So spannend ist die ukrainische Kreativszene!
Wir hören viel vom Krieg, aber wissen wenig über das Land. Schauen wir mal bewusst ausschließlich in die Zeit vor dem Krieg. Spannende Designarbeiten verraten viel über eine Nation zwischen traditionsbewusster Identitätsfindung und radikaler digitaler Innovation. Ein Weg, den die ukrainischen Gestalter:innen mit aller Entschlossenheit fortsetzen wollen
Das sympathische Logo kommt bauchig in Form jener Schüsseln daher, in denen man die typischen Halušky-Knödel serviert, wie Designerin Lera Shaposhnikova erklärt. »Die Bildwelten vermitteln die fühlbare Lebendigkeit des ländlichen Opishnja mit Collagen aus natürlichen und fühlbaren Texturen, etwa von Holz, Steinen, Pflanzen oder Keramik. Mit ornamentalen Zeichnungen verbinden sie sich zu abstrakten Kompositionen. Wobei die Unfertigkeit der Collagen auch signalisiert, dass alle eingeladen sind, an dem Projekt mitzuarbeiten«, so die Kreativdirektorin und Gründerin von Orchidea Agency. Es entstanden Plakate, Publikationen, ein Orientierungssystem sowie Packagings, um einheimische Produkte – ob Keramik, Knödel, Bier oder Pflaumenmarmelade – besser zu verkaufen. Zum Glück blieb Opishnja bisher vom Krieg unberührt. Das kleine Team von Orchidea Agency ist derzeit in Europa zerstreut, nur Lera Shaposhnikova arbeitet derzeit noch von Kiew aus.
Statement-Mode aus der Ukraine
Ihrer Designagentur gelang mit diesem Projekt ein äußerst eleganter Umgang mit dem Thema nationale Identität, das in der Ukraine auch schon vor der russischen Invasion kompliziert war. Als unabhängige Nation formierte sich das Land erst 1991 nach dem Ende der Sowjetunion, noch 2001 bezeichnete sich 17 Prozent der Bevölkerung (vor allem im Osten) als russisch. In den über siebzig Jahren, in denen die Ukraine eine sozialistische Sowjetrepublik war, durfte es über alle Grenzen hinweg nur ein verbrüdertes Sowjetvolk geben. Vor allem Stalin zog schonungslos gegen jegliche Äußerung nationaler ukrainischer Identität zu Felde. Und Putin erklärte schon 2008 bei einem NATO-Gipfel dem damaligen US-Präsidenten George Bush, dass die Ukraine »nicht einmal ein Staat« sei.
Vor diesem Hintergrund ist der Umgang der Kreativschaffenden mit dem Kulturerbe von Opishnja zu sehen, aber auch mit Marken wie Etnodim (»dim« bedeutet im Ukrainischen »Haus«). Das im Jahr 2009 gegründete Modelabel, das sich zunächst nur klassischer ukrainischer Stickerei widmete, hat einen bemerkenswerten Modernisierungsprozess vollbracht – besonders seit es 2020 mit der Agentur Drama Queen eine neue Brandstrategie erarbeitete. Statt als »beste Marke für bestickte Hemden in der Ukraine« positionierte man sich fortan als »Lieblingsmarke der Ukrainer auf der ganzen Welt«. Ein erheblicher Unterschied, der die Kleidung symbolisch neu auflädt.
»Wenn heute aber eine Ukrainerin ein besticktes Hemd traegt und ein Selfie macht, geht es ihr um alles, was sie mit Ukrainischsein verbindet«
Anna Goncharova, Mitgründerin von Drama Queen
»Einst gaben die Ukrainer jeder Stickerei ihre Bedeutung. Eine Raute mit einem Punkt in der Mitte stand für ein Feld nach der Aussaat, eine Heuschreckenfigur war für Wohlergehen und gesundes Vieh verantwortlich. Wenn heute jedoch eine Ukrainerin ein besticktes Hemd trägt und ein Selfie macht, geht es ihr um alles, was sie mit Ukrainischsein verbindet«, so Anna Goncharova, Mitgründerin von Drama Queen. Zum Markenauftritt gehören nun immer wieder neue Stickmotive, vor Kurzem zum Beispiel eine auf Malereien ukrainischer Künstlerinnen und Künstler beruhende Kollektion.
Die Neuausrichtung läutete Drama Queen mit dem Markenfilm »That’s what my embroidered shirt is about« ein. Nostalgie und aktuellen Zeitgeist verbindet er ebenso witzig wie emotional mit alten TV-Clips, Fotocollagen, Animationen im Kreuzstich-Look und Shootings mit dem bekannten Model Tanya Ruban, die sich in populäre ukrainische Persönlichkeiten verwandelt. Veröffentlicht wurde der Film 2021 am Tag des bestickten Hemdes. Ja, so was gibt es in der Ukraine. Und wie wichtig dieser Tag ist, der immer auf den dritten Donnerstag im Mai fällt, zeigt die Tatsache, dass Wolodymyr Selenskyj sich dieses Jahr am 21. Mai in einem militärisch angehauchten Trachtenhemd der Marke Etnodim vor der Kamera präsentierte.
Ukraine: Wegweisend beim E-Government
Das Traditionsbewusstsein der Ukrainer:innen steht ihrem Innovationsgeist keinesfalls im Weg, im Gegenteil: Bei der digitalen Erneuerung ist das Land ganz weit vorn. Nach dem Motto »Staat im Smartphone« macht die App Diia seit zwei Jahren die Behördenkommunikation zentral und so bequem wie möglich zugänglich. So erkannte die Ukraine als erstes Land der Welt digitale Personalausweise an. Aber auch Führerschein, Geburtsurkunde, Studierendenausweis, Autoanmeldung und viele andere bürokratische Verfahren lassen sich über die App (und die Plattform diia.gov.ua) verwalten.
Dass man nicht nur alte, umständliche Formulare ins Netz übertrug, sondern die Interaktion mit den Behörden ganz neu aufsetzt, macht Mychajlo Fedorow möglich. Der Minister für digitale Transformation war bei der Ernennung 2019 gerade mal 28 Jahre jung. Seither arbeitet er an der ständigen Erweiterung der App – und an Diia.City. Am 8. Februar, kurz vor Kriegsbeginn, wurde das Projekt in Kiew auf dem großen Diia Summit vorgestellt. Viele Unternehmer und die halbe Regierung waren dabei. Präsident Selenskyj erklärte in der Eröffnungsrede, wie das Diia.City-Framework mit radikalen Steuererleichterungen und einer besonderen Gesetzgebung die Ukraine zu einem führenden Tech-Hub machen und Unternehmen und Expert:innen aus dem Ausland anlocken soll. Beziehungsweise sollte, denn jetzt mussten eher erst mal einheimische Talente das Land verlassen. Das Geld, mit dem der Staat zum wichtigsten Angel Investor werden wollte, wird anderweitig gebraucht.
App Diia: Die Agentur dahinter
Teils geflüchtet oder beim Militär sind ebenfalls die Mitarbeiter der Kiewer Marketingagentur Fedoriv, die übrigens auch Büros in Berlin und den USA hat. Sie konzipierte Markenstrategie und Look der Diia-App und übernahm das extrem umfangreiche Projektmanagement mit den Behörden. Für UX und UI Design sorgte Studio Spiilka. Es gelang das Kunststück, die Anwendung radikal simpel und zugleich attraktiv zu gestalten, was 2020 zwei Red Dots und jüngst zwei Auszeichnungen bei den D&AD Awards einbrachte. Den Look prägen pastellige Verläufe sowie der Font e-Ukraine von Dmytro Rastvortsev. Die Schrift greift die grafische Kultur der Ukraine des frühen 20. Jahrhunderts auf, die ihrerseits vom sogenannten ukrainischen Barock beeinflusst ist.
Für Diia.City kreierte Fedoriv eine eigene Marke, die auf dem Design der Behörden-App basiert – dieselbe Schrift, minimal abgewandeltes Logo. Die Verläufe fließen hier jedoch in ein animiertes, per Code generiertes Wellenmuster ein. Intensität und Geschwindigkeit der Wellen treten je nach Bedarf aufmerksamkeitsstark in den Vordergrund oder dezent zurück. Die Anwender:innen können die Muster mit dem Webtool cables.gl selbst generieren.
»Wenn du den Krieg erwähnst, beschreibe ihn als schrecklich, aber nicht als etwas, das unseren Mut sinken lässt«
Alina Bozhniuk, Projektmanagerin bei Fedoriv
Im Moment hat das Land andere Prioritäten als Diia.City. Die Diia-App dagegen erweist sich im Krieg als äußerst hilfreich. Menschen, die durch Bomben ihr Zuhause verlieren, erhalten darüber finanzielle Unterstützung. Mit der neuen »E-Enemy«-Funktion können die Bürger:innen die Positionen russischer Truppen melden, aber auch mögliche Kriegsverbrechen. Alina Bozhniuk, Projektmanagerin bei Fedoriv, schrieb mir: »Wer von uns an einem relativ sicheren Ort ist, arbeitet jetzt sogar noch intensiver als zuvor. Trotz Bombenalarm sind wir weiter kreativ, helfen, wo wir können, weil wir tapfer und stark sind ☺. Wenn du den Krieg erwähnst, beschreibe ihn als schrecklich, aber nicht als etwas, das unseren Mut sinken lässt.«
Wie ukrainische Kreative ihre Städte mit Schriften feiern
Die Erkundung der regionalen Identität hat auffallend viele Designer:innen zu typografischen Recherchen inspiriert – und diverse Städte-Fonts hervorgebracht. Hier einige Beispiele.
Grafikdesignerin Katerina Korolevtseva hat beim Entwurf der Misto (das ukrainische Wort für »Stadt«) die eigenwillige postmoderne Architektur von Slavutych aufgegriffen. Als sie dort geboren wurde, war die Stadt erst zweieinhalb Jahre alt – man hatte sie 1986 in Rekordzeit für Menschen aus dem Boden gestampft, die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl heimatlos waren. Mehr Infos und ein Download-Link zu dem in Kyrillisch und Lateinisch vorliegenden Free Font unter https://korolevtseva.com/mistofont.
Zum 35. Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl kam der Font auch in einer Kunstinstallation in Slavutych zum Einsatz: einer Uhr, die für immer auf dem Zeitpunkt der Explosion stehen geblieben ist. Inzwischen hat die Designerin aus der Misto auch eine Ukraine-Solidaritätsbotschaft in Form eines Instagram-Filters erstellt – siehe @katerintseva.
Die junge Gestalterin Katya Drozd ist zwar in der Stadt Bachmut im Donezk geboren, sieht aber Charkiw als ihr Zuhause und hat dort an der Staatlichen Akademie für Design und Kunst studiert. Währenddessen erkundete sie die Stadt sowohl mit dem Skizzenbuch als auch mit der Kamera. Architektonische Formen, alte Beschilderungen und Graffiti inspirierten dann ihren Font Kharkiv Tone, der sich über Behance kostenlos herunterladen lässt (https://is.gd/KharkivTone). Ob Katya Drozd noch in der immer wieder heftig bombardierten Stadt ist, wissen wir nicht. Momentan konnten wir keinen Kontakt aufnehmen.
In vielen Schnitten von minimalistisch bis expressiv sowie als variabler Font liegt die Kyiv Type Superfamily von Dmytro Rastvortsev vor. Der bekannteste ukrainische Typedesigner hat schon viele internationale Preise gewonnen und gestaltete sie im Auftrag der Agenturen Banda und Bulanov büro für ein Erscheinungsbild der Stadt Kiew. Sie steht ebenfalls frei zur Verfügung. Variationen der Kyiv Type sind jetzt bei vielen Kommunikationsprojekten zu sehen, die als Reaktion auf den Krieg gegen die Ukraine entstehen. Als Gestalter einer weiteren wichtigen Schrift wird uns Rastvortsev gleich noch einmal begegnen.
Dieser Artikel ist erstmals in PAGE 9.2022 erschienen: