
Open-Source-Denken im Typedesign
Schriftgestalter:innen sind bekannt dafür, ihr Wissen besonders großzügig zu teilen. Wir fragten sieben von ihnen, warum Sharing gerade in dieser Branche so wichtig ist, was sie wo bereitstellen – und was sie doch lieber für sich behalten
»Open Source ist kein Selbstzweck«
Rainer Erich Scheichelbauer stammt aus Wien und studierte Fotografie, Philosophie und Niederländisch. Seit 2012 gehört er zum Team des von Georg Seifert entwickelten Fonteditors Glyphs. Außerdem unterrichtet er Schriftgestaltung, schreibt Artikel und Python-Skripte und betreibt seit 2014 in Wien die Foundry Schriftlabor.
Open Source erleichtert den Austausch ungemein. Wichtige Teile von Glyphs sind gemeinfrei, etwa die eingebaute Glyphen-Datenbank, an der Leute von überall in der Welt mitgearbeitet haben. Eine Vielzahl der Plug-ins ist ebenfalls kostenlos und offen. So können sich viele Typedesigner:innen das Programmieren selbst beibringen und sich untereinander austauschen. Generell hat die Type-Community mit kostenlosen oder günstigen, jedenfalls offen zugänglichen Kursen, Anleitungen, Tutorials oder Erklärvideos im Internet eine große Lücke gefüllt: den Zugang zum Wissen, wie man Fonts macht. Das war in meiner Anfangszeit ganz anders, Schriftgestaltung war ein gildenartig organisiertes Geheimwissen und die wenigen Bücher, die es gab, waren sehr oberflächlich.
Open Source ist aber kein Selbstzweck. Am Ende muss es irgendeine Art der Monetarisierung geben. Das klingt vielleicht hart, aber Arbeit muss nun einmal bezahlt werden, sonst wird Schriftgestaltung zum Exklusivhobby für privilegierte weiße Buben in wenigen reichen Ländern. Irgendjemand muss die Rechnung bezahlen, egal, ob das Google ist oder jemand, der eine Lizenz für Software oder eine Schrift kauft. Deswegen machen wir Glyphs auch nicht vollständig gemeinfrei und verlangen Geld für die Lizenz. Ich denke, der Erfolg gibt uns recht.
»Der Sinn von Open Source in der Schriftentwicklung hat auch Grenzen«
Die Schweizerin Nina Stössinger studierte Multimedia Design an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle und anschließend CAS Schriftgestaltung an der Zürcher Hochschule der Künste. 2013 ging sie für den Master Type and Media nach Den Haag und blieb dort einige Zeit als selbstständige Designerin, bevor es sie 2016 nach New York zog. Seither arbeitet sie dort als Typedesignerin für die renommierte Foundry Frere-Jones Type. Außerdem lehrt sie Schriftgestaltung an der Yale School of Art.

Ich erlebe die Typedesign-Community als großzügig im Teilen von Wissen. In öffentlichen Foren wie früher Typophile und Typedrawers oder auch auf Twitter habe ich selbst viel gelernt und auch einiges weitergegeben. Ebenso bei persönlichen Treffen mit Kolleg:innen aus der Schriftgestaltung.
Ganz wichtig ist Open Source bei der Entwicklung von Skripten und Plug-ins. Auf Plattformen wie GitHub finden sich zahlreiche freie Skripte, mit denen sich die Funktionalität moderner Schrifteditoren erweitern und anpassen lässt. Ich habe zum Beispiel das Skript word-o-mat öffentlich bereitgestellt. Das ist ein RoboFont-Plug-in zum Testen von Schriften während des Designprozesses: Seit der Veröffentlichung haben auch andere Kolleg:innen zu seiner Weiterentwicklung beigetragen: So funktioniert word-o-mat nun auch in Glyphs (das ich persönlich nicht verwende) und unterstützt Sprachen, von denen ich nichts weiß. Das ist also eigentlich ganz klasse.
Aber das bedeutet alles auch Aufwand und braucht einen gewissen Idealismus – außerdem hat der Sinn von Open Source in der Schriftentwicklung auch Grenzen. Die Skripte, die ich für unser Team bei Frere-Jones Type entwickle, sind oft so präzise auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten und in unseren Prozessen verankert, dass eine Veröffentlichung weder sinnvoll noch wünschenswert wäre. Dazu kommt, dass man ein »öffentlichkeitstaugliches« Skript besser dokumentieren, mehr über Benutzerfreundlichkeit nachdenken sowie vor allem auch robuster testen muss, um Fehler zu vermeiden. Ich habe volles Verständnis dafür, dass komplexere Plug-ins dann halt manchmal Geld kosten – oder erst gar nicht öffentlich geteilt werden.
»Wissen zu teilen, erweitert das Netzwerk«
Promphan Suksumek, genannt Boom, stammt aus Bangkok und machte dort ihren Bachelor in Communication Design. Es folgte das Masterstudium an der Basel School of Design. Nach drei Jahren bei der Designagentur und Foundry Cadson Demak in Bangkok absolvierte sie den Master Type and Media an der KABK in Den Haag. Seit ihrem Abschluss 2022 lebt sie dort als selbstständige Typedesignerin. Ihren ersten Font Crushual, der sowohl das lateinische als auch das thailändische Schriftsystem unterstützt, hat sie soeben bei FutureFonts veröffentlicht.
Ich würde gerne Wissen teilen, aber bislang habe ich erst Grundkenntnisse und damit noch nicht viel, was ich weitergeben kann. Aber ich lerne quasi jeden Tag etwas Neues, weil so viele andere Typo-Interessierte ihr Know-how teilen. Zum Beispiel auf typo.social bei Mastodon. Für visuellen Input schaue ich mich auf Instagram um, etwa mit den Hashtags #typefaces, #comtemporarytype oder auch #tomorrow_featured.
Als ich vor einigen Jahren anfing, mich für Schriftgestaltung zu interessieren, habe ich an verschiedenen Konferenzen teilgenommen, um möglichst viel auf einmal mitzubekommen. Seit der Pandemie ist das durch die vielen Onlineangebote noch einfacher geworden: Auf YouTube oder Vimeo kann man sich den ATypI-Channel oder die Herb Lubalin Lecture Series von Type@Cooper anschauen, für Technisches eignet sich Robothon, und häufig sehe ich mich auch auf der Glyphs- oder der RoboFont-Website um. Gerade in den Foren werden oft Fragen gestellt und beantwortet, die man selbst auch hat. Und wer praktisch üben will, kann an Workshops teilnehmen, etwa beim Letterform Archive oder bei Type@Cooper, dem Typedesign-Programm des New Yorker Colleges The Cooper Union.
Einige Typedesigner:innen oder Foundries beschreiben ihren Designprozess – das ist natürlich Teil ihres Marketings und deshalb mit etwas Vorsicht zu genießen. Aber ich lese das sehr gerne und lerne von Zeit zu Zeit auch etwas Neues. Und wer weiß, vielleicht kann ich bald ein wenig Wissen über thailändische Schriften teilen und so auch mein Netzwerk erweitern.
»Teilen bringt Infos ans Licht, die sonst vielleicht im Dunkeln geblieben wären«
Nick Sherman aus Brooklyn ist in der Type-Community äußerst aktiv. So ist der Absolvent des Type@Cooper Extended Program Typeface Design als Kreativdirektor des Designfestivals Typographics für Gestaltung und Development der Festival-Website verantwortlich. Nach Stationen bei Font Bureau, Type Network und MyFonts entwickelt Nick Sherman heute in seinem eigenen Unternehmen HEX Projects Fonts und Websites.
Typedesign ist eine Nische – entsprechend ist es schwieriger, hier gute Infos und Quellen zu finden, und besonders wichtig, Wissen offen zu teilen. Oft hilft das allen in der Branche, denn es regt zu Diskussionen über Themen an, die sonst vielleicht nie angesprochen worden wären. Ich selbst teile gerne Dinge, von denen ich denke, dass sie andere auch interessieren könnten. Auf Flickr poste ich Fotos von allem Möglichen: von interessanten Schildern, über Schriftmuster und Gullideckel bis zu Pizza. Auf Letterboxd tausche ich mich über Filme aus, auf LibraryThing sammle ich spannende Typo-Bücher und auf https://v-fonts.com/ zeige ich wie viele andere auch meine Variable Fonts.
Darüber hinaus bin ich Mitgründer und Designer der Fonts-In-Use-Website, die wir für den Austausch von tollen Schriftbeispielen erstellt haben. Neben dem schönen Community-Aspekt bedeutet das Schreiben über eine Gestaltung Recherche – und das macht mich zu einem besseren Designer. Auf Mastodon teile ich kurze Notizen zu Dingen, die mehr Anerkennung verdienen . Nicht so gerne veröffentliche ich Informationen über laufende Projekte, mit denen ich vielleicht noch nicht hundertprozentig zufrieden bin. Aber ich trainiere das! Zum Beispiel indem ich jetzt öfter meine Work-in-progress-Fonts auf der Website meiner Foundry HEX Projects zeige – und einige sind dann auch schon vor der endgültigen Fertigstellung über die Plattform FutureFonts lizenzierbar.
»Den direkten Austausch suchen«
Schon während ihres Studiums an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel beschäftigte Lisa Fischbach sich intensiv mit Typografie. Um diesem Interesse weiter nachzugehen, ging sie an die University of Reading und schloss dort 2014 ihren Master Typeface Design ab. Heute gestaltet Lisa Fischbach als TypeMates-Partnerin Retail und Custom Fonts und unterrichtet Typografie und Schriftentwurf an der FH Münster.

Ich schätze das Teilen von Wissen und die Diskussion über Typedesign sehr – allerdings eher persönlich als über Social Media oder in Designforen. Warum? Weil die persönliche Komponente im direkten Austausch stärker ist. Die Kommunikation ist zielgerichteter und die jeweiligen Antworten werden nicht gleich auf die Goldwaage gelegt oder im falschen Kontext gefunden.
Mir bringt es Spaß, Wissen und Erfahrungen zu teilen. Zum Beispiel als Mentorin beim Alphabettes Mentorship Program oder als Lehrbeauftragte für Schriftgestaltung an der FH Münster. Dadurch sowie durch meine Arbeit bei TypeMates erreichen mich immer mal wieder Fragen zu Projekten, zur Selbstständigkeit oder zu konkreten Designentscheidungen.
Ich selbst kann mich mit Fragen zuverlässig an meine Kolleg:innen wenden, Designentscheidungen oder Pläne diskutieren und dazu Feedback bekommen. Die Personen sind allerdings meist mir Vertraute, die ich dann explizit zu bestimmten Themen anspreche. Dieses Netzwerk an Kontakten ist durch meine Zeit an den Unis in Reading und Kiel und Typo-Konferenzen wie ATypI oder Fure entstanden sowie durch Typostammtische und Coworking-Spaces in verschiedenen Städten. Meine eigenen Schriftdesigns teile ich erst ab einem bestimmten Punkt, an dem ich selbst mit dem Feedback gut umgehen kann und es mich nicht mehr zu sehr verunsichert.
Wir TypeMates reden immer gerne über unsere Passion und profitieren auch vom regelmäßigen Austausch mit anderen. Wir haben also durchweg positive Erfahrungen damit gemacht, über Foundry-Themen oder Schriften mit der Type-Community zu reden – ein Dank an dieser Stelle! Daher ist meine Empfehlung, neben den Foren und Online-Recherchen, auch Möglichkeiten zu finden, um direkt zu kommunizieren.
»Neue Türen öffnen«
Roel Nieskens arbeitet seit Anfang des Jahres als selbstständiger Font- und Frontend-Developer im niederländischen Nederweert. Mit der Entwicklung von Websites hat er schon in den 1990ern begonnen. Bei seinen ersten Versuchen, Schrift-Bugs zu beheben, entwickelte er sich zum Typo-Nerd. Ob OpenType-Features im Web oder Variable Fonts – der Font-Hacker und »Color Font Guy« ist bei neuen Entwicklungen stets vorne mit dabei.
Als ich vor gut zehn Jahren anfing, mich mit Typografie zu beschäftigen, war ich überrascht, wie schwer es war, herauszufinden, was genau ich beim Schriftentwurf tun muss. Welche Eigenschaften sollte mein Font haben? Wie und wo lässt er sich verwenden? Funktioniert die Schrift in allen Umgebungen? Was ich über Typografie weiß, habe ich vor allem von Menschen gelernt, die ihr Wissen selbstlos teilten – in Artikeln, mit Tools oder Antworten auf Fragen in Social Media. Wenn sich jemand nur ein paar Minuten Zeit nimmt, um allen anderen etwas Cooles zu zeigen – einen Trick, einen Hack, einen Hinweis – kann sich eine ganz erstaunliche Welt öffnen.
Als Computer-Nerd der alten Schule habe ich von Menschen profitiert, die ihr Wissen zu einer Zeit weitergaben, als Informationen noch schwer zu bekommen waren. Für mich fühlt es sich absolut natürlich an, etwas zurückzugeben und zu teilen, was ich entwickle. Ich versuche, mich von geschlossenen Plattformen und Medien im Besitz großer Unternehmen fernzuhalten, also stelle ich Dinge auf meiner Website bereit oder entwickle Open-Source-Tools, die jeder verwenden kann und die man meist auf GitHub findet. Ich hoffe, dass dies irgendjemandem den Tag versüßt oder ihm vielleicht sogar die Tür zu einer erstaunlichen neuen Welt öffnet.
Dieser Artikel ist in PAGE 04.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.