Um Menschen und Märkte besser zu verstehen, reist Karl Wolfgang Epple durch sieben asiatische Länder. Hier berichtet er von seinen Erkenntnissen. Erster Stopp: Südkorea.
Karl Wolfgang Epple, zuletzt Executive Creative Director bei thjnk, reist durch Asien, um zu verstehen, wie Menschen und Märkte dort ticken. In Südkorea erfuhr er bei einem Essen mehr über den Firmengründer und Nationalhelden Shin Kyuk-ho.
Die Leiden des alten Shin Kyuk-ho
Bevor wir über Shin Kyuk-ho reden, muss ich Ihnen von Sang Yong erzählen. Jenem etwa 60-jährigen Herrn, der mich in der Seouler U-Bahn Richtung Gimpo Airport in beeindruckendem Deutsch fragt, ob ich auch auf die Insel Jeju wolle. Ich komme kaum zum Antworten, wegen dem Croissant von Paris Baguette (Bäckerei, 3.300 Filialen) in meiner Backentasche. Sang Yong fragt weiter, ob wir dort nicht zusammen Abendessen und so weiter. Gefragt, getan.
Es gehört offenbar zur koreanischen Offenheit, dass man einen völlig Fremden zu gedämpften Seeohren und Soja-Krabben einlädt – und zu Soju (Schnaps!), obwohl man selber keinen Tropfen anrührt; man muss den Fremden danach ja noch zurück zum Flughafen fahren, damit der seine Reise wie geplant fortsetzen kann. Wer so handelt, habe nämlich Jeong, so nenne man dieses für Fremde schwer zu begreifende Gefühl von Sympathie und Gemeinschaft in Korea, sagt Sang Yong, der sein gutes Deutsch vom Studium in Marburg mitgebracht hat. Vor der Wende noch.
Sang Yong und ich tauschen nicht, wie vielleicht zu erwarten, mit großem Oho Visitenkarten aus, und trotzdem landen wir beim Job. Den Slawistik-Professor interessiert der Audi-Werber. Klar, Deutsche und Autos, das passt. Aber es gebe ja auch tolle koreanische, versichere ich: Kia, Hyundai und Lexus. Lexus sei aber japanisch, sagt Sang Yong. Peinlich, fast wäre mir die Soja-Krabbe im Hals steckengeblieben, aber teilweise auch deswegen, weil sie roh ist. Also ungekocht, aber zumindest fermentiert in Sojasoße, ein bisschen wie Ceviche.
Ich spüle die Krabbe (man nennt sie Ganjang-gejang) mit Milkis runter, einem cremigen Softdrink, der nach Dextro Energy mit, na ja, Milch und Mineralwasser, schmeckt. Lotte stellt den her – so wie fast alles in Korea: Tiefkühlkost, Digitalkameras, Alufolie, Software, Fast Food, Hotels, Kinos, Versicherungen, Kreditkarten, einen Freizeitpark, Busans Baseballteam, den Duty Free und das fünfthöchste Gebäude der Welt. Lotte ist ein Jaebeol: ein Familienunternehmen, nur auf koreanisch und in riesengroß.
So, und jetzt kommen wir zu Shin Kyuk-ho. Denn als Sang Yong beginnt, von eben diesem Lotte-Gründer zu erzählen, flackern seine freundlichen Augen auf. Vor Stolz. Denn Lotte sei zwar ein japanischer Konzern (Krabbe, lass nach!), der Gründer aber natürlich Koreaner (Uff!). Shin Kyuk-ho schmuggelte sich im Alter von 18 Jahren als blinder Passagier an Bord eines Schiffes, um in Japan sein Glück zu suchen. 1942 gründete er mit 20 seine erste Firma, die jedoch von einem Luftangriff zerstört wurde.
Nach dem Krieg auferstand sie als der Kaugummiladen Lotte. Erst 1966 expandierte sie nach Korea. Zwar spät, aber Shin wusste schnell enge Beziehungen zu den Behörden herzustellen – auch zum Militärdiktator Park Chung Hee. Von da an ging es steil bergauf: Aus dem Kaugummiladen wurde in 70 Jahren ein Imperium mit 60.000 Mitarbeitern, 93 Tochtergesellschaften und einem Jahresumsatz von 100 Trillionen Won (75 Mrd. €).
Aber Probleme gibt‘s wie Krabben am Meer: Shin Kyuk-hos Unternehmen wird von Turbulenzen in seiner eigenen Familie heimgesucht. Er hat vier Kinder von drei verschiedenen Frauen. Die beiden ehelichen Söhne streiten sich seit Jahren öffentlich um die Thronfolge. Nächstes Problem: 2016 erlaubte Shin den USA, ein Raketenabwehrsystem auf das Grundstück eines Lotte-Golfplatzes zu positionieren, was China gar nicht lustig fand.
Sanktionen folgten. Das merkt man auch auf Jeju, wo ein ganzer Flughafen gar nicht mehr bedient wird, weil keiner mehr aus China herkommt. Dann sackte Shin auch noch 106 Mio. Euro Firmengelder ein, wurde wegen Veruntreuung zu vier Jahren Haft verurteilt, muss sie aber nicht absitzen. Zu alt. Ach ja: Von Lotte abgenötigte Bestechungsgelder waren auch der Grund, warum Park Geun-hye 2017 ihr Amt als Koreas Präsidentin gegen 25 Jahre Haft tauschen musste. Aber nichtsdestoweniger: Shin Kyuk-ho ist ein wahrer koreanischer Held. Daran besteht keinerlei Zweifel, siehe Sang Yongs Flackern und Milkis überall.
Eine lustige Anekdote hat er vorm Bezahlen noch; Im Westen seien die meisten Unternehmen ja nach ihren Gründern benannt, nicht aber in Korea. Ein bisschen mehr Bedeutung dürfe es schon sein. Samsung heiße »3 Sterne« (nicht so wie in Mallorca-Hotels, sondern so wie die Glückszahl 3 und Sterne für die Ewigkeit). Und Lotte? Jaha, das müsse man sich mal vorstellen: Der heute 96-jährige Shin Kyuk-ho sei auch mal jung gewesen, und noch dazu geradezu romantisch vernarrt in Goethes Werther und dessen Angebetete Charlotte. Lotte eben. Wie deutsch, oder?
Was ich aus diesem Abendessen mitnehme, ist nicht nur die schöne Erinnerung an Sang Yong. Es ist auch die Erkenntnis, welch starken Einfluss die nationale Identität auf das Branding von Produkten, Marken, ja ganzen Jaebols hat. Und andersrum. Sei es das französische Croissant, das deutsche Auto oder das koreanische Jeong.
[10370]
Der Autor
Karl Wolfgang Epple war zuletzt ECD und Partner bei thjnk. Aktuell bereist er sieben asiatische Länder, um ihre Menschen und Märkte näher kennenzulernen. Seine Erkenntnisse teilt er in dieser Kolumne.