Mit interaktiven Type Specimens lassen sich Schriften in allen Formaten nach Herzenslust testen und ausprobieren
Gedruckte Schriftmuster oder aufwendige PDFs sind schön. Nicht selten sogar sehr schön. Ihre Funktionalität überzeugt dagegen seltener. Oft bilden sie gerade die Schriftschnittkombinationen oder Punktgrößen, die wir sehen wollen, nicht ab und können vor allem Variable Fonts nicht wirklich gut darstellen. Kein Wunder also, dass in letzter Zeit einige Typedesigner Onlinetools entwickelt haben, um Fonts zu testen, zu vergleichen und interaktiv zu erleben. Sie sind allesamt gratis und entstanden zumeist während der Entwicklung eigener Schriften – wie bei Olli Meier, als er seinen Variable Font Vary gestaltete. »Ich wusste, dass es da schon einiges gibt, FontDrop! etwa oder Wakamai Fondue, aber dort fehlte mir die Möglichkeit, mehrere Schriften simultan zu laden«, sagt der Font Engineer bei Monotype, der sich alle zwei Wochen einen Tag als »Creative Coding Day« zum kreativen Spielen nehmen darf – derzeit vor allem für seine Arbeit an fontspecimen.com.
Inzwischen ist das Tool schon sehr umfangreich, es hat viele Funktionen und ist dabei übersichtlich und flink. Gerade kam als weiteres Feature ein PDF-Export dazu. Fertig ist fontspecimen.com aber noch nicht. »Es ist vor allem ein Spaßprojekt, mit dem ich hoffentlich vielen Leuten eine Freude mache und das langsam, aber stetig noch ein wenig wachsen soll«, so Meier. Als Nächstes will er einen Refresh-Button installieren und dafür sorgen, dass sich unter dem Menüpunkt »Papier« mehrere Textboxen gleichzeitig anzeigen lassen. »Das ist komplizierter als gedacht, einen Creative Coding Day habe ich schon erfolglos darauf verwendet – aber ich bleibe dran.«
Schwächen schnell entdecken
Auch die Schweizer Foundry Dinamo pflegt mit Font Gauntlet ein digitales Type Specimen, und das schon seit drei Jahren. Entstanden ist es vor allem, um hauseigene Variable Fonts testen zu können. Soeben haben sie es gründlich aktualisiert und ausgebaut. Hinzu kam etwa der »Audio Mode«, hier lassen sich die Achsen per Stimmlautstärke steuern. Zudem bietet Font Gauntlet einen Offlinemodus und sogar eine Chrome-App zum Downloaden. Der Name geht übrigens auf die militärische Bestrafung im Spießrutenlauf zurück (englisch running the gauntlet): Verurteilte gingen durch eine »Allee« aus Kameraden, von denen sie attackiert wurden. Font Gauntlet unterzieht die zu testenden Schriften dieser Prozedur, um mögliche Schwächen schnell aufzudecken.
Je seltener gedruckte Type Samples werden und je mehr ihre Bedeutung für die Beurteilung und Auswahl einer Schrift schwindet, desto größer wird ihr »Herzenswert«. Ich freue mich jedenfalls immer riesig, wenn ein Type Specimen in meinem ganz realen Briefkasten liegt.