So funktioniert Typo für AR- und VR-Anwendungen
Noch wird Typografie in VR und AR vernachlässigt. Schließlich müssen Schriften ganz andere Anforderungen erfüllen, um in digitalen 3D-Welten zu funktionieren. Rund um den Globus aber arbeiten Kreative unterschiedlichster Disziplinen daran, Schrift fit für die dritte Dimension zu machen.
Wir stellen Experimente und erste Konzepte vor
Für Johannes Breyer, der zusammen mit Fabian Harb die Schweizer Foundry Dinamo betreibt, eignen sich grundsätzlich alle Schriften für virtuelle Umgebungen. »Man kann 2D-Fonts einbauen, auch wenn sie flach und haptisch unspektakulär auftreten. Damit sich das Eintauchen in die VR-Anwendung nicht als Enttäuschung entpuppt, sollten darin große, kleine, tiefe, aufregende, voluminöse, animierte und beseelte Buchstaben auf einen warten.«
Text in AR: Hintergrund als Unbekannte
In AR sind die Probleme etwas andere: Sie resultieren nicht in erster Linie aus den Verformungen und der niedrigen Auflösung, sondern ergeben sich vor allem aus dem visuellen Kontext. Nutzen wir unser Smartphone, bestimmt zum einen die Qualität der Kamera, was wir sehen, zum anderen der reale Hintergrund. Richten wir die Linse auf eine weiße Wand und die Schrift ist ebenfalls weiß, war es das mit der Lesbarkeit. Die Lösung besteht in der Regel darin, den Text ins Interface zu setzen. »Beim AR-Game ›Beat the Beans‹ für die Tiefkühlpizzamarke Gustavo Gusto etwa findet sich die gesamte Erklärung im 2D-Interface des Games. Erst wenn es startet, gehen die Spielenden in die 3D-Welt, und dort braucht es dann keine Worte mehr«, so Julian Weiss. »In AR sollte man Text im Raum nur platzieren, wenn es dafür sehr stichhaltige Gründe gibt.«
Games oder die beliebten Face-Filter kommen tatsächlich meist ohne Schrift aus. Längst werden AR, VR oder Mixed Reality aber auch in Bereichen wie der Medizin oder Autoindustrie eingesetzt. Der durch die Pandemie verstärkte Remote-Work-Trend beschleunigt die Durchsetzung dieser Technologien noch einmal. So gibt es eine ganze Reihe sogenannter Telepräsenz-Apps, die in Videokonferenzen für Nähe sorgen sollen. Mithilfe einer VR- oder AR-Brille kann man sich im selben virtuellen Raum aufhalten wie die anderen aus dem Team und dort mit ihnen zusammenarbeiten – eine nette Abwechslung zur Gesichtergalerie in Zoom oder Teams. In solchen Szenarien spielt die Darstellung von Textinformationen eine wichtige Rolle. Höchste Zeit also, sich Gedanken über Lesbarkeit zu machen.
AR-Typo auf Basis von Variable Fonts
Schon 2017, während seines Typeface-Design-Masterstudiums an der University of Reading, begann Niteesh Yadav, ins Thema AR Typography einzutauchen. Herkömmliche Größensortierungen wie Display-, Body- und Reference-Text würden in virtuellen Umgebungen nicht funktionieren, so der Produkt- und Typedesigner aus dem indischen Dehradun. »Um in 3D-Welten Lesbarkeit zu gewährleisten, muss man Position und Blickwinkel der Nutzenden ebenso berücksichtigen wie die Frage, ob sie sich bewegen oder nicht.«
Er plädiert deshalb für eine Einteilung in drei Zonen, die User:innen auch in AR umgeben: die Head-up-Anzeige, die wie die Statusleiste eines Telefons ständig zu sehen ist, den UI-Bereich etwa für längere Infotexte sowie die Umgebung in der 3D-Welt selbst. Was die Fonttechnologie angeht, seien AR-Anwendungen in den 90er-Jahren stehen geblieben, meint Niteesh Yadav, der die Zukunft in variablen Fonts sieht. »Mit ihrer nahezu unendlichen Anzahl an Variationen eignen sie sich für reaktionsschnellen Text, der auf Umgebungsbeleuchtung, Bewegungen und Betrachtungswinkel der User reagieren kann. Dies wird wesentlicher Bestandteil der AR-Typografie sein.«
Der Typedesigner machte sich dann auch gleich an die Entwicklung einer für AR geeigneten Schrift. ARone heißt sie und bietet mit ihrem geringen Kontrast, dem großzügigen Spacing und den robusten Formen sehr gute Lesbarkeit im 3D-Raum. Das Design basiert auf Recherchen und gründlichen Tests mit verschiedenen Devices, von High-End-Headsets bis hin zu Geräten mit niedriger Auflösung für Smartphones.
Adaptive Fonts reagieren auf die Umgebung
Die Typografie hat den Sprung von digital zu virtuell noch nicht vollzogen, meint Laura Hernandez, Immersive Designer und Art Director in Barcelona. »Die Bildschirme der VR- oder MR-Devices haben immer noch Probleme mit den reduzierten Pixeln und mit den Verformungen, die bei einer 360-Grad-Sicht auftreten«, sagt sie. VR-Umgebungen seien standardmäßig sphärisch, und das führe zu Biegungen der flachen Textelemente. »Stellen Sie sich vor, Sie umwickeln einen Ball mit einer Zeitung. Durch das Knittern des Papiers gehen einige Buchstaben verloren. Und das kann auch passieren, wenn wir Buchstaben wie etwa das I nur einen Pixel breit anlegen.« Diese Überlegungen seien mindestens so wichtig wie die zu Schriftfarbe, -kontrast oder -größe.
Ebenfalls berücksichtigen muss man die Kameraführung in den VR-Anwendungen. »So wie die Schriften im Straßenverkehr an die Fahrtrichtung, Geschwindigkeit und Perspektive des Autofahrenden angepasst – und deshalb lang gezogen – werden, müssen sich auch die Buchstaben und deren Proportionen innerhalb der Virtual-Reality-Welt an die Kamerafahrten anpassen«, erklärt Johannes Breyer von Dinamo.
Vielleicht unterstützen ja künftig mit künstlicher Intelligenz verknüpfte Schriften Kreative bei ihrer Arbeit: »Bei AR-Anwendungen etwa könnte KI die Farbigkeit des realen Hintergrunds erkennen und die Farbe der Schrift so verändern, dass ein gut lesbarer Kontrast entsteht«, meint Laura Hernandez. Auch im Hinblick auf Licht und Perspektive ließen sich solche Fonts entsprechend anpassen. »Ich nenne sie ›Adaptive Fonts‹ – sie sind hoffentlich der nächste Schritt, die Weiterentwicklung von Variable Fonts.«
Typo für AR uns VR: Mehr als Light, Regular und Bold
Auch Ksenya Samarskaya aus Lissabon, Gründerin der Agentur Samarskaya & Partners, forscht zu AR- und VR-Typografie, gemeinsam mit Juneza Niyazi, einer Studentin aus ihrem Kurs »Typography: Reading & Looking«. In den Experimenten der beiden geht es zum Beispiel um Bewegung und Distanz: Die Größe der Buchstaben reagiert darauf, wie weit entfernt die Betrachtenden sind (mehr dazu unter https://is.gd/VR_typography). »Es ist nicht optimal, wenn der Text sich zu viel bewegt, dann ist es nicht möglich, die Worte zu lesen, denn dieser Prozess erfordert eine Bewegung der Augen über den Text«, so Ksenya Samarskaya.
Ein anderes Projekt beschäftigte sich mit Veränderungen durch viel oder wenig Lichteinfall, und in einem dritten ging es um die Modifikation von Buchstaben durch mehr oder weniger starkes Anschrägen der Kanten. »Diese Versuche zeigten deutlich, dass Typo in einer virtuellen Umgebung nicht nur aus Light, Regular oder Bold bestehen kann«, so Juneza Niyazi. »Schriftfamilien sollten mehr Variationen aufweisen, die auf Licht, Reflexion und relativer Position der User:innen im Raum basieren.« Momentan arbeiten die beiden Designerinnen an der Weiterentwicklung der Experimente zu anwendbaren 3D-Schriften für die Allgemeinheit.
Schöne Headline-Welten für AR- und VR-Projekte
Fernab von Lesbarkeit gibt es freiere, künstlerische AR- und VR-Projekte, die Schrift vor allem als visuelles Element einsetzen. Für die Foundry Dinamo etwa muss Schrift auch Spaß machen. »Typo im 3D-Raum darf experimentell und eine Einladung sein, irgendwie schräg und ein bisschen verwirrend, sodass ich mich ihr nähern und genauer darauf eingehen kann«, so Johannes Breyer. Interaktion sei wichtig. »Will ich auf den Buchstaben herumspringen, darunter hindurchkriechen, ein Stückchen davon abbeißen oder sie neu anordnen? Die Schrift sollte mich dazu auffordern oder provozieren.«
Allerdings handelt es sich bei solchen Schriften nicht um Fonts im technischen Sinne, sondern um 3D-Objekte in Form von Buchstaben. Der Berliner Gestalter Manuel Rossner, der einen Schwerpunkt auf die Verbindung von Virtual Reality mit Kunst legt und sich bestens mit Typografie auskennt, entwickelte zusammen mit Dinamo aus der Serifenlosen Monument Grotesk die dreidimensionale HT Standard (siehe PAGE 11.19, Seite 70 ff.) und verkauft sie über sein Label Hightype. »Echte 3D-Schriften, die man über die Tastatur tippen kann, gibt es meines Wissens nicht«, sagt er und weiß gar nicht, ob es sie überhaupt braucht. »Da die Lettern eigentlich nur für Headlines eingesetzt werden, glaube ich nicht, dass es viel Zeit spart, wenn man sie nicht einzeln positionieren müsste.«
Ksenya Samarskaya gibt allerdings zu bedenken, dass 3D-Schriften ja nicht nur in virtuellen Welten, sondern auch in Signage, Hologrammen oder 3D-Printings angewendet werden könnten. Und dann wären echte Fonts schon von Vorteil. »Ich arbeite an einigen 3D-Schriften, könnte sie zurzeit aber nur als 3D-Objekte anbieten, Kerning oder Spacing sind da nicht möglich. Für alles, was über eine Headline hinausgeht, ist das nicht effizient. Wir brauchen unbedingt neue Typedesignsoftware für 3D-Fonts.«
Typedesign und Development im engen Dialog
Neben neuen Werkzeugen braucht es vor allem eine neue Art des Zusammenspiels, das Typedesign-Expertise von Anfang an in die VR-Entwicklung integriert. Momentan wohl eher ein Wunschtraum. »Ich denke nicht, dass Typografie in den meisten VR-Produktionen ein solches Gewicht hat, um eine eigene Position zu rechtfertigen«, sagt Julian Weiss von headraft. »In unserem Workflow legen die Creative Technologists auf Basis des UX Designs die Texte an und stimmen sich im Gestaltungsprozess eng mit dem Visual-Design-Team ab. Im Zweifel werden sie aber immer eher auf die Lesbarkeit als auf gutes Aussehen pochen.« Allerdings sieht Julian Weiss durchaus ein begrüßenswertes Verschwimmen der Kompetenzfelder, Designer eigneten sich mehr technisches Know-how an, Developerinnen beschäftigten sich außerdem mit Typografie. »Solche diversen Talente mit einem breiten Skillset werden in Zukunft zunehmend gefragt sein«, ist der Creative Director überzeugt.
Auch Johannes Breyer wünscht sich für Virtual-Design-Projekte von Anfang an einen steten Dialog zwischen allen Beteiligten. »So kann eine virtuelle Welt aus sich heraus entstehen und die volle Power entfalten.« Die Entwicklung der 3D-Schrift HT Standard zusammen mit Manuel Rossner sieht er als gelungenes Beispiel: »Manuel bringt eine tolle Affinität zu Schrift mit und zugleich die Neugierde, sich mit uns Typedesignern direkt auszutauschen. Man sieht seinen Installationen an, dass sie ganzheitlich konzipiert und nicht nur aus Einzelteilen zusammengebastelt sind.« Eine enge Zusammenarbeit zwischen Design und Development, neue Werkzeuge für die 3D-Font-Entwicklung und intelligente Schriften: So kann es etwas werden mit der schönen, neuen virtuellen Schriftenwelt.
Hilfreiche Links zum Thema Typo in VR- und AR-Anwendungen
- Zehn Regeln für den Einsatz von Fonts in VR-Anwendungen hat der Designer Vova Kurbatov zusammengestellt.
- Sechs Schriften, die auch unter den besonderen Bedingungen von AR-und VR-Anwendungen gut lesbar sind, präsentiert Monotype.
- »Making-of: Vom 2D- zum 3D-Font«. Wie Manual Rossner und Dinamo die 3D-Schrift HT Standard realisierten, lesen Sie in PAGE 11.19
- Top-Schriften fürs UI Design und Coding. Welche Eigenschaften ein Font fürs Digital Design mitbringen muss, erklären wir in PAGE 03.20
Dieser Artikel ist in PAGE 6.2021 erschienen, die Sie hier kostenlos runterladen können.