Anderson es ausdrückt.
Die Wahrheit ist: Geschäftsideen seitens der am wenigsten erwarteten Player und Blickwinkel können Ihre Marke schneller in Verlegenheit bringen als irgendwelche Werbung.
Ein paar Jahre, nachdem das größte Werbefestival der Welt das Wort »Advertising« aus seinem Namen gestrichen hat, stehen wir an einem Wendepunkt: Werbung, wie wir sie bisher kannten, wird es in Zukunft nicht mehr geben.
Und jetzt?
Es folgen ein paar Grundsätze für den Übergang von der alten Welt zur neuen Welt.
Nr. 1: von Integrated zu Connected
Das »integrierte« Konzept ist seit Langem der Heilige Gral der Werbung. Es war auch stets die begehrteste Kategorie in Cannes. Allerdings gab es in der Kategorie »Integrated« in diesem Jahr einen spürbaren Mangel an Spannung. Selbst beim Gewinner des Grand Prix (Dove Real Beauty Sketches) – auch wenn ich voll und ganz anerkenne, wie unglaublich viral die Werbung war, und ich die Arbeit sehr respektiere – war die Integration relativ simpel und erschien fast wie ein nachträglicher Einfall.
Diejenige Aktivität im Bereich Brandmarketing, über die in den letzten zwölf Monaten bei Weitem am meisten gesprochen wurde, war Red Bull Stratos (das nicht am Lions-Wettbewerb in Cannes teilnahm – zum Glück für viele Gewinner dieses Jahr, da es beim Festival komplett abgeräumt hätte).
Es hatte keinerlei TV-, Print- oder Outdoor-Medienkomponente – die »üblichen Verdächtigen« der alten Welt. Daher hätte es sich auch nicht für die Kategorie »Integrated« qualifiziert. Dennoch zeigte Red Bull, wofür die Marke steht, erreichte damit die ganze Welt und erlangte größere Bekanntheit, und das auf eine viel brillantere Art und Weise als jede andere integrierte Kampagne der letzten Zeit. Das gelang Red Bull, indem es auf meisterhafte Weise die Verbindungen nutzte, die es mit dem Publikum hergestellt hatte. Und natürlich war das Kühnste daran, die Idee auch umzusetzen. Wenn man Eier aus Stahl hat, dann hat man auch die Nase vorn.
»Connected« bezeichnet etwas, das über die Oberfläche hinausgeht. Mehr und mehr Geräte, Produkte und Dienstleistungen sind ständig vernetzt, und Marken können diese auf intelligente Art und Weise miteinander verbinden, um die Bedürfnisse der Benutzer zu befriedigen. Beim bereits erwähnten Nike+ Kinect geht es genauso sehr darum, das eigene Wohnzimmer in ein Fitness-Studio zu verwandeln, wie darum, dass man sich mit der Nike Service Ecology vernetzt, ganz gleich, wer man ist oder wo man sich befindet. Ob unterwegs mit dem FuelBand, zu Hause mit Nike+ Kinect oder sogar mit zukünftigen Produkten von Nike+ – Nike kann sich immer nahtlos mit Ihren Aktivitäten vernetzen.
In der neuen Welt geht es darum, wie gut Sie sich mit dem Publikum vernetzen UND wie gut Sie Ihr Publikum untereinander vernetzen können.
Nr. 2: Von Markengeschichten hin zu Geschichten von Menschen
Beginnend mit der Bibel vor vielen, vielen Jahrhunderten, haben Marken sich oft Geschichten ausgedacht, um »eine Marke aufzubauen«. Doch im Zeitalter der radikalen Transparenz und der hyperinformierten Benutzer bemerken die Menschen heute schneller denn je, wenn jemand nicht authentisch ist.
Ein gemeinsames Merkmal von einigen der stärksten Arbeiten wie den »Real Beauty Sketches« für Dove, »Find Your Greatness« für Nike und »Paralympics 2012« ist, dass sie nicht unbedingt »Markengeschichten« erzählen. Sie zeigen »Geschichten von Menschen«.
Ein weiterer Trend, der sich abzeichnet, ist der Aufstieg von zielgerichteten Arbeiten – ganz gleich, ob für eine Konzernmarke oder für eine Wohltätigkeitsorganisation. »Why wait until it’s too late?« für Dela, einen Bestattungsversicherer aus Amsterdam, »Immortal Fans« für den Sportclub Recife in Brasilien sowie viele andere zeigten nicht nur echte Geschichten von echten Menschen, sondern hatten auch eine Zielsetzung, die über das bloße Verkaufen hinausging.
Wenn Sie als Marke Geschichten erzählen wollen, dann erzählen Sie keine über sich selbst. Sondern über echte Menschen. Nutzen Sie die Kraft Ihrer Marke und versuchen Sie, die Wahrheit zu reflektieren.
Nr. 3: Von 360 zu 365
Vielen von uns in dieser Branche hat man beigebracht, sich große Ideen auszudenken, die »360« sein können – das bedeutet, dass sie eine 360°-Kommunikation bieten.
In der alten Welt funktionierte 360 eine lange Zeit relativ gut. In der nunmehr digitalen Welt haben die meisten Medien jedoch so sehr an Effektivität eingebüßt und die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen ist heute so kurz, dass der Versuch, den Benutzer mit einer 360°-Kommunikation zu erreichen, vergeblich sein kann.
Eine Idee sollte man nicht mehr daran messen, wie groß ihre Oberfläche ist oder wie viele Medienkanäle sie abdecken kann. Stattdessen sollte man sie nach ihrer Langlebigkeit und ihrem Ehrgeiz messen – und den Auswirkungen, die sie auf die Gesellschaft hat.
»TXTBKS« mag der Größe nach ziemlich klein sein, ist aber vom Ausmaß und Potenzial her ziemlich groß. Smart Communications, ein Telekommunikationsunternehmen auf den Philippinen, beschloss alte SIM-Karten umzufunktionieren, indem es Lehrbuchdaten auf ihnen speicherte und an bedürftige Kinder verteilte, die sich solche Bücher nicht leisten konnten. Diese beinahe erschreckend einfache Idee ist etwas, das ich eine »365-Idee« nennen möchte – eine Idee, die 365 Tage im Jahr eine Marke mit den Menschen vernetzt. Und das nur mit einem einzigen Gerät, das die Menschen in der Tasche haben.
Nr. 4: Von Medienbrüchen zu neuen Geschäftsideen
Die Werbebranche verlässt sich seit vielen Jahren auf Medienbrüche als Geschäftsmodell.
Die Formel war: Finde eine Erkenntnis, denke dir eine Geschichte aus, finde ein Thema oder eine »große Idee« (wie wir sie so liebevoll nennen) und verbreite sie mit den diversen Medienkanälen als Multiplikatoren. Das ist natürlich stark vereinfacht, aber viele sind diesem Rezept gefolgt, um Medienbrüche zu inszenieren, im Glauben, dass sie so Marken aufbauen oder Probleme lösen können.
Um ehrlich zu sein: Vielleicht ging es dabei stets mehr darum, das Problem zu verstecken, als darum, eine Lösung zu finden.
Beispielsweise mag ein Einzelhändler sich entschließen, eine Kampagne zu organisieren, um für Bekanntheit zu sorgen, oder eine Verkaufspromotion durchzuführen, um Kunden anzulocken. Das eigentliche Problem dabei sind die hohen Kosten des Unternehmens selbst und der Strukturen, in denen es steckt. Es geht aber auch anders. Das zeigt Everlane, ein digital ausgerichteter Hersteller von Luxus-Designerkleidung, der seine Produktionskosten drastisch reduzierte, indem er komplett auf Zwischenhändler verzichtete. Anstatt das Problem zu verstecken, erfand man dort ein Geschäftsprinzip, das das Problem löste.
Ein weiteres Beispiel ist »Awaken by Amazon«, ein Konzept von einem von AKQAs diesjährigen Gewinnern der Future Lions. Es ist eine digitale Dienstleistungsidee, die dem Benutzer nützt, von der die Marke profitiert und die einen gesellschaftlichen Beitrag leistet.
Bei Kreativität und Innovationen geht es darum, unerwartete Lösungen für offensichtliche Probleme zu finden – oder auch offensichtliche Lösungen für unerwartete Probleme. Wir sollten unsere Kreativität nutzen, um Unternehmen und Lösungen besser zu machen, anstatt ständig zu versuchen, Menschen bei dem, was sie gerade tun, zu stören.
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Wenn Kampagnen oder Produkte die Zeit der Menschen nicht wert sind, dann leisten sie einen Beitrag zur Umweltverschmutzung – buchstäblich und metaphorisch. Während wir auf dem Weg sind in eine postdigitale, komplett mobile Ära, sind integrierte 360°-Kampagnen, die über Medienbrüche Markengeschichten vermitteln, bald unter Umständen nicht mehr so effektiv (und um ganz ehrlich zu sein, auch nicht mehr so notwendig), wie wir uns das vorgestellt haben.
Marken sollten darauf abzielen, reale Probleme zu lösen, indem 365 Tage im Jahr vernetzte Dienstleistungen zur Verfügung gestellt und neue Geschäftsideen entwickelt werden, die den Menschen helfen und nicht nur der Marke.