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Interdisziplinäre Prozesse: So arbeitet der Cross Innovation Hub

Wenn Unternehmer auf Game-Desig­nerinnen und bildende Künstler treffen: Der Cross Innovation Hub in Hamburg bringt unterschiedlichste Disziplinen zusammen. Dabei helfen ein klarer Prozess und Kollaborationsmethoden

Der doppelte Diamant: Die Cross-Innovation-Formate folgen einem sogenannten Double-Diamond-Prozess, der durch Divergenz und Konvergenz geprägt ist. Das Team des Cross Innovation Hubs hat das klassische Modell teilweise umbenannt und erweitert. So beginnt der Prozess damit, das richtige Setting zu schaffen. Hier lernen sich die Teilnehmer der Labs kennen, und die Kreativen gehen auf »Feldforschung« in den Unternehmen. In den Phasen »Preject« und »Project« geht es dann darum, Ideenräume zunächst weit zu öffnen und dann wieder zu verdichten. Am Ende des Prozesses steht idealerweise ein funktionsfähiger Prototyp oder ein ausformuliertes Konzept, die man in der Eject-Phase testen kann.

Der Cross Innovation Hub der Hamburg Kreativ Gesellschaft bemüht sich um die bessere Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsunternehmen und der Kreativbranche. In regelmäßig stattfinden­den Cross-Innovation-Formaten bringt das von der EU unterstützte Programm Hamburger Unternehmen mit Kreativen zusammen, um gemeinsam an Innovationsprojekten zu arbeiten. Dazu gehören im­mer ein Kreativer aus einer dem Unternehmen naheliegenden Disziplin und ein Kreativer aus einer ferner liegenden Disziplin. So können sich Produkt­manager schon mal mit einer Gamedesignerin und einem bildenden Künstler in einem Team wiederfinden. »Die Unternehmen sind nicht selten überrascht, welche Kreativen wir ihnen zugeteilt haben«, berichtet Jenny Kornmacher, Leiterin des Cross Innovation Hubs. »Aber im Laufe des Projekts zeigt sich immer, wie sehr alle Disziplinen voneinander profitieren können.«

Mit derart unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern ge­hen natürlich verschiedene Sicht- und Herangehensweisen einher. Das Team des Cross Innovation Hubs legt deshalb großen Wert darauf, die richti­gen Rahmenbedingungen zu schaffen, etwa indem es einen klaren Prozess definiert und den Teilnehmen­den für jeden Schritt Methoden an die Hand gibt, um die interdisziplinäre Arbeit zu erleichtern. In Stein gemeißelt ist aber nichts: »Wir verstehen uns als lernendes Projekt. Am Anfang waren wir zum Beispiel ganz auf Sprints und Tempo fokussiert, mittlerweile planen wir längere Inkubationszeiten ein, damit die Teilnehmer all die Eindrücke sacken lassen können, bevor sie wieder in der Gruppe zusammenkommen«, sagt Jenny Kornmacher.

Im Sinne dieser Offenheit führte das Team im letzten Jahr Interviews mit 20 Kreativexperten aus unterschiedlichen Bereichen, um sie nach ihren beliebtesten Methoden für Kollaborationsprozesse zu fragen und so das eigene Set zu erweitern. Insgesamt kamen 20 Methoden zusammen, von denen wir hier vier vorstellen – jeweils eine pro Phase des Double-Diamond-Prozesses (siehe Grafik oben).

1. Research: Embodiment

Was? Die Methode stammt aus den darstellenden Künsten und hat zum Ziel, maximales Verständnis für eine fiktive Person zu erlangen. Was sind ihre Bedürfnisse, Emotionen und Motivationen? Embodiment wird ganz am Anfang des Prozesses in der Research-Phase eingesetzt, um die Zielgruppe besser kennenzulernen.

Wie? In einem Kick-off-Meeting, bei dem Personas und Empathy Map bereits vorliegen, einigt sich das Team zunächst auf die zu lösende Aufgabe – etwa ein neues Produkt, einen Prozess oder einen Service zu entwickeln. Jedes Teammitglied bekommt dann eine Persona zugeteilt, die es über einen bestimmten Zeitraum verkörpert. Es geht darum, sich wirklich in diese Person hineinzudenken und zu verstehen, wie sie mit Produkten, Prozessen und Services interagiert. Alle Erkenntnisse werden dokumentiert.

Leitfrage Was beobachte, fühle, möchte oder vermisse ich als Persona?

2. Synthesise: The Core

Was? Die »Core«-Methode stammt aus den Berei­chen Werbung und Design. Bei ihr geht es darum, den Kern eines Produkts oder Services zu finden und zu formulieren. Aufbauend auf einer vorab erfolgten User Research entwickelt man eine eindeutige Idee und gibt dem Team so eine klare Richtung für das weitere Vorgehen.

Wie? Zuerst gilt es sicherzustellen, dass alle Teammitglieder sich in puncto Nutzeranalyse und Pro­dukt­anforderungen auf dem gleichen Wissensstand befinden. Dann teilt man das Team in Zweiergruppen auf, die als Interviewpartner agieren. Über eine Zeitspanne von circa 20 Minuten stellt der Interviewer Fragen zum Produkt, die der andere spontan und intuitiv beantwortet. Danach reflektiert jedes Zweiergespann seine Ergebnisse und formuliert deren Essenz in einem Slogan.

Leitfragen Was ist der Kern? Was könnte ein vielversprechender Endpunkt des Projekts sein? Was macht das unverwechselbare Wesen des Produkts oder Services aus?

3. Ideate: Search the Odd

Was? Die Idee, das Widersprüchliche, Seltsame, Gro­teske oder Geheimnisvolle zu suchen, stammt aus den Bereichen Literatur und Design. Mit diesem explorativen Herangehen lassen sich aufregende und vollkommen neue Aspekte einer Idee finden – und ein potenzieller USP.

Wie? In einem ersten Schritt werden die bestehenden Ideen gepitcht, wobei sich jeder Notizen macht. Im Anschluss sind alle aufgefordert, die Ideen zu verdrehen, beispielsweise indem sie sie ausweiten, übertreiben oder extrem ins Detail ausdifferenzieren. Lächerliche und widersprüchliche Ideen sind in dieser Phase ausdrücklich erwünscht! Alles wird in Bild oder Text festgehalten, wobei das Potenzial zur Lösung des bestehenden Problems hervorgehoben wird. Im nächsten Schritt präsentieren die Teilnehmenden sich gegenseitig die verfremdeten Ideen. Gemeinsam wählt das Team dann die vielversprechendsten aus und diskutiert, wie man die skurrilen Aspekte entfernen, die Potenziale aber behalten könnte. Ziel ist es, Neues zu entlarven und Altes auf­zuwerten. Zum Schluss formuliert das Team ­einen USP für einen neuen Prototyp.

Leitfragen Welche Aspekte des Pitches führen zu Spannungen? Was ist unstimmig – und dennoch faszinierend?

4. Realise: Vertical Slice

Was? Die Methode stammt aus dem Game Development und bezeichnet das Vorgehen, einen Teil des Produkts (zum Beispiel ein Level) komplett auszuarbeiten, um eine Vorschau auf das Gesamtprodukt zu bekommen. So lassen sich Schwachpunkte erkennen und wichtige Eigenschaften testen, bevor alles fertiggestellt ist. Dies bietet sich besonders bei der Entwicklung von komplexen Produkten, Prozessen oder Services an.

Wie? Die größte Herausforderung besteht darin, den Teil des Produkts zu definieren, der das Ganze am besten widerspiegelt. Dafür muss das Team in einem Workshop zunächst alle Bestandteile sammeln, die sich überhaupt für eine individuelle Umsetzung eignen, und sich dann für einen entscheiden, der möglichst viele Aspekte der finalen Lösung umfasst. Dieser wird dann entwickelt und getestet.

Leitfrage Welcher Teil enthält möglichst viele re­levante Aspekte des finalen Produkts, Prozesses oder Services und ist geeignet, das Endergebnis am besten widerzuspiegeln? 

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