Der Blick in die Zukunft hat gerade Hochkonjunktur. Doch was ist zu sehen? Wie wirkt sich die Pandemie auf Entwicklungen in Gesellschaft und Design aus? Wir haben mit Trendexperten in London, München und Zürich gesprochen
Victoria Buchanan erinnert sich noch genau, wie sie zu Beginn der Quarantäne Fernsehen schaute und die Werbespots plötzlich wie aus einem Paralleluniversum schienen. Quirliges Straßenleben, Menschen, die sich umarmten, in Flugzeuge stiegen. Seither ist weniges so, wie es war. Auch bei The Future Laboratory in London nicht, das Kunden wie H&M, Google, IKEA oder Jaguar betreut und wo Victoria Buchanan als Future Analyst arbeitet. Es überschlagen sich die Anfragen.
»Natürlich sucht man in unsicheren Zeiten nach Antworten, das ist Teil der menschlichen Psyche«, sagt Buchanan. »Gleichzeitig ist es für uns Future Analysts gerade eine besonders spannende Zeit.« Weil sich einige der Megatrends, die sie seit Jahren beobachten, in Echtzeit beschleunigen und Werte und Verhaltensweisen gleich mit. Ob es dabei um die Digitalisierung geht, um den Konsum, um die Gesundheit oder das Leben in der Stadt. Auch deshalb reagieren Trendbüros weltweit auf die Pandemie mit Studien und Webinaren im Wochentakt.
Form follows purpose
Bisher scheinen die wenigsten Marken einen nachhaltigen Umgang mit der veränderten Situation gefunden zu haben. Schaltet man das Fernsehen an, wird unisono das lauschige Heim beschworen, im Familienkreis gekuschelt und auf eine bessere Zukunft gehofft. Dass das ganz schön ermüdend ist, findet Victoria Buchanan auch. Ihrer Ansicht nach wird für den Erfolg von Marken in nächster Zeit entscheidend sein, dass sie ihren Kunden Sicherheit vermitteln, sie unterstützen, aber auch inspirieren.
»Seit Jahren wird sehr viel über Brand Purpose gesprochen, darüber, wie Marken eine größere Rolle in der Gesellschaft spielen können, mehr Verantwortung übernehmen«, erklärt die Trendanalystin. Lange sei man dabei ziemlich hilflos herumgerudert, habe sich an der Authentizität der Marke abgearbeitet und an damit verbundenem Aktionismus, der aber vor allem Marketing war. Durch die Pandemie hat sich ad hoc eine Situation für engagiertes, authentisches Handeln ergeben. Der Luxuskonzern LVMH etwa hat umgehend mehrere seiner Parfumproduktionsstätten für die Herstellung von Handdesinfektionsmittel umfunktioniert und dieses an Krankenhäuser gespendet. Gucci überließ der WHO ihren Instagram-Account mit mehr als 40 Millionen Followern. Nike bot mit dem Spot »Play for the World« emotionalen Beistand, beschwor die Kraft des Work-outs und die Stärke des Einzelnen.
Zurück zu sich – und zur Natur
Während der Pandemie ist das Bewusstsein für sich und den eigenen Körper gestiegen – und auch für die eigenen Prioritäten und Sehnsüchte. »Wir beobachten mit Interesse, wie die Menschen auf ihr eigenes Leben schauen und sich fragen, wie sie es in Zukunft gestalten wollen, welche Wünsche sie sich erfüllen möchten, wie sie konsumieren und reisen wollen«, sagt Victoria Buchanan. Zugleich habe die Quarantäne den Blick für das engste Umfeld geschärft. »Deshalb gehen wir davon aus, dass das Leben hyperlocal wird.« In den letzten Monaten haben die Menschen vermehrt bei Cafés, Restaurants oder Buchläden um die Ecke bestellt. Dies hat das Bewusstsein für die eigene Macht gestärkt, dafür, dass man sein Umfeld aktiv gestalten kann. Parallel hat die Local Resilience zugenommen, der Wunsch, unabhängiger zu leben, erklärt die Trendanalystin. Wie gestalte ich meine Umgebung, damit ich mich auch dann wohlfühle, wenn es erneut zum Lockdown kommt? Wie sichere ich meine Versorgung? Züchte ich mit meinem Nachbarn auf dem Dach Gemüse? Unterstütze ich Bauern in der Region? Oder ziehe ich gleich selbst aufs Land? Gab es in New York, London oder Berlin bereits die Tendenz, die Metropolen auf der Suche nach einem ruhigeren Leben zu verlassen, hat auch dieser Trend sich verstärkt. Warum noch in der Stadt bleiben, wenn Theater, Clubs, Konzertsäle und Museen geschlossen sind? Makler in London verzeichnen aktuell einen starken Anstieg der Nachfragen nach Objekten außerhalb der Stadt.
Wir beobachten, wie die Menschen auf ihr eigenes Leben schauen und sich fragen, wie sie es in Zukunft gestalten wollen, welche Wünsche sie sich erfüllen möchten, wie sie konsumieren und reisen wollen.
Victoria Buchanan, Future Analyst bei The Future Laboratory in London
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