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Visual Trend: Urban Nature

Betonlandschaft versus grüne Wildnis: Aus dem Gegensatz zwischen Stadt und Natur lassen sich neuartige, inspirierende Bildsprachen entwickeln. Wir zeigen spannende Beispiele, die das visuelle Cross-over dieser heterogenen Welten für die Kommunikation nutzen.

Eine Person sitzt vor einer blauen Wand mit bepflanzten Gefäßen und schaut in die Kamera. Mit weißer Schrift wird das Parfum Jardin beworben.
Natürliche Düfte, made in Los Angeles: Das Motiv postete das Parfumstudio zum Launch des Dufts Jardin

Unsere Vorstellungen vom Städtischen und Ländli­chen erweisen sich zunehmend als überholt. Während in Paris Erdbeeren in senkrechten Substratgefäßen auf dem Dach einer Messehalle wachsen und man in Sydney Champignons in einer Tiefgarage züchtet, werden unweit der chinesischen Stadt Ezhou Schweine in ei­­nem Hochhaus mit 26 Etagen gemästet. Man kann sich also getrost von den herkömmlichen Bildern und Assozia­tio­nen verabschieden, denn Stadt und Land sind im Fluss. Sie sind immer stärker verwoben und ineinander verschachtelt – mal verdrängt das Urbane die Natur, mal erobert sich die Natur städtischen Raum zurück.

Die Begrünung dicht besiedelter Zonen wird zu­neh­­mend wertgeschätzt – zum einen weil sie die Lebensqua­lität der Menschen erhöht, zum anderen weil der Klima­wandel sie erforderlich macht. Er setzt Städte immer stärker unter Druck, nachhaltigen Wandel voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund widmen sich unterschied­lichste Institutionen und Unternehmen in ihrer visuel­len Kommunikation dem Themenbereich Urban Nature und Green Cities. So verwendet etwa die International Union for Conservation of Nature (IUCN) auf ihrer Website für einen Artikel über die Entwicklung einer ökologischen Stadtplanung Bilder, die per künstlicher Intelligenz generiert wurden: Illustrative Darstellungen bebauter Flächen aus der Vogelperspektive sind hier zum Beispiel mit fotografierten Pflanzendetails verwachsen.

Ausbruch aus Klischees

Die visuelle Verschränkung von städtischen und natürlichen Elementen birgt ein hohes Potenzial für innovati­ve Formensprachen, die auch für andere Branchen, von Mode bis Mobilfunkanbieter, attraktiv sind. Denn diese Bildwelten antworten auf die Sehnsucht der Städ­ter nach Natur, ohne retrobehaftete Landlustklischees zu bemühen. Die visuelle Welt von Urban Nature erlaubt es, Naturverbundenheit und Zukunftsgewandtheit gleichermaßen zu kommunizieren und das Thema Nachhaltigkeit realitätsbezogener als mit den bisherigen Stereotypen darzustellen.

Allerdings birgt dieses Feld auch die Gefahr, in neue Klischees zu verfallen, wie etwa ein Vodafone-Spot zeigt: Skater:innen vor Betonkulisse entdecken dank Smartphone die urbane Natur mehr als hautnah, senden einander Fotos von einem Stiefmütterchen vor einem Parkhaus und einem Vogelnest auf einer Ampel, bevor sie sich an einem betonierten Kanalufer unter einer Betonbrücke versammeln, sich lächelnd Fotos auf dem Handy anschauen und einen Marienkäfer vom einen zum anderen Finger krabbeln lassen. Der Abspann: »Das neue iPhone 14 Pro im grünen 5G-Netz von Vodafone«. Man kann sich bildlich vorstellen, wie das perfekte Stiefmütterchen zuvor in die Beton­ritze gestopft, das Nest per Leiter auf die Ampel befördert und ein Marienkäfer als Statist organisiert wurde. Dabei bietet gerade das zufällig Gewachse­ne, die nicht geplante Verschränkung des Urbanen und des Natürlichen – was die Skater:innen ja vorgeben, per Handykamera zu erkunden – viel Potenzial für authentische Bildsprachen.

 

 

Viel überzeugender bewegt sich Bacsac, der französische Hersteller textiler Pflanzgefäße, im visuel­len Spannungsfeld urbaner Natur (siehe unten). Die Marke nutzt die Stadtlandschaft, um die eigenen Pro­­duk­te wirkungsvoll in Szene zu setzen. Zu den kom­ponier­ten Bildwelten gehört eine Dachterrasse mit Häusermeerblick. Geprägt von Waschbetonplat­ten und Metallgittern, ist sie – für sich betrachtet – wenig idyl­lisch. Durch die minimalistischen Pflanzsäcke und die wuchernde Begrünung wirkt das Ganze jedoch, als hätte sich hier jemand mit wenig Aufwand eine wahre Oase inmitten einer Steinwüste geschaffen. Mit dieser visuellen Sprache vermittelt die Marke Bacsac zudem auf prägnante Weise ihr erklär­tes Ziel, die Natur in die Stadt zurückzubringen – es geht ihr eben nicht nur um private Wohlfühlzonen, sondern zugleich um das große Ganze.

Foto einer urbanen Dachterasse mit Pflanzsäcken am Gerüst und auf dem Boden
Grüne Oase in der Steinwüste: Der Hersteller textiler Pflanzgefäße Bacsac weiß mit seiner Bildsprache die Sehnsucht nach Natur zu beantworten, ohne die städtische Realität aus dem Blick zu verlieren Bild: JEROME GALLAND

Zauber des Gewöhnlichen

Vor einer blauen Wand stehen verschiedene gelbe Gefäße übereinander. Das oberste Gefäß ist bepflanzt.
Zum Launch des Dufts Jardin, der die Magie des Gewöhnlichen feiert, schuf J.Pera Stillleben aus normalen Objekten wie Bürohockern oder Farbeimern und Pflanzen

»Everyday Florals, Green Grasses, and Woody Earth Notes« – so umschreibt das Parfumstudio J.Pera aus Los Angeles die Duftkomposition Jardin. Das ihr zu­grun­deliegende Konzept widmet sich der »virtue in the ordinary«, was auch die Fotografien zum Launch des Produkts vermitteln. Ein einfaches kleines Gebäude, davor ein herabgerollter hellblauer Shoo­ting-Hinter­grund, der sich als solcher zu erkennen gibt; als Stän­der für Pflanztröge ein alter Bürohocker – Inbegriff urba­nen Alltags – oder ein Stapel leerer Plas­tikeimer, an dem noch Farbreste kleben. Bei aller Nor­ma­lität der Gegenstände sind diese Stillleben dennoch sorgsam arrangiert und farblich fein nuanciert, wob­ei der Kontrast aus natürlich gewachsenen und industriell gefertigten Formen einen ganz eigenen Charme entfaltet. Gewöhnliches kann ungewöhnlich schön sein, zeigt J.Pera und weckt damit die Neu­gier, hierzu die Analogie im Reich der Düfte mit der Nase zu erkunden.

Verpackungen von J.Pera mit verspielter und variantenreicher Typografie und verschiedenen Icons
Verpackungs­design­konzept von J.Pera.

Auf den Verpackungen steht an prominenter Stel­le »Hand Made and Compounded in L.A.«, was die urbane Herkunft des Produkts betont. Das Label wur­de 2020 vom Künstler und Parfumeur Jill Zachman gegründet. Beim Kreieren der Düfte unterstützt ihn Carlos Avila, Creative Director von J.Pera. Der Auftritt des Studios bietet insgesamt eine eigenständi­ge Ästhetik – ein spannendes Kontrastprogramm zum branchenüblichen visuellen Parfumpathos.

Vor einer blauen Wand steht ein bepflanzen Blumentopf auf dem alten Untergestell eines Bürostuhls

Gut gestylt gärtnern

Filmstill aus dem Imagefilm von Flora Animalia in dem eine Person einer anderen ein Bund Kräuter reicht.
Der Imagefilm des Fashionlabels Flora Animalia zelebriert die Freude am Urban Gardening und lenkt den Blick auf die Details der Kleidungsstücke

Auch beim Säen, Graben, Jäten, Rupfen und Zup­fen braucht man sein Modebewusstsein nicht mehr an den Nagel zu hängen. Das Fashionlabel Flora Ani­malia aus Los Angeles hat als Zielgruppe die wachsende Schar der Städter:innen mit grünem Daumen im Blick und bietet chic geschnittene, bequeme Klei­dung aus Leinen und ökozertifizierter Baumwolle an, mit der man gut gestylt gärtnern kann.

Gründerin Rozae Nichols hat schon zuvor gro­ße Erfolge gefeiert, etwa mit der Marke Clover Canyon, deren Kleider etwa Michelle Obama, Beyoncé oder Oprah Winfrey trugen. Als sie Flora Animalia aus der Taufe hob, suchte sie hierfür einen besonderen Ort: einen Hybrid aus Workspace und Urban Garden mit­ten in L.A. Auf dem Hinterhof eines früheren Fischhandels ließ sie Kanalbaubetonrohre senk­recht platzieren, um sie als Hochbeete zu nutzen. In den skulp­turalen Kreisformen baute das Team unter anderem Karotten, Mais, Kürbisse, Bohnen, Blattgemüse oder Granat­äpfel an. Dieses moderne Paradies zwischen Strommasten und altem Gemäuer nutzte die Marke auch für ihren Imagefilm, der in Kooperation mit Mercy For Animals entstand: In traumähnlichen Zeitlupenbildern zeigt er die kollektive Freude am Urban Gardening und lenkt den Blick zugleich auf die Details der Schnitte und deren Funktionalität.

Fashion Fotografie von Flora Animalia, in der eine Person an ihrem Körper eine weiße Schürze mit kupfernem Detail trägt und in der einen Hand eine Gießkanne
Schürze mit kupfernem Halbkreis: Das Design der Kleider verbindet Funk­tionalität und Style

Vor Kurzem ist das sechsköpfige Team in andere Räume umgezogen, bleibt dem Thema Gärtnern aber weiterhin treu. »Der Garten ist zu einer Art Metapher für meine Sehnsucht geworden, ein einfache­res, reduzierteres Leben zu gestalten und zu führen«, erklärt Rozae Nichols auf der Website. »Getting Back to Nature« ist aus ihrer Sicht heute so dringend erforderlich und bedeutsam wie nie zuvor. Auch in der neu bezogenen Location veranstaltet Flora Animalia deshalb Workshops und Events, die sich mit Themen wie pflanzenbasierter Lifestyle, Umweltschutz oder Tierrechte befassen. Für Rozae Nichols ist das Mo­de­label eine Art Werkzeug, ihren eigenen Über­zeu­gun­gen Ausdruck zu verleihen und die Hinwendung zur Natur zu fördern.

Steingarten in abendlichem Licht mit bepflanzten Betonbeeten
Flora Animalia baute in ihrem urbanen Garten in Los Angeles Gemüse und Obst an. Hier wurde auch der Imagefilm gedreht

 

Begrünte Begegnungsorte

Ob New York, Stockholm, Mailand, London oder Dublin – an all diesen Orten hat Vestre stilvolles Stadt­mobiliar für soziale Treffpunkte platziert. Neben Bän­ken, Tischen, Stühlen oder Lounge-Chairs hat das in Nor­wegen ansässige Unternehmen auch verschiede­ne Pflanzkästen im Programm, die sich mit den urbanen Möbeln perfekt kombinieren lassen. Der Katalog von 2022 trägt den Titel »re-connect«, was die Ziele auf den Punkt bringt: Zum einen will die Marke durch die Gestaltung von Orten, an denen Leute zusammenkommen können, Sozialkontakte und Teilhabe an der Gesellschaft fördern, zum anderen geht es darum, den Menschen wieder mehr Bezug zur Natur zu ermöglichen. Vestre hat zum Beispiel eine Bank namens Log entwickelt, die es erlaubt, einen abgestorbenen liegenden Baumstamm oder einen Stapel Äste einzurahmen, sodass man von ihr aus den lang­samen Zersetzungsprozess verfolgen kann. Dies soll deutlich machen, dass alte Bäume für den Erhalt der biologischen Vielfalt von großer Bedeutung sind, da sie Lebensraum für Insekten, Pilze, Flechten, Moo­se und Pflanzen bieten.

Eine Person sitzt auf einer Sitzbank, die über einem umgefallenen Baumstamm platziert ist. Im Hintergrund ein Gebäude mit mehreren Personen an Tischen und Bänken
Mit der Sitzbank Log bringt Vestre Stadtbewohner:innen verrot­tendes Holz nahe.

Das Unternehmen hat sich zum Ziel gesetzt, der nachhaltigste und transparenteste Möbelhersteller der Welt zu werden – im Juni 2022 eröffnete Vestre 100 Kilometer westlich von Oslo eine neue Fabrik, die 90 Prozent weniger Energiebedarf als vergleichbare Produktionsstandorte hat. Der hohe Designan­spruch und die nachhaltige Ausrichtung des Unternehmens spiegeln sich auch in der visuellen Kommu­nikation wider. Die Bildwelten zeigen zum Beispiel das Potenzial der Pflanztröge aus den Serien Bloc, Stripes und Pop, mit denen sich die Natur auf markante Weise in die Stadt integrieren lässt. Außerdem gelingt es Vestre, Alltagsszenen als besonders wertvolle Momente erscheinen zu lassen. Das Bild eines familiären Picknicks im Park – an einem Tisch mit zwei Bänken aus der Plinth-Serie – wirkt wie zufällig aus dem echten Leben gegriffen, erweist sich bei nä­herer Betrachtung jedoch als perfekte Inszenierung, deren präzise aufeinander abgestimmten Farbtöne eine magische Atmosphäre erzeugen. So gelingt es der Marke, Quality Time jenseits von Klischees darzustellen – und zu zeigen, dass Vestre durch die Verbindung von Produktgestaltung und Social Design die Lebensqualität verbessert.

Eine Familie sitzt and einem See auf Bänken und an einem Tisch aus Holz. Die Bänke und der Tisch sind auf Beinen aus einem Material, dass die umliegende Wiese spiegelt. Daher sieht es so aus, als würden Bank und Tisch schweben.
Farblich fein nuanciert – ein gewöhnliches Picknick lässt Vestre als magischen Moment erscheinen Bild: Fotograf Nicolas Tourrenc

Dieser Artikel ist in PAGE 04.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.

PDF-Download: PAGE 04.2023

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