PAGE online

Darum sollte Software-Entwicklung die Autonomie des Menschen mehr beachten 



Mehr Autonomie und weniger Abhängigkeit können unsere toxische Beziehung zu digitale Technologien verbessern, glaubt Alexander Steinhart von Thoughtworks. Ein Gastbeitrag.

Das Individuum und die Interaktion zwischen den Menschen im Mittelpunkt
Das Individuum und die Interaktion zwischen den Menschen im Mittelpunkt (siehe Punkt 1).

Der Fokus fast aller Tech-Unternehmen liegt in der Generierung aktiver Nutzer:innen und der Konsumförderung. Eine ständige Interaktion mit einer App (oder einem anderen digitalen Service) wird als Erfolgsindikator gesehen – und nicht, ob die Nutzer:innen ihr Ziel gemäß ihrer Werte erfüllen oder nicht. Unser Wohlbefinden und unsere Freiheit hängen aber entscheidend davon ab, wie autonom wir uns durch eine Welt voller Optionen bewegen.

Es gibt viele Möglichkeiten wie unsere Fähigkeit frei zu wählen im Digitalen untergraben werden, sei es durch Automatisierung, Filterblasen und Empfehlungsmaschinen, erzwungene Opt-ins zur Datenerfassung und Überwachung, die Förderung von Gewohnheiten, Paternalismus mit Nudging und unvorteilhafte Standardeinstellungen – die Liste ist lang. All dies reduziert unsere Optionen und schränkt uns in unserer Freiheit ein. Und in den meisten Fällen stehen das wirtschaftliche Interesse der Anbieter nicht im Einklang mit unseren persönlichen Zielen und Werten. Aber es geht auch anders.

Verantwortliches Design stellt die Menschen in den Mittelpunkt

Zur Lösung dieser Probleme müssen wir bereits bei der Entwicklung von Apps ansetzen. Dabei sollten wir den Prinzipien von verantwortlichem, ethischen Design folgen, mit einem besonderen Fokus auf das, was ich Design for human Autonomy nenne – Design für menschliche Autonomie. Dabei werden menschliche Bedürfnisse wie Autonomie und individuelle Werte respektiert. Apps, Dienstleistungen und Institutionen, die nach diesem Ansatz gestaltet werden, erfüllen drei Bedingungen:

  1. Das Individuum und die Interaktion zwischen den Menschen stehen an erster Stelle – vor der App selbst.
  2. Die Nutzer:innen werden ermächtigt, am Ende weitgehend ohne die App selbst auszukommen.
  3. Die in der App »verbauten« Werte sind transparent – und die Werte und Ziele der Nutzer:innen werden respektiert.

Das kann folgendermaßen aussehen:

Das Individuum und die Interaktion zwischen den Menschen

Ein gutes Beispiel für die erste Bedingung bieten Social Media und Dating Apps. Tinder und Bumble bieten die Möglichkeit, schnell und einfach in Kontakt mit zahllosen Menschen zu treten. Dies führt schnell zu einem Gefühl der Wahllosigkeit und Überforderung. Die Folge: Viele Nutzer:innen sind in einer Endlosschleife gefangen und suchen nach immer besseren Matches. Es gibt viele Studien, die belegen, dass Menschen bei einer zu großen Auswahl dazu tendieren, gar keine Wahl zu treffen. Diese Erkenntnis nutzen App-Hersteller dafür, uns zum Kauf von Abos zu bewegen.

Ein Verbesserungsvorschlag: Wenn man die ersten Matches erhalten hat, bietet die App beim nächsten Start keine weitere Personen zur Auswahl, sondern zeigt die Chat-Option zum Einstieg an. Eine kleine Änderung der Standardeinstellung, die den Fokus auf Austausch legt – mit potenziell großer Wirkung. Darüber hinaus könnten diese Apps Tipps und Kurse zu Themen wie Small Talk und Kommunikation anbieten – und so ihre Einnahmequellen erweitern. Dafür müssten die Anbieter ihren Fokus erweitern – weg vom Ziel »schnell und einfach mit zahllosen Menschen in Kontakt treten« hin zu »die Qualität der Beziehungen vertiefen«. (siehe Abbildung oben)

Auch Facebook könnte uns helfen, die Verbindung zu Menschen wirklich zu verbessern, indem es uns nicht zum Scrollen und Konsumieren verleitet, wenn wir uns alleine fühlen, sondern uns dann direkt mit unseren engsten Freunden in Verbindung bringt. Damit stehen Individuum und die Verbundenheit – die Interaktion zwischen den Menschen ­– an erster Stelle. Und nicht der Gebrauch von Apps und Technologien selbst.

Nutzer:innen ermächtigen, ohne die App auszukommen

Nutzer:innen ermächtigen, ohne die App selbst auszukommen
Nutzer:innen ermächtigen, ohne die App selbst auszukommen.

Ein Beispiel für die zweite Forderung wäre eine Alternative bei Navigations-Apps. Viele Menschen finden mit Google und Apple Maps schneller und einfacher ans Ziel. Ein (unerwünschter) Nebeneffekt ist jedoch – neben dem Datensammeln und der Überwachung –, dass wir selbst auf Wegen, die wir schon kennen, die Navigations-App einschalten. Wer kennt diesen Effekt nicht? Nach mehrmaligem Nutzen der App fühlen wir uns inzwischen besser und sicherer mit ihrer Unterstützung – und fangen an, an uns selbst zu zweifeln, wenn wir keine digitale Hilfe haben. So wird die digitale Krücke zu einem Teil von uns selbst.

Um wieviel besser wäre eine Navigations-App, die uns indirekt anleitet, uns selbst besser zurecht zu finden? Zum Beispiel durch einen Lern-Modus, in dem wir langsam unsere Umgebung und die Strecke besser kennenlernen – und die App und digitale Unterstützung dabei immer weiter in den Hintergrund rutschen. Dann könnten wir nach einer Weile auf die Navigations-App verzichten. Hierzu braucht es den Mut der Anbieter, die Nutzer:innen so zu ermächtigen, dass sie am Ende weitgehend ohne die App und das Gerät auszukommen.

Die Werte der Nutzer:innen respektieren mit eigenen transparenten Werten

Die Werte der Nutzer:innen respektieren mit eigenen transparenten Werten
Die Werte der Nutzer:innen respektieren mit eigenen transparenten Werten.

Nicht alle Menschen verfolgen dieselben Ziele und Werte. Was für die einen Autonomie bedeutet, ist für andere vielleicht Einschränkung. Doch wie finden wir, was zu uns passt? Anbieter von Apps müssen sich mit den eigenen Werten und denen der Nutzer:innen auseinandersetzen und diese dann konsequent in der Entwicklung umsetzen (Konzepte wie Value sensitive design oder Design for Values bieten einen guten Anfang) sowie diese Werte transparent machen. So können die Nutzer:innen sehen, welche Werte und welche Verhaltensweisen eine App fördert – oder auch: was für einen Mensch sie  aus einem macht.

Statt nur kurzfristige Bedürfnisse zu bedienen, könnten App-Funktionen so zum Nachweis der Werte, Normen und Prinzipien des Appherstellers werden, mit denen die Nutzer:innen ihre Ziele erreichen können. Die aktive Kommunikation der Werte fördert die Transparenz und das Vertrauen der Nutzer:innen. Ein Beispiel: Statt mittels lästiger Banner die Zustimmung zu Cookies and AGB zu erzwingen, könnte am Anfang ein Banner über die Verpflichtung der Firma und ihrer App gegenüber den Werten der Nutzer:innen informieren. Die Gewinnung und das Halten des Vertrauens von Konsument:innen sehen Marktforschungsunternehmen wie Forrester heutzutage als eine wichtige Strategie für Unternehmen.

Fazit: win-win-win

Design for human autonomy in diesem Sinne wäre ein Win-Win-Win für den Menschen, die Gesellschaft und das Unternehmen – weil das Individuum besser seine Ziele erreicht, die Interaktionen die Gesellschaft stärken und das gewonnene Vertrauen sowie neue Dienste weiteren Umsatz bringen.

Alexander Steinhart ist Psychologe und Technologe, Berater bei der internationalen IT-Beratung Thoughtworks, und Editor vom »Responsible Tech Playbook«. Hier geht es zu einem Interview mit ihm zum Thema ethisches Design. Die Illustrationen stammen von Mekong Lam.

Mehr zum Thema:
Design & Ethik: Das können wir besser!

 

Produkt: Download PAGE - Goldstandards im UX Design - kostenlos
Download PAGE - Goldstandards im UX Design - kostenlos
Best-Practices und Beispiele im User Experience Design und Interface Design

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Das könnte dich auch interessieren