Making-Of Scriptfont Scribo – intelligent, schön und dynamisch
Scribo – das sind 15 schöne, intelligente Scriptfonts und eine dynamische Variante, in die der Prozess des Schreibens eingebaut ist. Eine technische und gestalterische Innovation der Foundry Underware.
Ein eigenes Toolkit statt Fonteditor
Die Idee von Underware war es, die Dynamik beziehungsweise die Dimension Zeit in die Fontdatei zu integrieren. Konkret bedeutet das, den Fluss der Tinte darstellen und wie lange es dauert, einen bestimmten Buchstaben zu schreiben, und wie viel Zeit es vom Ende eines Strichs bis zum Beginn des nächsten braucht. Das Problem bei dynamischen Fonts: Sie sind unerforschtes Terrain. »Klassische Fonteditoren wie Glyphs funktionieren da nicht mehr, es braucht ein eigenes Toolkit«, so Akiem Helmling.
Das Underware-System besteht aus drei sogenannten Schemata, mit denen sich im Gestaltungsprozess Vorschauen der Dynamiken anzeigen lassen, um das Design zu kontrollieren. Das Schema Zebra zeigt, wie sich die Geschwindigkeit des Schreibens während des Schreibprozesses verändert. Gradient kontrolliert die korrekte Strichfolge und bei X-Ray geht es um die Eigenzeit – ein Begriff aus Einsteins Relativitätstheorie.
Damit gemeint ist die Beschleunigung im Schreibprozess, die unabhängig von den jeweils Schreibenden ist. Setzt man zum Beispiel die Spitze eines Filzstifts oder Füllers auf ein Papiertaschentuch, kann man einen Punkt sehen, der mit der Zeit größer wird. Diese Bewegung wird nicht von der oder dem Schreibenden selbst verursacht, sondern durch das Material. »Mit unserem System können wir das Schreiben selbst kontrollieren«, sagt Bas Jacobs.
Neue Einheiten Line und EMPA
Unterschiedliche Schriften lassen sich nur schwer in genau der gleichen Geschwindigkeit schreiben, denn manche haben komplexere Buchstaben als andere. Um Vergleichbarkeit zu schaffen, definierte Underware für die Entwicklung der Scribo Write eine neue Einheit für die Geschwindigkeit im Verhältnis zur Maßeinheit Geviert (em): Line heißt die Einheit, die die geschriebenen em pro Sekunde angibt.
»Normalerweise schreibt man in einer Minute vierzig Buchstaben, benötigt also anderthalb Sekunden für jeden«, erklärt Bas Jacobs. »Und da ein Buchstabe nach unseren Berechnungen durchschnittlich anderthalb em Schreibweg hat, entspricht 1 Line einer normalen Schreibgeschwindigkeit. Die Formel lautet: 1.5 em geteilt durch 1.5 Seconds = 1 Line.«
Die Maßeinheit em nutzten die Typedesigner auch, um die Länge der Animationsachse zu bestimmen. Underware definierte dafür die Einheit EMPA – em per axis. EMPA ist notwendig, um ganz verschiedene Schriften in der gleichen Geschwindigkeit schreiben zu können. »Noch ist das Zukunftsmusik, kein Browser unterstützt das bislang, aber künftig gibt es hoffentlich bei dynamischen Variable Fonts einen Slider für die Schreibgeschwindigkeit«, sagt Akiem Helmling.
Für mich klingt das Ganze nach sehr viel Mathematik und Physik, Helmling und Jacobs betonen aber: »Es ist nicht superwichtig, das alles genau zu verstehen …«. Uff, Glück gehabt. Das Ergebnis ist jedenfalls absolut überzeugend. Es sieht sehr schön aus, wenn auf einer Website die Überschriften wie von menschlicher Geisterhand geschrieben werden –und es sich dabei um eine Schriftdatei mit all ihren Vorzügen wie zum Beispiel Unicode-Unterstützung handelt, inklusive einer sehr flüssigen Bildrate und stets scharfen Outlines.
Scribomat für dynamische Schriften
Doch auch wenn man den mathematisch-technischen Hintergrund nicht komplett verstehen muss: Will man variable Schriften dynamisch nutzen, ist ein gewisses Coding-Know-how erforderlich. »Das vielleicht größte Problem mit Variable Fonts sind momentan nicht die Schriften selbst, sondern ihre Bedienung. Um sie zu animieren, benötigt man JavaScript-, CSS- und HTML-Kenntnisse. Die haben aber in der Praxis nicht viele oder jedenfalls nicht ausreichend«, so Akiem Helmling.
Eine Lösung bietet Underware mit dem Tool Scribomat, das sich supersimpel nutzen lässt. Es bietet das, was sich viele Anwender:innen wünschen: nicht eine Schrift, die sie selbst animieren müssen, sondern den geschriebenen Text als Vektoranimation, die sich genau so einfach in einer Website einbauen lässt wie ein Bild. Auf www.scribomat.com kann man Text eingeben und zwischen fünf Schreibgeschwindigkeiten wählen – übrigens nicht nur für Scribo, sondern auch vier weitere Underware-Fonts.
Zum Ausprobieren gibt es das animierte SVG zum kostenlosen Download. Für alle anderen Formate, darunter das von Underware entwickelte Higher Order Interpolated SVG (HOIVG), sowie für eine kommerzielle Nutzung muss man sich registrieren. Die Typedesigner wollen Scribomat nach und nach erweitern, um Farben beispielsweise oder um den Text in musikalischen Tempi wie Glissando, Staccato oder Legato schreiben zu lassen.
Statische und intelligente Scriptfonts
Auch an all die Designer:innen, die sagen: »Schön und gut, aber ich brauche diesen ganzen dynamischen Kram nicht, sondern möchte ganz normale Fonts«, hat Underware gedacht. Für sie gibt es Scribo Pro, einen intelligenten OpenType-Font, der einer menschlichen Handschrift sehr nahekommt. Die Basis bilden – wie auch bei Scribo Write – unzählige Blätter mit handgeschriebenen Buchstaben der Underware-Designer.
Nun sieht in einer Handschrift ein Buchstabe nie zweimal identisch aus. Deshalb braucht ein digitaler Scriptfont viele Alternativzeichen. Das Wichtigste ist aber der OpenType-Code, der all diese verschiedenen Glyphen steuert. Das richtige Zusammenspiel zwischen dem Code und den Buchstabenformen sorgt für ein natürliches Ergebnis. »Der Designprozess war ein ständiges Hin und Her zwischen Konzept, Design und Code – deshalb hat es auch ein paar Jahre gedauert, bis Scribo fertig war«, so Bas Jacobs.
Das Ergebnis ist eine kontrolliert unkontrollierte Schriftfamilie, lebendig und voller menschlicher Unvollkommenheiten. Scribo Pro besteht aus den drei Varianten Regular, Caps und Ornaments, Letztere sorgt mit ihren vielen Pfeilen, Strichen, Kritzeleien und Dingbats für eine zusätzliche handschriftliche Note. Alle Varianten sind mit fünf verschiedenen Werkzeugen geschrieben, haben also je fünf Schnitte.
Scribo Pro und Scribo Write bringen die Welt der analogen Handschrift und der digitalen Typografie auf innovative und sehr charmante Weise zusammen. Was Akiem Helmling, Bas Jacobs, und Sami Kortemäki wohl als Nächstes einfällt?
In ihrem Vortrag auf der ATypI 2023 in Paris erklärt Underware die technischen Hintergründe der Scribo-Entwicklung.
Dieser Artikel ist zuerst in der Ausgabe 10.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe könnt ihr hier runterladen: