Sachlich oder mit Blur-Effekt – die Schrift Neo Grotesk kann beides
Mit seiner Schriftfamilie Neo Grotesk bietet Arne Freytag jede Menge Gestaltungsmöglichkeiten im futuristischen Stil. Wir sprachen mit Arne Freytag über den Gestaltungsprozess, Einsatzgebiete und Variable Fonts

»Die kleinen Texte, mit denen ich das Kerning teste, kann ich nur auf Papier beurteilen. Vielleicht oldschool, aber so kann ich es am besten.«
Während manche Schriftgestalter Fonts am laufenden Band produzieren, liegen bei dir Monate dazwischen. Woran liegt das?
Ich muss meine Zeit fürs Typedesign mit anderen Aufgaben teilen, mehr als eine Schrift pro Jahr zu produzieren ist einfach unrealistisch. Die Entwicklung und die Markteinführung ist immer eine Investition in die Zukunft, die zunächst unvergütet bleibt, anders als zum Beispiel bei Custom Fonts.
Was sind neben der Schriftgestaltung deine anderen Standbeine?
Ich stehe sozusagen auf drei Säulen: Typedesign, Unterricht an der IU Internationale Hochschule in Hamburg in den Fächern Corporate Design, Digitale Komposition und Typografie sowie die Arbeit als selbständiger Designer. Da ich zunächst Design und anschließend Typografie studiert habe, ist mein Blick auf die Schriftgestaltung nicht nur historisch oder technisch geprägt, sondern auch durch die Perspektive eines Designers, der sich von Schriften inspirieren lässt.
Mein Ziel ist es daher, Fonts zu entwerfen, die speziell auf die Bedürfnisse von Designern zugeschnitten sind – einschließlich solcher Schriftideen, nach denen ich selbst gesucht habe.

Wie bist du auf die Idee zur Neo Grotesk gekommen?
Das Leitmotiv dieser Schriftentwicklung war Visions of a better life. Sie sollte nicht nur eine funktionale Antwort auf typografische Anforderungen bieten, sondern auch eine künstlerische Vision von Verwandlung und Fortschritt verkörpern. Ein wesentlicher Ansatz war dabei die Planung einer dualen Display-Alternative. Der Kontrast zwischen der funktionalen Textschrift und der ausdrucksstarken Display-Variante sollte Designer:innen interessante Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen, besonders wenn sie ergänzend verschiedene Fettegrade kombinieren. Dieser gestalterische Reiz durch den Dualismus hat mich besonders motiviert.

Welches sind die charakteristischen Merkmale der beiden Fonts?
Neo Grotesk nimmt die charakteristische horizontale Wirkung der Helvetica auf. Gleichzeitig wollte ich eine weite, runde und offen gestaltete Formensprache einfließen lassen, um eine zeitgemäße Ästhetik und angenehme Lesbarkeit zu erzeugen. Eine kleine Besonderheit und gestalterische Freiheit ist die Form des großen und kleinen K, für die es aber auch stilistische Alternativen gibt.
Und die Display-Variante lockert die Strenge dann etwas auf?
Die Schrift sollte nicht nur funktional wirken, sondern durch die Display-Variante mit einem Blur-Effekt einen futuristischen Look erhalten. Die runderen Formen erzeugen ein weichgezeichnetes oder überbelichtetes Erscheinungsbild und sind eher experimentell als technisch präzise. Dabei habe ich die meisten Buchstaben nur innerhalb ihrer ursprünglichen, sachlichen Form modifiziert, während sich einige, wie das S, zu vollkommen neuen Gestalten transformieren.


Mit welchem Fonteditor arbeitest du?
Als Glyphs damals zum ersten Mal erschien, war das eine große Rolle vorwärts im Vergleich zu Fontographer oder FontLab. Zum Beispiel das Erstellen von Komponenten und das direkte Editieren von Buchstaben in Wortbildern waren richtig komfortable Gestaltungsmöglichkeiten. Im Laufe der Zeit gab es unzählige Neuerungen und Verbesserungen, die den Design- und Produktionsprozess enorm beschleunigt haben. Das war zu meiner Studienzeit so noch nicht möglich und erforderte viel mehr Zeit, Geduld und Papier.
Machst du erst Skizzen auf Papier oder legst du gleich digital los?
Das hängt stark von der jeweiligen Schrift ab. In diesem Fall, einer sachlich geometrischen Sans, habe ich gleich am Computer begonnen. Die digitalen Tools, die uns heute zur Verfügung stehen, können den Entwurfsprozess enorm beschleunigen. Hinzu kommt die inzwischen sehr hohe Auflösung der Monitore, wodurch sich auch kleine Details wie im Print beurteilen lassen.
Allerdings drucke ich alle Glyphen auch noch einmal vergrößert auf Papier aus. Das gibt mir eine andere Sichtweise, und hier mache ich dann analog mit dem Stift meine Korrekturen. Ebenso bei den kleinen Texten für das Kerning; das kann ich nur auf Papier beurteilen. Vielleicht oldschool, aber so kann ich es am besten. Schriftgestaltung wurde immer auch vom technischen Fortschritt beeinflusst, manchmal können technische Neuerungen sogar bestimmte Arten der Gestaltung vorgeben.

Das Kerning beurteilt Arne Freytag am liebsten auf Papier.
Wie zum Beispiel bei der Gestaltung von Variable Fonts?
Stimmt, denn da ich Neo Grotesk unbedingt auch als Variable Font anlegen wollte, gab es für die Display-Variante nur eingeschränkte Möglichkeiten. Technisch gesehen müssen alle Punkte und Anker in beiden Fonts die identische Anzahl und Pfadrichtung haben, und es muss auch in den Zwischenübergängen sauber und gewollt aussehen, das schränkt die Gestaltungsmöglichkeiten etwas ein und so bin ich ziemlich schnell auf diesen »Blur-Effekt« gekommen. Er ermöglicht es, einen Charakter zu erzeugen, der sich deutlich von der Standardvariante abhebt, ohne die Kohärenz der Schriftfamilie zu gefährden.
Die beiden Varianten lassen sich ja wunderbar kombinieren. Könnte man sie auch, wie bei einem Layerfont, übereinanderlegen?
Tatsächlich habe ich an einen Layerfont gar nicht gedacht, aber prinzipiell wäre das schön möglich, denn innerhalb der Stärken sind die Metriken ja gleich. Also wenn ich zum Beispiel Neo Grotesk Bold und Neo Grotesk Display Bold mixe, dann bleiben die Laufweiten identisch.
Welche Achsen hat der Variable Font? Verändert sich durch Reglerschieben die Form der Buchstaben von sachlich zu mehr Blur?
Richtig, es gibt die Designachse zwischen Neo Grotesk (sachlich) und Neo Grotesk Display (Blur). Und als zweite Achse die Gewichte von Thin bis Black, die man natürlich auch untereinander kombinieren kann.
Mit den Achsen Weight und Blur kann man im Variable Font Stärke und Stil nach Belieben einstellen.

Wer nicht so gern mit variablen Fonts arbeitet, kann die Schrift auch in der normalen OTF-Version als dualen Font mit allen Schnitten der Neo Grotesk und der Neo Grotesk Display-Varianten verwenden. Die variable Version ermöglicht den Anwender:innen, die Mischung von Gewichten und Stilen nach Belieben zu justieren. Diese Flexibilität soll zum Experimentieren einladen und bietet vielfältige Einsatzmöglichkeiten – sei es als reine Textschrift oder als kreatives Spielobjekt.
Gibt es eine Anwendung, in der du Neo Grotesk total gerne mal sehen würdest?
Sehr gerne auf einem großen Containerschiff oder im Trailer für einen futuristischen Film. Etwas realistischer ist wohl der Einsatz im Editorial-Bereich, das würde mich auch freuen.





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