
Trends in Corona-Zeiten
Der Blick in die Zukunft hat gerade Hochkonjunktur. Doch was ist zu sehen? Wie wirkt sich die Pandemie auf Entwicklungen in Gesellschaft und Design aus? Wir haben mit Trendexperten in London, München und Zürich gesprochen
Keine Zeit der Utopien
Auf die Frage, ob es gerade eine Zeit für Utopien sei, antwortet Peter Wippermann vom Münchner Trendbüro mit einem klaren Nein. Das Gegenteil sei der Fall. Schon die Finanzkrise habe gezeigt, dass die Gesellschaft sich in schwierigen Zeiten rückwärtsgewandt verhält, sich auf alte Regeln besinnt. Genau das könne man auch jetzt beobachten. Der starke Staat ist zurückgekehrt, Grenzen wurden geschlossen, um die Klimabewegung ist es still geworden. Natürlich wirke sich die Pandemie wie ein Zeitraffer auf den gesellschaftlichen Wandel aus, doch die Trends, die sich gerade beschleunigen, seien nicht neu. Lediglich ihre Akzeptanz verändere sich.
Wie sich das auf die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche auswirkt, hat Peter Wippermann unter dem Titel »New Normal. Wie lebt Deutschland in der Post-Corona-Welt« in einer Studie für das digitale Handelsunternehmen QVC dargelegt. Unterstützt von einer Umfrage von Bonsai Research und flankiert von zahlreichen Beispielen, entwirft er darin fünf Thesen, die das »New Me«, »New Healthcare«, »New Shopping«, »New Purpose« und »New Work« beleuchten.

Überwachtes Homeoffice
Die verstärkte Akzeptanz der Technologie wird enorme Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben. Videostreaming sei nicht neu, erklärt Peter Wippermann, genauso wie die Vernetzung, AR oder VR begleite es die Gesellschaft schon seit mindestens zehn Jahren. Doch Corona habe gezeigt, dass das Videostreaming »den Betrieb einigermaßen aufrechterhalten kann, wenn die Angestellten von zu Hause aus arbeiten«. IT-Konzerne aus den USA haben bereits angekündigt, dies bis Ende des Jahres beizubehalten. »Es ist natürlich ungeheuer effizient, wenn wir keine Büros mehr brauchen. Erst recht, wenn die Leute trotzdem ordentlich arbeiten«. Deshalb werden nicht nur Arbeits- und Privatwelt miteinander verschmelzen, sondern Techniken entwickelt, die Arbeitszeit zu kontrollieren – und »plötzlich wird man im eigenen Haus überwacht«.
»Aus Wohnzimmern werden Headquarter« beschreibt die Studie die neue Arbeitsrealität. Weil in den letzten Monaten im Homeoffice aufgerüstet werden musste, sei der Online-Umsatz bei den Elektronikgeräten zeitweilig um 500 Prozent gegenüber den Vergleichswochen 2019 gestiegen. Auch wenn sich angesichts regelmäßiger Video-Calls eine »Zoom Fatigue« entwickelte, werde es eine Meetingkultur, »bei der man von Hamburg nach München fährt, ein paar Stunden redet und sich dann wieder auf den Rückweg macht«, in dieser Form nicht mehr geben, so Wippermann.

Konsumverzicht und Virtual Shopping
Das Verhältnis des Menschen zum Konsum verändert sich ebenfalls deutlich, und das nicht nur, weil manche weniger verdienen. »Die Realität der letzten Monate hat uns gelehrt, mit wesentlich weniger auszukommen«, sagt Peter Wippermann. Hat die Generation Y bereits begonnen, mehr Wert auf Lebensqualität als auf Objekte zu setzen, so ist das Thema Lifestyle durch die Generation Z politisch geworden. Und spätestens wenn es wärmer wird, wird auch der Klimawandel wieder stärker in das Bewusstsein rücken.
Gleichzeitig verlagert das Shopping selbst sich ins Internet. Schon während der Quarantäne kam es aufgrund geschlossener Läden, Ansteckungsgefahr und Warenknappheit zu einem E-Commerce-Boom. Und jetzt – mit Maske und Warteschlangen – macht es im wirklichen Leben zudem viel weniger Spaß. Neben virtuellen Shopping-Scouts, die Kunden im Netz begleiten, sieht Peter Wippermann die Zukunft in Strategien, wie ShopShops sie verfolgt. Dabei streamen chinesische Szenescouts ihre Touren durch angesagte Läden in Los Angeles, New York oder anderen It-Spots per Smartphone. Ihre Fans, die live zugeschaltet sind, kaufen in Echtzeit, Abrechnung und Transport übernimmt der Gigant Alibaba. Oder man schließt sich auf der ebenfalls chinesischen E-Commerce-Plattform Pinduoduo einem der Teams an, lernt neue Leute kennen und shoppt gemeinsam und in Echtzeit bei dem US-Großhändler Costco, angeheizt von Geschenken, Gewinnspielen und Rabatten: Je höher die Bestellmenge, desto niedriger ist der Preis.
Die Pandemie wirkt sich wie ein Zeitraffer auf den gesellschaftlichen Wandel aus, doch die Trends, die sich gerade beschleunigen, sind nicht neu. Lediglich ihre Akzeptanz verändert sich.

Peter Wippermann, Gründer des Trendbüros München
Gesundheit: Selfmonitoring und ökonomisches Risiko
»Seit zehn Jahren machen wir Wertewandelforschung und Social-Media-Analyse – und Gesundheit ist durchgängig auf Platz eins«, sagt Peter Wippermann. »Doch durch die Pandemie hat sie eine völlig neue Bedeutung bekommen.« Neben der Selbstoptimierung, gestreamten Fitness- und Yogaklassen oder Challenges auf Instagram und TikTok nahm die Selbstverständlichkeit, seinen eigenen Körper überwachen, ebenso zu wie das Bedürfnis nach mentalem Wohlbefinden. So haben sich die Downloads der Meditations-App Headspace seit März 2020 verdoppelt.
Besonders interessant ist laut Wippermann, wie die Gesundheit, die vor der Pandemie ein »jugendliches Leben auf viele Jahre hinaus« garantieren sollte, zugleich zu einem gesellschaftlichen Problem geworden ist. Der Mensch, der in der Wertschöpfungskette immer zentral war, wurde zum schwachen Glied. »Nicht umsonst will Amazon jetzt vier Milliarden US-Dollar in die Hand nehmen, um im gesamten Arbeitsprozess von der Produktion bis zum Endkunden den Risikofaktor Mensch auszuschalten.« Relativ schnell werde dort auf mobile Roboter umgestellt. Auch das sei eine der Entwicklungen, die die Pandemie enorm beschleunigt hat.

Care Futures
An der Zürcher Hochschule der Künste hat die Pandemie bisher vor allem dadurch ihre Spuren hinterlassen, dass der Unterricht jetzt digital stattfindet, Abschlussausstellungen abgesagt wurden und die Studierenden nicht mehr im Austausch und in der Gemeinschaft arbeiten können, sondern nur noch in ihren meist viel zu kleinen Unterkünften. Dr. Francis Müller, Vorstandmitglied von swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung, ist Dozent der Fachrichtung Trends & Identity. »Durch die Krise befinden wir uns in einer höchst ergebnisoffenen Situation, was zweifellos dazu anregt, intensiver als sonst über die Zukunft nachzudenken«, sagt er. »Die Krise zwingt uns, uns vom Vertrauten zu befremden«. Und er ist überzeugt, dass die vielen Alltagshandlungen und -rituale, die etwa durch die größere physische Distanz an die aktuelle Situation angepasst wurden, in Zukunft in die Arbeiten der Studierenden einfließen werden. Schon allein, weil Annahmen, die zuvor allenfalls theoretisch existierten, nun real erfahren werden.
Im Forschungsbereich »Care Futures« beschäftigt sich die Hochschule schon seit Längerem mit Themen wie Mental Health und Palliative Care. »Aufgrund der demografischen Alterung der Gesellschaften und dem zunehmenden ökonomischem Druck auf die Gesundheitssysteme werden Krankheit und Gesundheit weiterhin an Bedeutung gewinnen«, sagt Francis Müller. Zudem habe Corona im Gesundheitswesen viel verändert. Im Studiengang interessiere sie in diesem Zusammenhang vor allem die materielle Kultur. Dazu gehören gerade Schutzmasken oder auch Glaswände, wie sie in Altersheimen und geriatrischen Kliniken aufgebaut wurden.
»All diese Dinge sind gestaltet, sie haben bestimmte Existenzbedingungen, Funktionen und Materialitäten, zugleich aber auch eine Semantik und Bedeutung«, erklärt Francis Müller. Ganz so, wie in den USA das Tragen von Masken zu einem politischen Statement wurde, da Trump versuchte, das »chinesische Virus« zu nationalisieren, und sich weigerte, selbst eine Maske zu tragen. Design als Disziplin, die formale und semantische Produktfunktionen gemeinsam betrachtet, kann in solche Prozesse eingreifen.

Zukunft der (Trend-)Forschung
Auch die Trendforschung selbst wird sich durch die Pandemie verändern, sagt der Kultursoziologe, aber das solle man keineswegs überbewerten. Seiner Ansicht nach wird die Netnographie an Relevanz gewinnen. Das ist ein Forschungsansatz, bei dem die Methoden der Ethnografie auf Gruppen im Internet übertragen werden. »Das Geschehen in digitalen Sphären wird dabei nicht nur als ein weiteres Kommunikationsmedium betrachtet, sondern als eine genuin neue Kultur«, erklärt Müller. Dass in diesem Bereich gerade sehr viel passiert, sehe man daran, wie schnell sich während der Pandemie das Soziale ins Digitale verlagert hat und das Interface die Verbindung zur sozialen Welt wurde. Wie etwa bei den Online-Bierrunden, die zu Beginn des Lockdowns aufregend waren, dann aber sehr schnell langweilig wurden, weil die sinnliche Ebene fehlte.
»Im Digitalen entsteht ein Universum von sprachlichen und visuellen Daten: Über drei Milliarden Menschen haben heute weltweit ein Smartphone, pro Tag werden Milliarden Fotos und Filme ins Internet geladen, wo sie geteilt, bewertet, kommentiert, adaptiert oder auch gelöscht werden«, erklärt Francis Müller. »Wir möchten aber nicht einfach zählen, sondern die Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen der Zeichen und Codes verstehen, die hier entstehen.« Was im Digitalen dokumentiert und verhandelt würde, könne im Design als lebensweltlich orientierte und pragmatische Praxis viel bewirken – und dies oftmals mit relativ wenig Aufwand.
Während der Pandemie hat sich das Soziale enorm schnell ins Digitale verlagert, das Interface wurde die Verbindung zur sozialen Welt.
Dr. Francis Müller, stellvertretender Leiter der Fachrichtung Trends & Identity an der Zürcher Hochschule der Künste
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