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Es lebe die Komplexität!

Ein Gespräch mit Wolfgang Wopperer-Beholz über die Unumgänglichkeit von Komplexität – und welche Rolle Design dabei spielt, besser mit ihr umgehen zu können.

Wolfgang Wopperer-Beholz
Wolfgang Wopperer-Beholz, Foto: Janine Meyer

Komplexität ruft bei vielen erstmal Widerwillen hervor – aber sie ist ein unumstößlicher Teil unserer Welt. Designer müssen sich nicht nur mit arrangieren, sondern sie auch konstruktiv und kreativ gestalten. Wie das gelingt, beleuchten wir in PAGE 6.20 (die ihr hier bestellen könnt).

Wolfgang Wopperer-Beholz kennt sich aus mit Komplexität. Der studierte Philosoph und Politikwissenschaftler hilft als »Sense-maker and Facilitator« Unternehmen und Teams dabei, mit den Herausforderungen komplexer Systeme umzugehen und sich entsprechend neu aufzustellen. Wir sprachen mit ihm darüber, warum sich Menschen ständig überfordert fühlen, was wir dagegen tun können.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen komplex und kompliziert?

Wolfgang Wopperer-Beholz: Ein kompliziertes System besteht zwar aus vielen Komponenten, aber ich kann es zerlegen, mir jede Komponente einzeln ansehen und allein dadurch verstehen, wie es funktioniert. Eine Maschine zum Beispiel kann sehr kompliziert sein und dennoch wissen wir, wie sie funktioniert, sobald wir alle ihre Bestandteile kennen. Weil ihre Komponenten fest verbunden sind, festgelegt durch das Design der Maschine, reagiert sie immer gleich auf die gleiche Anregung – ihr Verhalten ist vorhersagbar.

Komplex hingegen ist ein System dann, wenn es nicht mehr ausreicht, sich seine Einzelteile anzuschauen. Das ist der Fall, wenn es aus vielen unabhängigen Komponenten besteht, die miteinander interagieren – und zwar nach eigenen Regeln, nicht nach einem übergeordneten Design. Aus diesen Interaktionen entsteht das sogenannte emergente Verhalten des Gesamtsystems. Das heißt, durch das Zusammenwirken der einzelnen Elemente entstehen neue Eigenschaften oder Strukturen des Systems, die vorher nicht absehbar waren. Nehmen wir zum Beispiel einen Vogelschwarm: Der besteht aus vielen unabhängigen Vögeln, die sich individuell verhalten und dabei ein paar einfachen Regeln folgen (fliege immer deinem Vordervogel hinterher, halte einen bestimmten Abstand zu deinen Nachbarn) und damit hochkomplexe Muster erzeugen. Von außen sieht es so aus, als würde der Schwarm gesteuert – wird er aber nicht. Das komplexe System steuert sich selbst.

Das Verhalten solcher Systeme ist dann nicht mehr so einfach vorhersehbar.

Genau. Selbst wenn wir wissen, wie viele Vögel in einem Schwarm fliegen, und ihre Flugregeln kennen, können wir nicht vorhersagen, wie der Schwarm sich verhalten wird. Denn zwischen den Interaktionen der Vögel gibt es Feedbackschleifen (der eine Vogel macht das, dann macht der andere jenes, das wiederum beeinflusst den ersten und so weiter), wodurch sich kleine Abweichungen rapide verstärken. Das führt zu einem sogenannten nicht linearen Systemverhalten: Der Schwarm wechselt scheinbar plötzlich Richtung und Formation, ohne dass wir das vorhersehen konnten. Je mehr Einzelteile ein solches System hat, desto mehr Feedbackschleifen gibt es – bis zu dem Ausmaß, dass sein Verhalten mathematisch tatsächlich unmöglich zu berechnen ist. Wir können komplexe Systeme also nicht auf die gleiche Art und Weise verstehen und vorhersagen wie komplizierte Systeme. Diesen Unterschied nicht zu sehen oder ihn zu ignorieren, also komplexe Systeme so zu behandeln als wären sie kompliziert, führt sehr schnell in unschöne Situationen.

Wir Menschen haben in unserem Alltag mit vielen komplexen Systemen zu tun und fühlen uns davon oft überfordert. Woran liegt das?

Es gibt eine ganze Reihe komplexer Systeme, auf die wir biologisch gut vorbereitet sind – etwa Familie, überschaubare soziale Gruppen, unsere natürliche Umwelt. Dank Jahrmillionen natürlicher Evolution sind wir an diese Systeme gut angepasst – und haben über Jahrtausende hervorragend in ihnen gelebt. Bis wir irgendwann auf die Idee kamen, neue komplexe Systeme wie Schrift, Ackerbau und Zivilisation zu erfinden. Auf diese Komplexität sind wir biologisch nicht vorbereitet – sie hat uns quasi hinterrücks überrascht. Dazu kommt, dass sie zu einem sich exponentiell beschleunigenden Wandel geführt hat. Wir werden uns deshalb biologisch niemals an aktuelle Technologie anpassen können – sie ist uns immer mehrere Schritte voraus. Diese Diskrepanz führt zu unserem Gefühl der Überforderung.

Welche Strategien gibt es, um mit dieser Komplexität umzugehen?

Mangels biologischer Anpassung muss dieser Umgang bewusst und mittels Kulturtechniken geschehen. Dabei gibt es natürlich so unproduktive Strategien wie Ignorieren. Das funktioniert aber nur für eine begrenzte Zeit. Zu den produktiven Strategien gehört es, nicht nur Einzelteile zu betrachten, sondern Zusammenhänge, also Systeme als Ganzes. Dafür gibt es Werkzeuge wie Modellierungstechniken und Visualisierungen, zum Beispiel Causal-Loop- oder Stock-and-Flow-Diagramme, die Wechselwirkungen und Feedbackschleifen anschaulich machen. Im besten Fall kommt man so zu echten Aha-Momenten, in denen man versteht, warum sich ein System auf eine bestimmte Art und Weise verhält. Der Game Developer Nicky Case hat auf dieser Basis eine Reihe spielerischer Simulationen, Experimente und Tools entwickelt, mit denen man Systeme explorieren kann.

PDF-Download: PAGE 06.2020

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Und damit lässt sich Komplexität erfassen?

Teilweise. Die Gefahr bei solchen Ansätzen liegt darin, dass man sich selbst auf den Leim geht und denkt, man habe alles im Blick, ein umfassendes Modell entwickelt und so das System verstanden. An dieser Stelle lohnt es sich, eine andere Kulturtechnik ins Spiel zu bringen, die schon recht alt, aber etwas in Vergessenheit geraten ist:  Bescheidenheit. Ein kritischer Blick darauf, was man eigentlich weiß und welche Daten man zur Verfügung hat, hilft bei der Einordnung, wie gut ein Modell überhaupt sein kann.

Auch dafür gibt es Frameworks und Tools. Ich finde zum Beispiel die sogenannten Critical System Heuristics sehr hilfreich, und hier besonders die »Boundary Critique«-Methode. Dabei hinterfragt man, ob man überhaupt den richtigen Ausschnitt eines Systems betrachtet – und warum man diesen Ausschnitt gewählt hat. Wenn ich zum Beispiel untersuchen will, warum mein Team auf eine bestimmte Weise agiert, reicht es vielleicht nicht, mir nur die Mitglieder und ihre Beziehungen anzusehen, sondern ich muss über die Teamgrenze hinausschauen und äußere Einflüsse einbeziehen, etwa Druck von der Geschäftsführung oder eine hinderliche Informationspolitik. Und ich muss mich fragen, warum ich diese Einflüsse zuvor ignoriert habe – Macht? Angst? Konformismus? Das für mich interessante System ist also gar nicht das Team, sondern die Organisation, in die es eingebettet ist, und meine eigene Rolle in ihr.

Ganz generell hilft Bescheidenheit dabei anzuerkennen, dass unsere Fähigkeiten, komplexe Systeme zu analysieren und zu modellieren, begrenzt sind. Je komplexer ein System, desto weniger sind wir in der Lage, es angemessen zu erfassen. Deshalb müssen wir uns darauf einstellen, permanent zu lernen, wie komplexe Systeme funktionieren. Wir müssen ein solches System immer wieder »anpiksen«, schauen, wie es reagiert, Schlüsse für unser Verhalten daraus ziehen – und wieder von vorne anfangen. Im Cynefin-Framework von Dave Snowden heißt dieser Ansatz »Probe – Sense – Respond« , also sondieren, wahrnehmen, reagieren. Permanentes Lernen heißt, keinen dieser Schritte auszulassen.

Das ist allerdings nicht, was aktuell geschieht. Gesellschaft und Politik neigen eher dazu, alles so zu belassen, wie es ist – bis es explodiert, so wie in der Corona-Krise.

Genau. Die Corona-Krise ist ein gutes Beispiel dafür, wie mit einem komplizierten Apparat auf ein komplexes Problem reagiert wurde. Statt schnell und gezielt Daten zu erheben, daraus zu lernen und die Ergebnisse zu skalieren, wurde großflächig mit gelernten, aber unpassenden Prozessen und Regeln reagiert. Selbst in solchen Ausnahmezuständen tun wir uns schwer damit, experimentell und flexibel vorzugehen. Dabei führt in Krisensituationen gar kein Weg daran vorbei, den Kopf zu öffnen und neue Wege zu gehen. Dieses Umdenken findet gerade statt – und macht Hoffnung, dass sich Dinge auch grundsätzlich verändern können.

Auch Unternehmen tun sich schwer damit, auf komplexe Situationen zu reagieren. Mit welchen Problemen haben sie vornehmlich zu kämpfen?

Die meisten stehen vor der Herausforderung, auf grundlegende technologische und ökonomische Veränderungen zu reagieren. Viele Unternehmen haben ihr Verhalten auf eine bestimmte, relativ stabile Situation ausgerichtet und komplizierte Methoden für den Umgang mit ihr etabliert, beispielsweise permanente Effizienzoptimierungen. Wenn die Umstände stabil sind, funktioniert das auch. Wenn sich diese Umstände aber plötzlich dramatisch verändern, führen die gewohnten Prozesse nicht mehr zu den gewünschten und gewohnten Ergebnissen. Die erste Reaktion ist Unverständnis – und dann, mehr vom Gleichen zu tun, also mehr sparen, noch effizienter werden et cetera. Die angemessenere Reaktion wäre aber, das Unverständnis ernst zu nehmen und sich darauf einzustellen, dass man etwas Neues lernen muss. Und das tut man am besten über Experimente. Es braucht Freiraum, um Dinge auszuprobieren, von denen man vorher nicht sagen kann, ob sie funktionieren werden. Unternehmen müssen lernen, dass Experimentieren und Lernen zu angemessenem Risikomanagement gehören. Denn die wichtigste Frage ist für viele Unternehmen nicht mehr, ob sie ihre Marge erreichen – sondern ob sie in Zukunft überhaupt noch relevant sind und echten Wert schaffen.

Wie kann das konkret aussehen? Und wie passt das in bestehende Unternehmensstrukturen?

Meiner Meinung nach gibt es zwei Wege, beide recht radikal. Eine Möglichkeit ist, das Kernunternehmen auf eine Art Holding für unabhängig agierende Satelliten zu reduzieren. Damit wird der Konzern selbst zu einem komplexen System, bestehend aus autonomen Komponenten, die zusammenwirken, aber nicht mehr zentral geführt werden. Man reagiert auf die äußere Komplexität also mit eigener, interner Komplexität – das Law of Requisite Variety (auch: Ashbysches Gesetz). Im Medienbereich geht zum Beispiel Axel Springer diesen Weg mit einem experimentellen Sammelsurium an Start-ups. Die andere Möglichkeit ist strukturell ähnlich, beginnt aber mit einem starken, einheitlichen Unternehmenszweck. Hier bleibt das Unternehmen zwar als Ganzes bestehen, gibt aber den Abteilungen und Teams die Freiheit, selbst herauszufinden, wie sie ihre Arbeit am besten machen und den Unternehmenszweck am besten verwirklichen können. Auch hierfür muss die Unternehmensführung …

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