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Ausschreibungen für Digitalprojekte müssen flexibler werden!

Ein Appell von Designer Bastian von Lehsten und Rechtsanwalt Manuel Zimmermann: So laufen Ausschreibungen für Auftraggeber und Kreative besser! 

Bastian von Lehsten, Geschäftsführer und Lead Designer bei Novamondo, Berlin (links) und Manuel Zimmermann, Fachanwalt für Vergaberecht bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft, Berlin

Das Vergaberecht fordert bei Digitalprojekten wie Websites oder Apps vom Auftraggeber schon bei der Ausschreibungen eine ausführliche Darstellung des Endprodukts? Stimmt nicht, sagen Rechtsanwalt Manuel Zimmermann und Bastian von Lehsten von der Berliner Agentur Novamondo. Die gesetztlichen Vorgaben würden jetzt schon ein viel unkompliziertes Vorgehen ermöglichen, das vor allem deutliche bessere Ergebnisse brächte. Dafür müssten alle Beteiligten nur ein wenig umdenken.

Der Bürokratiewust bei öffentlichen Ausschreibungen ist ja allgemein gigantisch und schreit förmlich nach Reduk­tion. Warum gilt das besonders für digitale Projekte?
Bastian von Lehsten: Die Entwicklung einer komplexen Website bis zum Live-Gang kann gut und gerne zwei bis drei Jahre in Anspruch nehmen. Die derzeit gängige Praxis, den Prozess und das Endprodukt schon in der Ausschreibung vorweg bis ins Detail zu beschreiben, konterkariert jedoch den Erfolg solcher Projekte.

Die Auftraggeber könnten sich also eine Menge Arbeit sparen?
Von Lehsten: Allerdings, zumal große di­gi­tale Projekte, wie beispielsweise eine öffentliche Ver­waltungsplattform, eine Ex­per­tise erfor­dern, die der Auftraggeber bei der Ausschreibung noch nicht zwingend hat und erst in einem langwierigen Verfahren einholen muss. Das reicht von organi­sato­ri­schen über redaktionelle bis zu tech­ni­schen Fragen, die mit verschiedensten Organisationseinheiten und Ansprechpartnern zu klären sind. Von dieser Last könn­te man ihn befreien – und die Agenturen wiederum bräuchten bei der Bewerbung um die Vergabe diese Leistungsbeschreibun­gen nicht mehr aufwendig zu bearbeiten.

Erlaubt das Vergaberecht denn ein anderes Vorgehen?
Manuel Zimmermann: Es heißt immer, dass Ausschreibungen sehr starren Vor­ga­ben folgen müssen. Doch das ist nicht ganz richtig. Oft liegt es lediglich daran, wie man das Vergaberecht anwendet. Es gibt viele Möglichkeiten, Ausschreibungen zu gestalten, auf viele Formalien kann man verzichten. Auch die Leistung muss nicht im Detail vorge­geben werden. Bei den aus­schrei­ben­den Stellen muss das Bewusstsein für die Möglichkeiten geschärft werden, die das Vergaberecht schon vorhält.

Was läuft falsch bei digitalen Projekten?
Von Lehsten: An einem digitalen Produkt arbeitet man nutzerzentriert.

Wenn man aber das Endprodukt und den kompletten Leis­tungskatalog schon in der Ausschreibung definiert, kann man auf spezifische Nut­zerbedürfnisse gar nicht mehr reagieren.

Erst im gemeinsamen Konzeptionsprozess mit der Agentur stellt sich doch he­raus, welche Anforderungen im Sinne der User und nicht nur der ausschreiben­den Or­ganisation entstehen. Es geht dar­um, agiler zu arbeiten. Wo alles im Vorfeld festgelegt wird, hat Innovation keinen Platz. Derartige Vorgaben nehmen jegliche Dyna­mik aus dem Projekt.

Es geht also zunächst einmal ums Verschlanken?
Von Lehsten: Dass ich eine andere Form der Vergabe einfordere, hat unter anderem mit einer Ausschreibung zu tun, die mir gezeigt hat, dass es auch ganz anders geht: Es handelte sich um eine extrem komplexe Website für eine große öffentliche Einrich­tung. Auf acht Seiten wurde lediglich eine Konzeptionsphase ausgeschrieben, um ge­mein­sam Ideen für eine nutzerzentrierte Lösung zu finden – innerhalb einer bestimmten Zeit und für einen bestimmten Preis. Jede andere Ausschreibung für digitale Projek­te umfasst mindestens sechzig Seiten. Plus noch mal so viele Seiten Bieterfragen, weil natürlich tausend Sachen nicht spezifizier­bar sind, etwa bei technischen Themen.

Wie kann man das besser machen?

Von Lehsten: Wir denken an eine Ausschreibung nach der Formel »UX+X«. Gemeinsam reflektieren Kunde und Agentur die Bedürfnisse der einzelnen Stakeholder, finden heraus, was das für die Organisation heißt und was sie im Hintergrund leisten muss – und entwickeln eine UX-Strategie. Als Ergebnis beschreibt meist eine User Sto­ry Map, welche Informations- und Interaktionseinheiten erforderlich sind. Daraus lassen sich dann direkt die Stufen der Umsetzung ableiten, also Inhalte, Gestaltung, Navigationsstruktur et cetera.

Zwingt das Vergaberecht dazu, die folgende Phase neu auszuschreiben?
Zimmermann: Aus Sicht des Vergaberechts ist es durchaus möglich, nur die UX auszuschreiben – statt einem detaillierten Leis­tungsverzeich­nis also nur funktional die Ziele und Zwecke der Website vorzugeben. Diese muss man allerdings erschöpfend und eindeutig beschreiben. Nach dieser ers­ten wichtigen Phase ist es für den Auftraggeber meist sinnvoll, dass derselbe Dienstleister die Gestaltung und die technische Umsetzung übernimmt. Tatsächlich kann man ent­weder gleich das Gesamtprojekt ausschreiben oder sich das Hintertürchen offenhalten, in weiteren Phasen jemand an­deren zu beauftragen, wenn es mit der ers­ten Agentur nicht richtig klappt.

Was bedeutet das für die Angebotserstellung?
Von Lehsten: Die Agentur schlägt ihren Prozess für die Entwicklung der UX-Strategie vor und nennt Referenzen. Nur diese erste Phase wird konkret bepreist. Für die Ge­stal­tung und die Technik reicht es, einen Tagessatz anzugeben und ein grobes Bild davon zu entwerfen, wie viele Stunden nötig sein werden.

Wer von beiden spart bei dieser Form der Ausschreibung Zeit? Wird nicht der Aufwand vom Auftraggeber auf den Anbieter abgewälzt?
Zimmermann: Wenn der Kunde wie bisher üblich ein detailliertes Leistungsprogramm vorgibt, muss sich der Bieter zwar weniger Gedanken machen, wie er beim Projekt vorgeht, aber er muss sehr aufwendig überlegen, wie viele Arbeitsstunden er für jede einzelne beschriebene Aufgabe be­nötigt und welche zusätzlichen Runden er einkalkulieren muss, falls etwas nicht funk­tionieren sollte wie geplant. Dabei geht er zudem ein erhebliches Risiko ein. Bei unserem Modell muss er nicht fremde Vorgaben bepreisen, sondern sein eigenes Vor­gehen bei der Entwicklung einer UX-Strategie, das er ja kennt.

Wie bleiben die Kosten für den Auftraggeber berechenbar?
Zimmermann: Bei der konventionellen Va­riante wird ein Festpreis abgefragt und unter den Bietern verglichen. Wenn man die UX-Strategie ausschreibt, wird das angebo­tene Konzept verglichen plus die Kos­ten der nötigen Stundensätze. Um die vom Ver­ga­berecht verlangte Vergleichbarkeit zu gewährleisten, muss eine realistische Schät­zung der erforderlichen Stunden möglich sein, die aber nicht verbindlich ist.
Von Lehsten: Natürlich kann der Auftraggeber ein Budget benennen, und der Bieter kann versuchen, dafür so viel wie möglich umzusetzen. Aber Zeit und Leistung werden nicht gleich komplett mit­be­stimmt, denn bei agilen Entwicklungen geht man Schritt für Schritt vor. Wenn die Agentur in Sprints arbeitet, sieht der Auftraggeber ja sofort, wie sich die Dinge entwickeln. Aber es erfordert ein gewisses Umdenken, sich auf einen Prozess einzulassen, den der Auftraggeber beeinflussen kann, aber bei dem nicht sämtliche Ergebnisse von vorneherein feststehen.

Wie bewegen wir die Auftraggeber zu diesem Umdenken?
Von Lehsten: Es ist viel Aufklärungsarbeit bei allen Beteiligten nötig. Diese Form der Vergabe, bei der nur die UX-Strategie ausgeschrieben wird, ist ja noch nicht oft prak­tiziert worden. Um die Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung voranzutreiben, sollte sich das ändern. Auch Verbände von AGD bis DDC oder Vergaberechtler können da vermitteln. Und die Agenturen sollten den Ausschreibenden immer auch ein Feedback geben.
Zimmermann: Ein interessantes Forum für Überzeugungsarbeit in dieser Sache wäre auch der IT-Vergabetag, der im November wieder stattfindet und an dem viele Auftraggeber teilnehmen, die interessiert sind, etwas besser zu machen. Tatsächlich wach­sen im Vergaberecht in letzter Zeit die Mög­lichkeiten zur Entbürokratisierung – aber das muss bei den Umsetzern ankommen.
Von Lehsten: Auch die Agenturen müssen erst einmal zu einem gemeinsamen Verständnis finden. Sich grob auf eine einfa­che Formel wie »UX+X« zu einigen, würde den Weg frei machen für innovative, nachhaltige Lösungen.

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