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Informationsdesign in der Praxis

Martin Luthers Thesenanschlag jährt sich 2017 zum 500. Mal. Zu diesem Anlass gestaltete die Infographics Group fürs Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie die umfangreiche digitale Ausstellung »Here I Stand«.

Posterfinale Creative Director Jakub Chrobok überprüft die letzten Details an einem der dreißig Poster.

Mit seinen 95 Thesen gegen den Ab­­lass­handel begründete Martin Luther 1517 die Reformation. Er läutete damit ein­schnei­dende historische Ver­än­de­rungen ein, die unsere Welt immer noch prägen. Dennoch wissen viele nur wenig über Luther und die Re­for­mation. Wie lässt sich die Fülle an Informationen über sein Leben, sein Wir­ken und seine Zeit an­sprechend darstellen? Wie eröffnet man im Di­gi­tal­zeit­al­ter den Zugang zu histori­schen Quellen auf spannende Weise? Wie be­geistert man eine jun­ge Zielgrup­pe mit einer recht kur­zen Auf­merk­sam­keitsspanne für Geschichte?

Zum 500-jährigen Reformationsju­bi­lä­um ließ sich das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und weiteren Partnern eine außer­gewöhnliche Antwort auf diese Fragen ein­fallen: eine digitale Luther-Ausstel­lung, für die man nicht ins Museum muss. Zusätzlich sollten dreißig Poster alles Wissens­wer­te über den berühmten Reformator darstellen – down­­loadbar, sodass man mit den ausgedruckten Plakaten sogar eine ei­ge­­ne kleine Schau organisieren könnte.

Von Anfang an war klar, dass Infografiken ein zentraler Bestandteil der Ausstellung sein sollten: Sie vermitteln Informationen ebenso anschaulich wie abwechslungsreich, benötigen nicht viel Text und ermöglichen auch jungen Betrachtern einen schnellen Zugang zu komplexen Themen. Infografiken funktionieren sowohl auf Plakaten als auch in Büchern und lassen sich in digitaler Form darüber hinaus mit Animatio­nen anreichern.

»Die Illustrationen sind modern, die Animationen involvieren den Betrachter zusätzlich. So schaffen wir es, auch junge Leute für Luther zu begeistern«
Jan Schwochow, Gründer und Geschäftsführer der Infographics Group in Berlin

»Hier stehe ich, ich kann nicht anders«

Als die Berliner Infographics Group von der Ausschreibung des Museums erfuhr, waren der Gründer und Geschäftsführer Jan Schwo­chow und sei­ne Mitarbeiter so­fort begeistert. »Uns faszinier­te, dass das Projekt alle Facetten unserer Arbeit um­fasste – von der Datenvisualisierung über Land­kar­ten und Illustrationen bis zu Animationen und 3D-Objek­ten«, so Jan Schwo­chow.
Diese Leidenschaft überzeugte den Auf­traggeber. Nach gewonnenem Pitch ar­bei­­teten die zwanzig Mitarbei­ter der Infographics Group ein Jahr an der Planung und Umsetzung des Projekts mit dem Titel »Here I Stand« aus dem angeblichen Schluss­­satz der Rede Luthers vor dem Reichs­tag zu Worms. Dafür nutzten sie ihre ganze Werkzeugkiste: von Ex­cel und diversen Google-Tools für die Projekt­pla­nung über Illustrator zum Skizzieren und Illustrieren bis OpenRefine und Sublime Text zum Programmieren der Daten­visu­a­lisie­run­gen, dazu Cinema 4D und Sketchfab für die 3D-Objekte, After Effects und ­Hype zur Animation, QGIS zur Er­stellung von Karten sowie klassische, keineswegs zu vernachlässigende Skiz­zen­bücher und Stifte für Scribbles und ­Entwürfe.

Die Infographics Group, 2007 als Golden Section Graphics gegründet, besteht größtenteils aus Informa­tions­­designern, die verschiedene Schwerpunkte von Illustration bis 3D-Animation haben und teils auch Data Visualists sind – also große Datenmengen mittels eigener Programmierungen individuell darstellen können. Zudem gehören zwei Projekt­manager dazu. Maßgeblich unterstützt wurde die Berliner Agentur bei diesem Projekt von wissenschaftlichen Mit­arbeitern des Deutschen His­torischen Museums, die den Großteil der Recherche übernahmen.

Kick-off: 30 Themen, unzählige Tools

In einem ersten Workshop sprachen das Projektteam des Museums sowie einige Teammitglieder der Infographics Group im Detail über die bereits festgelegten Themen für die Poster. Neben grundlegenden Aspekten wie der Herkunft Martin Luthers, seinen Aufenthaltsorten oder den politischen Geschehnissen dieser Zeit ge­hörten dazu auch die Konflikte zwischen den und die Netzwerke der Reformatoren, die damalige Rolle der Frau und die Visualisierung besonderer Ereignisse wie der berühmten Rede in Worms oder Luthers Bibelübersetzung.

»Der Fokus auf Infografiken ohne viel Text stand von vornherein fest – ergänzend wollten wir Animationen und 3D-Objekte einbinden«, erklärt Jan Schwochow. Alle Motive sollten auf Plakatformaten von A3 bis A1 funktionieren, aber auch für das Buch »Lutherbound« sowie die responsive »Here I Stand«-Microsite gestaltet beziehungsweise angepasst werden. Und das auf Deutsch und auf Englisch, da die Ausstellung in ihrer digitalen Form überall auf der Welt verständlich sein sollte. Später kamen noch viele weitere Sprachen hinzu.

»Die große Chance, alles zu zeigen, was wir können, reizte uns an dem Projekt sehr«
Jan Schwochow

Nachdem sie die vorgesehenen Themen genauer kennengelernt hatten, verschafften sich Jan Schwochow und sein Team zu­sammen mit den Mitar­bei­tern des Deutschen Historischen Museums einen Überblick über die vor­han­denen Informatio­nen: Ölgemälde, Holzschnitte, Kupfersti­che, Landkarten, Fotomaterial, Texte in Form von Briefen aus der Zeit und zahlreiche Bücher dienten als Quellen.

Daraufhin entwickelten die Informa­tionsdesigner der Infographics Group ers­te Skizzen und Konzepte. Eine der größten Herausforderungen dabei: Die enorme Vielfalt an Reformationsthemen trifft auf eben­so vielfältige Visualisierungs­mög­lich­kei­ten – doch was passt zusammen? Wo ist die Informationsmenge derart groß, dass eine Datenvisualisierung sinnvoll wä­re? Welcher Bereich eignet sich für Illustratio­nen, und an welcher Stelle könnte man Ani­mationen am bes­ten einsetzen?

In diesem frühen Stadium sind laut Jan Schwochow Bleistift-Scribbles hilfreich, mit denen die Designer ausprobieren, was passen könnte. So reifte zum Beispiel die Idee, Schlüsselszenen als Comic darzustel­len. Auf den Plakaten und im Buch bestehen die­se aus Bildfolgen, die die Informationsdesigner detailliert illustrierten. Für die Onlineversion verwandelten sie ihre Illustrationen über eingebundene Animationen in eine Scrollgrafik, sodass der Betrachter mit seiner Maus das Erzähl­tempo der Sequenz selbst vorgibt. Dafür nutzten sie Adobe After Effects und Edge Animate sowie Tumult Hype. Nach ersten Storyboards folgten Animationsstichproben in Animatics. Dann entwickelten sie Illustrationen und Figu­ren, die sich bewegen können. »Die Illustrationen sind modern, die Animatio­nen involvieren den Be­trachter zusätzlich. So schaffen wir es, auch junge Leute für Luther zu begeistern«, so Jan Schwochow. »Der Gedanke, mit dieser Ausstellungsform die ganze Welt zu erreichen, hat uns angetrieben.«

»Je nach Medium und dessen Größe muss ein Thema unterschiedlich erzählt werden, da der Lesefluss des Betrachters sich ändert«
Jan Schwochow

Recherche: alte Quellen, neue Wege

»Die Arbeit mit den historischen Quellen war herausfordernd für uns, da meistens keine Belegmaterialien zur Verifizierung existierten«, sagt Jonas Parnow, der als Informationsdesigner und Data Visualist an dem Projekt beteiligt war. »So gibt es beispielsweise etliche unterschiedliche Zeich­nungen von der Tür, an die Luther seine Thesen angeschlagen hat – wie sie wirklich aussah, lässt sich nicht herausfinden. Daraus entstand die Idee, eine Grafik mit den verschiedenen Darstellungen der Tür zu erstellen, um auf diese Art und Weise zu vermitteln, dass nicht alles eindeutig überliefert ist.«

Neben den Luther-Postern entstanden zwanzig 3D-Objekte, die nicht nur für die digitale Ausstellung gedacht waren, sondern sich auch mit einem 3D-Drucker produzieren lassen. Über einen Link zur 3D-Sharing-Plattform Sketchfab kann man zum Beispiel eine Ablasstruhe oder einen Krug aus dem 16. Jahrhundert ansehen und die Daten für den 3D-Druck bestellen. Die be­reitgestellten Objekte bearbeiteten die 3D-Experten der Infographics Group in ers­ter Linie mittels Cinema 4D. Damit erweiterten sie ihre Kenntnisse um die Gestaltung realer 3D-Objekte.
»Auch in Sachen Allgemein­bildung haben wir einiges dazugelernt«, freut sich Jan Schwo­chow. »Etwa wie damals eine Bibel entstand, dass Bücher in Fässern transpor­tiert wurden, wie sehr Luther die deutsche Sprache geprägt hat und wie die Welt um 1500 aussah. So versteht man Zusammenhänge, die man vorher nicht kannte.«

Manche Plakate erforderten mehr Detailverliebtheit als andere: Einer der In­for­mationsdesigner baute zum Beispiel die Stadt Wittenberg basierend auf alten Plänen nach. Dafür nutzte er ebenfalls Cinema 4D. »Allein für die Dächer haben wir Tage gebraucht«, berichtet Jan Schwochow. »Man hat ja lediglich alte Holzschnitte und Stadtansich­ten, nach denen man sich rich­ten kann.« Und doch entspricht gerade die­se Detailversessenheit einem der obers­ten Gebote der Infographics Group: dem gestalterischer Korrektheit.

Workflow: Viele Aufgaben, ein Ziel

Die Infographics Group arbeitete immer an mehreren Plakaten gleichzeitig – je nach Aufwand und Art der Visualisierung in Zweier- oder in Drei­erteams pro Poster so­wie mit ei­nem Hauptverantwortlichen. »Kla­re Struk­tu­­ren sind bei der Umsetzung großer und lang­wie­riger Projekte wichtig, sons­t wird es schnell unübersichtlich«, so Jan Schwochow.
Die Projektmanager organisierten sich hauptsächlich mit Google-Anwendungen und aus­ge­druckten Kalenderplänen, in de­nen sie auch die Zusammenarbeit mit dem Museumsteam koordinierten und fest­hiel­ten, wann welches Plakat fertig sein sollte. Denn parallel dazu arbeitete die Infographics Group auch an der Entwicklung der Microsite www.here-i-stand.com und der Adaption der Poster für diese.

Eine weitere Herausforderung bestand in den unterschiedlichen Formaten beziehungsweise in deren Anpassung: Pos­ter, Buch­doppelseite oder interaktive Web­visu­alisierung. Eine Infografik, die für ein DIN-A1-Pla­kat konzipiert ist, kann man nicht einfach auf ein Buchformat verkleinern. »Je nach Medium und dessen Größe muss ein Thema ganz unterschiedlich erzählt werden, da der Lesefluss des Betrachters sich ändert«, erklärt Jan Schwochow.

Auch die Responsivität der Microsite erforderte mehr Aufwand, als sie zunächst erwar­tet hatten. Jede einzelne Grafik wurde in Illustrator in vier Versionen umgebaut und in den unterschiedlichen Breiten und Höhen angelegt. Später wurden Skripte genutzt, die diese Versionen in brow­ser­­kompatible Formate umwandel­ten. »Wir hätten auch einfach PDF-Datei­en hochladen können, in die jeder selbst reinzoomen kann«, sagt Jan Schwochow. »Doch das erfüllt nicht den Anspruch, den wir an unsere Arbeit haben.«

Die Detailliebe der Infographics Group hat sich gelohnt: Die Poster werden seit Ok­tober 2016 weltweit für Luther-Ausstellungen eingesetzt, etwa in Polen, Estland, Japan oder auf den Philippinen. Viele der Besucher teilen ihre Eindrücke unter dem Hashtag #hereistand in den Social Media. Luther ist also definitiv im Digitalzeitalter angekommen.

Brieffreund Martin Luther

So bereiteten Historiker und Informationsdesigner den umfangreichen Briefverkehr Luthers auf

Für die Infografik »Reformation VIPs« recherchierte eine wissenschaftliche Mit­­arbeiterin des Deutschen Historischen Mu­­­seums Berlin monatelang in antiken Bü­chern, um Licht in den Briefwechsel Lu­thers mit weiteren Reformatoren sowie Politikern und Humanisten der Jahre 1503 bis 1560 zu bringen. Allein von Luther fan­den sich rund 4300, von Melanchthon gar 7500 Schriftstücke, wobei die Quellen bis ins Jahr 1872 reichten. »Zur Visu­a­li­sierung entschieden wir uns für eine Netz­werk­grafik, die auf einen Blick zeigt, welcher Reformationsprotagonist welchem Zeitgenossen schrieb. Begleitend stellten wir in einem Zeitstrahl dar, in welchem Jahr die Briefe verschickt wurden«, erklärt Jan Schwochow. Für die Datenvisualisierung nutzte das Team zunächst die Open-Graph-Viz-Plattform Gephi und gestal­tete dann in Illustrator die Printvariante. Für die Onlinever­sion kam die Java­Script-Library Sigma.js zum Einsatz.

Das Expertenwissen der Historiker war für die Recherche essenziell: »Mehr als 500 Jahre alte Hand­schrif­ten zu entziffern ist extrem schwierig, wenn man sich damit nicht auskennt. Außerdem benötigt man viele Hintergrundinformationen, um zu verstehen, um wen es überhaupt geht«, erklärt Jan Schwo­chow. »Das Know-how der Geis­tes­wis­senschaftler war unabdingbar, doch es fiel ihnen nicht immer leicht, sich vorzu­stel­len, wie die Infografik am Ende aus­sehen würde – deswegen konnten sie die Daten nicht entsprechend für uns vorbereiten. Für uns war es wiederum schwer, ihnen oh­ne vorhandene Daten zu beschrei­ben, was wir vorhaben«, ergänzt Informa­tions­de­si­gner und Data Visualist Jonas Parnow.

So mancher Datensatz wurde mehr­mals zwischen der Infographics Group und dem Museum hin- und hergeschickt, bis die Da­tenvisua­lisierung oder Info­gra­fik entstehen konnte. Auch aus diesem Grund recherchieren die Informationsdesigner der Infographics Group bei vielen ihrer Projekte selbst, sofern Zeit und Budget es erlauben.

Alle weiteren PAGE-Connect Artikel zum Thema Informationsdesign finden Sie hier.

Zum Download des PAGE Connect eDossiers »Das macht ein Informationsdesigner bei der Infographics Group« geht’s hier.

[743] InformationsdesignCCCIGG17

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