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Kreative Maschinen?

Unser Kolumnist Jürgen Siebert blickt in die Zukunft des Designs (und der Designtools) …

© Norman Posselt | www.normanposselt.com

Die fundamentalen Treiber der Industriegeschichte sind technische Innovationen: Dampfmaschine, Elektrizität, Computer, Internet … Was kommt als Nächstes? Künstliche Intelligenz. Über sie wird seit Jahrzehnten gesprochen, was auch ein Grund dafür ist, dass man heute eher von »Machine Learning« spricht. Gemeint ist die Leistungssteigerung digitaler Prozesse – zum Beispiel das Erkennen eines Gesichts in einem Foto –, ohne die Gesetzmäßigkeiten dahinter komplett zu verstehen. Stattdessen füttert man eine Maschine mit Tausenden Beispielen, aus denen sie Muster herausliest, um daraus Spielregeln abzuleiten, die schließlich richtige Lösungen liefern.

Zwei vertraute Mechanismen, die sich durch das maschinelle Lernen enorm entwickelt haben, sind die Sprach- und Bilderkennung. Sprachgesteuerte Assistenten wie Alexa oder Siri sind längst noch nicht perfekt, aber sie leisten tagtäglich Millionen von Menschen wertvolle Dienste. Bei der Bildanalyse sieht es ähnlich aus. Jüngst kursierte ein Rätsel im Netz: 4 mal 4 Fotos, auf denen entweder ein Hundewelpe mit Knopfaugen zu sehen war oder ein Muffin mit Rosinen … bisweilen zum Verwechseln ähnlich. Im Jahr 2010 betrug die Fehlerquote bei der maschinellen Erkennung 30 Prozent, seit diesem Jahr liegt sie unter 3 Prozent und damit ist sie sicherer als das menschliche Auge (5 Prozent).

Machine Learning bringt uns aus zwei Gründen weiter. Zum einen imitiert es Spitzenleistungen unseres Gehirns, deren Mechanismus wir wahrscheinlich nie ganz entschlüsseln werden. Zum Beispiel das Erkennen menschlicher Stimmen. Möglicherweise gibt es dafür gar keine physiologische Formel. Vielleicht lernen wir das genauso wie die Maschinen: Indem wir schon als Kleinkind mit verschiedenen Stimmen bombardiert werden, was unsere Unterscheidungskraft ständig verbessert. Zum anderen lernen die heutigen Machine-Learning-Systeme enorm schnell. Diese Fähigkeit kommt schon jetzt vielen Disziplinen wie der Medizin, Kriminalistik, dem Verkehrswesen und bald auch dem Design zugute.

Wie kann nun die Gestaltung vom Machine Learning profitieren? Voraussetzung wäre ein kompletter Umbau der Designsoftware. Maschinen lernen an Beispielen und nicht über Regeln. In den vergangenen fünfzig Jahren wurden die Tools so entwickelt, dass sie bestehendes Wissen und reale Prozesse nachbildeten. Die Grenzen dieser Methode: Einen Großteil unserer Handgriffe erledigen wir intuitiv, ohne die Prozesse dahinter zu verstehen, also lassen sie sich auch nicht programmieren. Wir wissen mehr, als wir beschreiben können. Dieses Phänomen hat einen Namen: Polanyis Paradoxon, benannt nach dem in Ungarn geborenen britischen Philosophen Michael Polanyi.

Wie sieht der Designprozess der Zukunft aus? Ich sage einfach: »Starte das Projekt Geschäftsausstattung für eine Anwaltskanzlei!« Statt mich mit Papierformaten, Hilfslinien und endlosen Menüs für Schriften und Farben quälen zu müssen, diktiere ich den zu platzierenden Text … und binnen weniger Sekunden werden mir leicht zu modifizierende Gestaltungsvorschläge unterbreitet, auf der Basis von Tausenden professioneller Beispiele, mit denen die Software gefüttert wurde.

Dank derartiger Designtools steht bald jeder Schöpfer auf den Schultern seiner Helden. Bevor man die eigene Kreativität walten lässt, sind die Basisarbeiten bereits erledigt: Passende Schriften, Farben, Layouts und Formate sind definiert. Man muss keine Konkurrenzanalyse mehr durchführen, keine inspirierenden Jahrbücher durchblättern, ja selbst das technische Feintuning – Schriftgröße, Zeilenabstand, Laufweite – ist längst in der Software verankert, denn hier greifen typografische Regeln, die sich seit Jahrzehnten kaum verändert haben.

Unser Auge für Qualität – ein Talent, das Maschinen nicht so schnell erlernen werden.

Doch was bleibt zu tun für den Designer? Jede Menge schöner, wichtiger Aufgaben. Zum Beispiel kann er entscheiden, den vorgeschlagenen Beispielen zu widersprechen. Die Regeln brechen. Alles ganz anders machen. Was dabei immer gefragt sein wird – und tatsächlich wird uns dabei keine Maschine helfen –, das ist das Auge für Qualität. Auch so ein Werkzeug, dessen Funktion wohl keine Maschine übernehmen kann. Picasso hat es so formuliert: Computer sind witzlos, weil sie nur Antworten geben.

 

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