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»Als ich das erste Mal wieder im Metropolitan Museum war, hätte ich fast ­geweint vor Glück«

Lockdown, Demos und Wahlkampf – wie hat Typedesignerin Nina Stössinger die Corona-Zeit in New York ­erlebt? Und wie geht die Kreativszene mit der politischen Situation um?

Nina Stössinger
Foto: Carrie Hamilton

Seit gut vier Jahren lebt die Schweizerin Nina Stössinger in New York und arbeitet als Typedesignerin für die renommierte Foundry Frere-Jones Type. Außerdem lehrt sie Schriftgestaltung an der Yale University School of Art. Wir sprachen mit ihr über die momentane Situation in der Stadt und darüber, wie sich Lockdown und Demonstrationen auf die Kreativität und die ­Lage der Kreativen auswirken.

Vor Kurzem hat das US-Justizministerium die Städte New York, Seattle und Portland als »anarchist jurisdiction« eingestuft. Was müssen wir uns darunter vorstellen?
Nina Stössinger: Soweit ich weiß, dient es als Grundlage dafür, diesen Städten Bundesgelder zu entziehen. Aber ja, die Bezeichnung ist so dermaßen absurd, dass man darüber nur noch lachen kann. Von Anarchie ist New York nun wirklich meilenweit entfernt.

Von Deutschland aus betrachtet, bekommt man den Eindruck, es seien eher die Politiker, die sich anarchistisch im Sinne von chaotisch benehmen.
Es ist komplett falsch herum, auch wenn man sich die Argumentation für die Einstufung anschaut: Das New York Police Department habe ungenügend harsch gegen Unruhen durchgegriffen – wobei sich in der Realität ja die Vorwürfe gegen die Polizei wegen ihres brutalen Vorgehens gegen friedliche Demonstranten häufen. Kürzlich war ich auf einer total friedlichen Demo, auf der 86 Teilnehmer festgenommen wurden – aufgrund von »Blockieren des Straßenverkehrs«.

Nina Stössinger

Nina Stössinger
Seit Ende April ist das Fahrrad Nina Stössingers ständiger Begleiter. Ob im leeren Manhattan oder auf Demos.

Immerhin ist wieder Leben auf den Straßen. Wie war das im März, als New York plötzlich lahmgelegt und quasi ausgestorben war?
Mein erster Home-Office-Tag war ausgerechnet Freitag, der 13. März. Die Stimmung schwankte zwischen »Na, so schlimm wird es schon nicht sein« und echter Angst beim Blick auf die rasant steigenden Infektionszahlen. Ich habe das Ganze schließlich doch sehr ernst genommen, bin sechs Wochen fast gar nicht aus dem Haus gegangen.

Bekommt man nicht klaustrophobische Anfälle, wenn man so lange in einer 60-Quadratmeter-Wohnung eingesperrt ist?
Der nahe gelegene, parkähnliche Friedhof Green-Wood Cemetery hat mich gerettet, dort war ich einige Male und habe mich bemüht, das Makabere der Situation zu verdrängen: Während einer Pandemie auf einem Friedhof spazieren zu gehen. Als introvertierter Mensch war es für mich nicht so schwierig, mit der Katze alleine zu Hause zu sitzen. Extrovertiertere Freunde von mir sind eher die Wände hochgegangen.

Jetzt haben wir Mitte Oktober, und du arbeitest immer noch überwiegend von zu Hause aus, oder?
Fast ausschließlich, ja. Auch der Schriftgestaltungsunterricht in Yale findet ausschließlich virtuell statt. Wenn ich einen ­guten Drucker oder Scanner brauche oder Ruhe vor der Katze haben will, gehe ich auch mal ins Büro. Meinen Kollegen habe ich das deutsche Wort »Tapetenwechsel« erklären müssen, das kannten sie nicht. Wir sprechen uns aber ab, sodass zur gleichen Zeit immer nur einer im Office ist.

Und wie wirkte sich der Lockdown auf deine Arbeit aus? Als kreativer Mensch braucht man doch sicher etwas mehr Input, als einem die eigene Katze geben kann.
Ich habe mich in der Zeit extrem unkreativ gefühlt und nur versucht, da irgendwie durchzukommen. Der für Inspiration zustän­dige Teil meines Gehirns hat aus Angst und in diesem Belagerungs­zustand gar nicht funktioniert. Mein Respekt gilt den Men­schen, die in dieser Zeit noch kreativ gearbeitet haben! Ich war zum Glück inmitten eines Projekts, also schon über die erste Ideenfindungs­phase hinaus und bei der Umsetzung. Schrift­gestaltung ist oft etwa 1 Prozent Inspiration, und dann sitzt man monatelang vor dem Rechner und macht Sonderzeichen und so. Das kam mir in dem Moment sehr gelegen. Aber natürlich fehlte trotzdem sehr viel. Das Lebendige, Inspirierende, der kreative Puls von New York. All das ist ja ein Grund, warum man hier leben will.

Hattest du mal daran gedacht, nach Europa ­zurückzukehren?
Eigentlich nicht. Es war eh schon zu spät, als es richtig losging, hätte ich mich nicht mehr in ein Flugzeug setzen wollen. Daher hat sich die Frage gar nicht gestellt. Aber ich mag New York eben auch wirk­lich sehr gerne und fühle mich hier zu Hause. Schwierig ist nur, dass meine Familie so weit weg ist. Wir skypen viel, aber live gesehen habe ich sie seit Weihnachten nicht mehr.

Langsam geht das Leben wieder los, die Museen öffnen, und es kommen zumindest ein paar Touristen in die Stadt. Ist das eine Erleichterung?
Als ich das erste Mal wieder im Metropolitan Museum of Art war, hätte ich fast geweint vor Glück. Da fühlte man sich gleich wieder als kompletterer Mensch. Und ja, dort waren Touristen – vermutlich auch internationale. Ob das jetzt der beste Zeitpunkt ist, eine Städtereise nach New York zu unternehmen …

Ruhe kehrt aufgrund der vielen Demos gegen Rassismus und Polizeigewalt aber in der Stadt trotzdem nicht ein.
Die Demos gingen Ende Mai los, das war wie ein neues Kapitel. Zumal da in der Stadt eigentlich noch alles zu war. Ich habe zu Beginn fast täglich an einer teilgenommen – mit Maske versteht sich – und hatte das Gefühl, dieses Risiko eingehen zu können und auch zu müssen. Was ich in meinem Leben so mache, ist schön und auf einem bestimmten Level auch bedeutsam, aber es drängten sich dann Fragen in den Vordergrund, die so viel größer, wichtiger und auch unmittelbar dringender waren als das Aussehen eines kleinen e.

Haben die Demos das Thema Corona verdrängt oder läuft alles parallel?
Es ist tatsächlich wie ein kaputter layer cake, alles neben-, über- und untereinander. Genauso funktioniert hier seit fast vier Jahren die Politik. Es passiert etwas Furchtbares, man regt sich darüber auf, dann passieren schon wieder drei neue Furchtbarkeiten und man kommt gar nicht dazu, das alles zu verdauen oder angemessen darauf zu reagieren.

Was überwiegt im Moment, die vorsichtig-­optimistische Aufbruchsstimmung oder die Angst vor Herbst und Winter?
Beides zugleich? Auf der einen Seite bin ich sehr froh, dass die Stadt ein bisschen wiedererkennbarer wird. Ende April durch ein völlig leeres Manhattan zu radeln, war wahnsinnig traurig. Auf der anderen Seite mache ich mir große Sorgen. Wegen einer neu­en Welle, aber vor allem auch um die wirtschaftliche Situation hier in der Stadt. Es gibt so viele neue Arbeitslose und das aufgestockte Arbeitslosengeld ist ausgelaufen. Zum Winter hin kann eine schlimme Situation mit einer großen Anzahl obdachloser Menschen entstehen.

Wie ist die wirtschaftliche Situation der Kreativen? Wie sieht es bei Frere-Jones Type aus?
Arbeit zu haben, die ich von zu Hause machen kann, ist viel wert, so fühlt sich die Lage für mich zumindest in dieser Beziehung einigermaßen stabil an. Glücklicherweise hatten wir bereits Projekte in Vorbereitung, die dann auch weiterliefen. In dem Sinne bin ich dankbar dafür, dass die Schriftgestaltung nicht unbedingt ganz so direkt auf tagesaktuelle Dinge reagiert wie Grafikdesign oder Werbung. Was ich von anderen Kreativen mitbekomme, ist zum Teil schon heftig. Am extremsten natürlich bei Kollegen, die mit Events, darstellender Kunst oder Ausstellungen zu tun haben, da lief eine lange Zeit lang gar nichts. Oder diejenigen, die »live« mit anderen Personen arbeiten müssen, etwa Fotografinnen. Es ist schon unter normalen Umständen echt schwierig, sich in New York als freier Kreativer durchzuschlagen.

Wie überleben diese Freiberufler? Denn ein soziales Netz gibt es ja auch nicht wirklich.
Zunächst hat das aufgestockte Arbeitslosengeld viel gerettet, das haben meines Wissens auch Selbstständige bekommen, und davon konnte man die Miete und Essen bezahlen. Natürlich gab es auch gleich wieder Stimmen, die sagten, das sei viel zu viel, der ein oder andere hätte jetzt mehr Geld, als wenn er arbeiten würde. Das ist für mich eher das Problem des zu geringen Mindestlohns. Nach Ende dieser Aufstockung blie­ben vielen wohl nur Reserven, ­Familie und Freunde.

Als wäre das alles nicht schlimm genug, kommt die aufgeheizte politische Stimmung hinzu.
Uns hier wird immer klarer, dass die momentane Situation die Regierung gar nicht kümmert. Denen ist es wirklich wurscht. Das ist nicht nur einfach Dummheit und Fahrlässigkeit. Mich beschleicht die Ahnung, dass die po­litische Führung die Unsicherheit im Gefolge der Pandemie und die Un­ru­hen nutzt, um auf abscheuliche, un­de­mokratische Art ihre Macht zu fes­tigen. Es herrscht ein Klima der Un­sicherheit. Im Vergleich zu meinem Heimatland Schweiz habe ich dieses Gefühl hier ohnehin, eben weil es kein soziales Sicherungssystem gibt. Das verstärkt sich jetzt noch – man merkt, dass man sich selbst helfen muss.

Nina Stössinger

Konntest du auch beobachten, dass die Menschen in der momentanen Lage enger zusammenrücken?
Ja, dadurch, dass die Gesellschaft auf sich selbst zurückgeworfen ist, hilft man sich auch gegenseitig. Es ist schön zu erleben, wie bei den Demos echter Idealismus für eine alternative Zukunft aufblitzt. Unter dem Schlagwort »Occupy City Hall« hiel­ten Hun­derte meist junger Aktivist*innen wochenlang die Fußgängerzone vor dem Rathauspark in Manhattan besetzt; da entstand eine richtige kleine Parallelgesellschaft mit einem alternativen Kulturprogramm, täglich warmem Essen für alle Anwesenden (auch Obdachlose waren eingeladen) bis hin zu solarbetriebe­nen Handyauflade- und Wählerregistrierungsstationen. Und in der ganzen Stadt zeigen Beispiele wie die Community Fridges, dass auch die Nachbarschaftshilfe ganz gut funktioniert: Jemand spendet einen Kühlschrank, ein Laden gibt den Strom, jeder der zu viel gekauftes Essen hat, legt es in den Kühlschrank, und wer es braucht, nimmt es raus. Klar kommt manchmal ein Idiot und brennt den Kühlschrank ab, aber dann stellt auch wieder jemand einen neuen hin. Da gibt es schon Momente, in denen ich den Glauben an die Menschheit wiederfinde.

Gab es auch Aktionen von Kreativen? Setzt ein Lockdown besondere Ideen frei?
Ich hab eher erlebt, dass bestehende Strukturen hinterfragt und auch kritisiert wurden. In der Kreativszene gab es einen regelrechten Aufschrei nach demokratischeren, breiteren, weniger elitären Organisationen. Denken wir nur an die Krise beim Type Directors Club, der sich mit Rassismusvorwürfen konfrontiert sah. Auch die AIGA – der wichtigste Kommunikationsdesignverband in den USA – arbeitet an Veränderungen. Mal sehen, was draus wird.

Hierzulande hat man die Hoffnung, der ganze Corona-Wahnsinn in den USA würde wenigstens dazu führen, dass Trump abgewählt wird.
Eigentlich muss die Pandemie der Todesstoß für diese Regierung sein. Man kann doch nicht die eigene Bevölkerung völlig links liegen lassen und eine Pandemie politisch ausschlachten. Aber es ist schon krass zu sehen, wie die Menschen im Land ­immer mehr auseinanderdriften. Die Leute haben inzwischen nicht mehr unterschiedliche Perspektiven auf die gleiche Wahrheit, sondern unterschiedliche Wahr­hei­ten. Zu viele folgen der Re­gierung blind und glauben an diese ganzen Verschwörungstheorien, etwa dass es das Virus gar nicht ­gäbe und es nur von den Linken zur Angstmache und Propaganda gegen die Regierung verwendet wür­de. Oder dass die eigentliche Gefahr die Anarchisten wä­ren, die in der Stadt randalie­ren. Ich weiß nicht, ob man diese Diffe­renzen noch überbrücken kann.

Du meinst, der Rechtsruck ist nicht aufzuhalten?
Ich hoffe es sehr, aber habe wirklich Angst. Dieses Jahr bot viele Gelegenheiten, darüber nachzudenken, was für eine Herausforderung Demokratie eigentlich ist. Für mich war sie immer ein selbstverständlicher Standard. Jetzt wird klar, wie viel Arbeit sie braucht und wie aktiv man ständig daran arbeiten muss, eine funktionierende Demokratie zu erhalten. Und wie leicht man sie verlieren kann.

In der Kreativszene gab es einen regelrechten Aufschrei nach demokratischeren, breiteren, weniger elitären Organisationen. Denken wir nur an die Krise beim TDC, der sich mit Rassismusvorwürfen konfrontiert sah. Auch die AIGA arbeitet an Veränderungen.

Würde eine Wiederwahl Trumps Konsequenzen für dich haben?
Daran mag man gar nicht denken. Ich liebe diese Stadt und will nicht wieder weg. Aber es ist momentan schwer, mit dieser ständigen Lawine von Bullshit zu funktionieren. Gefühlt wird 40 Pro­zent meiner Aufmerksamkeit konstant von diesem gan­zen politischen Mist aufgefressen – und ich gehöre ja zu den Privilegierten, die nicht ganz direkt davon betroffen sind. Müsste ich jetzt jeden Tag superkreativ sein – keine Ahnung, wie ich das machen sollte.

Beim Blick auf deine Twitter-Posts entsteht der Eindruck, dass deine politischen Statements die gestalterischen immer mehr verdrängen.
Ja, ich habe mich als politischen Menschen wiederentdeckt und halte damit auch nicht hinter dem Berg. Nach fast vier Jahren mit dieser ☠☠☠😡😡😡 -Regierung tut es gut, Farbe zu bekennen. Ich habe dazu überwiegend positives Feedback bekommen und sehe bei Kollegen Ähnliches: Auch in der Kreativbranche scheint eine allgemeine Politisierung stattzufinden. Das ist ermutigend und schlägt sich hoffentlich auch in den Wahlergebnissen nieder.

Antje Dohmann sprach Mitte Oktober mit Nina Stössinger und drückte Joe Biden seitdem noch mehr die Daumen. Jetzt, bei Erscheinen der Ausgabe 12.2020, ist das Zittern vorbei und die Wahl hoffentlich richtig entschieden.

 

 

 

 

 

PDF-Download: PAGE 12.2020

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