Gestern stellten wir die Wolpe Collection vor, fünf wiederbelebte Schriften vom Rudolf-Koch-Schüler Berthold Wolpe. Im Interview berichtet Projektleiter Toshi Omagari, Type Designer im Monotype Studio, von den Herausforderungen bei der Digitalisierung.
Ganz schön aufwendig war es, aus den alten Schriftentwürfen und -konzepten im Monotype Archiv, vollständig ausgebaute Schriften für heutige Anforderungen zu entwickeln.
PAGE: Berthold Wolpe war ein großartiger Schriftentwerfer mit einem außergewöhnlichen Lebenswerk, das Monotype nun nach Originalvorlagen digitalisierte. Warum ist Wolpes Schaffen so gut wie unbekannt?
Toshi Omagari: Ja, das stimmt … Er war ein großartiger visueller Gestalter, aber als Schriftentwerfer ist er eigentlich nur wenigen bekannt, vor allem durch Albertus. Auch ich kannte von Wolpe nicht viel mehr als seine Buchumschläge. Umso überraschter war ich, in unserem Archiv auf so viele weitere Schriftentwürfe und -konzepte zu stoßen. Ja, sein Schriftschaffen ist unterschätzt. Entwürfe wie Fanfare, Pegasus, Tempest und vor allem Sachsenwald, deren wirtschaftlicher Durchbruch zu seiner Zeit ausblieb, gerieten schnell in Vergessenheit und wurden auch nie digitalisiert. Nur Experten kennen sie aus historischen Schriftmusterbüchern.
Welches war die größte Herausforderung, diese fast vergessenen Entwürfe zu digitalisieren?
Zuallererst wollte ich mit der Wolpe Collection eine authentische Wiederbelebung seiner ursprünglichen Designideen erreichen. Obwohl viele der Schriften einen starken grafischen Eindruck hinterlassen, finden sich jede Menge Kompromisse in der Gestaltung, bedingt durch die Satztechnik in jener Zeit. Feedback-Runden waren damals nicht üblich. Nach dem ersten Entwurf sendete der Schriftentwerfer seine Vorlagen in die Reinzeichnung, um sie einige Wochen später als Proof-Prints wieder zurückzubekommen. Dann nahte plötzlich der Veröffentlichungstermin und es blieb nur noch Zeit für die wichtigsten Korrekturen.
Ich machte es mir nun zur Aufgabe, Wolpes ursprüngliche Ideen von den geglätteten finalen Versionen zu trennen. Dazu braucht es sowohl technisches Verständnis als auch das Einfühlungsvermögen in den Stil des Designers. Wenn du einen Entwurf wiederbelebst und den Originalschöpfer nicht mehr fragen kannst, braucht es etwas Zeit, damit man sich in seine Denkweise hineinversetzen kann. Alleine die Monotype-Reinzeichnungen zu studieren reicht da nicht aus. Erst das Studium der Originalskizzen und Korrespondenzen im Type Archive halfen mir, Wolpes Stil komplett zu verstehen. Wenn ich mal mit einem Buchstaben nicht weiterkam, konnte ich diesen in anderen seiner Familien studieren, um eine Lösung zu finden – was übrigens gut funktionierte, denn Wolpe hatte einen konsequenten Stil.
Als ich Wolpes Entwurfsmethode verinnerlicht hatte, versuchte ich sein Denken in die aktuelle digitale Designwelt zu transferieren. Unter den heutigen Umständen würde Wolpe manches anders lösen als damals. Natürlich kann ich das nur im Rahmen eines Gedankenspiels durchspielen. Nehmen wir nur mal den Kleinbuchstaben g in Albertus. Das uns bekannte Design hatte links unten eine gequetschte Ecke, die von den technischen Umständen des Originals herrührt. Hier eine Lösung zu finden kann zu vielfältigen Ergebnissen führen. Wenn du Albertus zehn verschiedenen Designern gibst, wirst du zehn verschiedene Vorschläge zurückbekommen, weil jeder eine andere Albertus als Ideal im Kopf hat. Das ist der Moment, wo der Stil des Restaurators ein bisschen durchschlägt und was Revivals spannend macht. Du kannst deine Person nicht wegfiltern, du wirst niemals die Hand des Originalschöpfers führen können.
Eine andere Schrift, die mir sehr am Herzen liegt, ist Sachsenwald. Trotz ihres strukturierten Aussehens hat die Überarbeitung viel Zeit in Anspruch genommen, wegen der feinen Unterschiede in den Details. Die Diamantform an der Spitze der Stämme ist bei fast jedem Zeichen anders gebaut, ebenso der Bogen in Buchstaben wie n und o. Und dann gab es noch die spannende Herausforderung mit dem Buchstaben X/x, dessen traditionelle Fraktur-Form außerhalb Deutschlands kaum lesbar ist. Also versuchte ich mich dem Zeichen mit einer Antiqua-Form zu nähern. Das Ergebnis ist ganz amüsant. Obwohl ich nicht der erste bin, der diesen Weg geht, war es eine Herausforderung. Und selbstverständlich habe ich auch ein Versal-Eszett gezeichnet.
Welche Einsatzgebiete kamen dir in den Sinn, als du die historischen Schätze von Bernhard Wolpe überarbeitet hast?
Was mich von Anfang an den Wolpe-Schriften fasziniert hat ist, dass die Schriften zwar in den 1930er Jahren entstanden sind, aber einige spezielle Merkmale aufweisen, die sie für heutige Anwendungen richtig wertvoll machen. Zwar scheinen einige Formen auf den ersten Blick nicht in die Zeit zu passen, doch die Grundidee und der Gesamteindruck sind ausgesprochen frisch … vielleicht auch, weil es heute wenig Alternativen in diesem Genre gibt, und wenn, sind sie nicht zeitgemäß ausgebaut.
Die meisten Schnitte funktionieren heute genauso gut wie damals, vor allem für Display-Anwendungen, Buchtitel, Poster, Ansichtskarten und Plakate. Um auf diesen Gebieten eine maximale Flexibilität zu schaffen, haben wir die Schriften mit alternativen Buchstabenformen und zusätzlichen Strichstärken erweitert – da gibt es eine Menge zu entdecken. Die deutschen Leser werden sich freuen, dass alle fünf Familien alternative Formen für die Großbuchstaben Ä, Ö und Ü enthalten … auch das Versal-Eßzett wurde nicht vergessen.
Albertus taucht ziemlich häufig in den Werken von John Carpenter auf, einem meiner Lieblingsfilmregisseure. Er beschäftigte sich so intensiv mit der Schrift, dass er die zwei unterschiedlichen J entdeckte und beide in der Eröffnungssequenz von »Escape From New York« verwendete. Und so hoffe ich natürlich, das die überarbeitete Albertus gerade in Filmtiteln wieder mehr zum Einsatz kommt. Ich weiß zwar nicht, ob Carpenter noch mal zum Film zurückkehrt … aber, hey John: Hier wartet eine neue Albertus auf dich!
Schließlich fiel mir in den letzten Jahren auf, dass Albertus auch in Videospielen häufiger benutzt wird. Damit das so bleibt oder zunimmt, haben wir griechische und kyrillische Zeichen hinzugefügt, weil Videospiele meist in vielen Sprachen ausgeliefert werden.
Welches ist der größte Gewinn der überarbeiteten Wolpe-Schriften?
Zunächst einmal konnten wir viele Buchstaben aus den Originalskizzen, die nie realisiert wurden, wieder in den Zeichensatz mit aufnehmen. Zum Beispiel das J und Q ohne Unterlänge in Albertus, ein alternatives &-Zeichen und eine 2 mit geschlossenem Oberteil. Es gibt auch eine Reihe von Originalzeichnungen und Alternativen, die während der Produktion wegdiskutiert wurden. Tempest hatte ein paar Schwungbuchstaben, aber die Beschränkung des Zeichenvorrats hinderte ihn daran, das komplette Alphabet hiermit auszustatten.
Apropos unerfüllte Wünsche: Albertus hatte ein inkonsistentes Strichstärkensystem. Den Bold-Schnitt gab es in Blei, während die Kleinbuchstaben nur in unvollendeten Skizzen zu finden waren. Das gleiche bei der Extra Bold, und die Light gab es zwar, aber viel zu zerbrechlich. Ich merkte bald, dass ich diese Unregelmäßigkeiten nicht nur bei Albertus, sondern auch in Fanfare, Pegasus und Tempest lösen konnte. Schließlich gibt es Ideen, die nie geplant waren, beispielsweise die Kapitälchen und Extra-Strichstärken für Albertus, sowie griechische und kyrillische Schriftzeichen in zwei weiteren Familien.
Sachsenwald ist eine der schönsten gebrochenen Schriften. Ihre Fans werden sich freuen, dass nun endlich eine authentische digitale Version auf dem Markt kommt. Was fasziniert dich so besonders an Sachsenwald?
Für mich ist es eine der faszinierendsten Geschichten im Schriftdesign. Wolpe, Schüler von Rudolf Koch an der Offenbacher Kunstgewerbeschule, war mit Stanley Morison befreundet, der ihn einlud, Albertus für die Monotype Corporation zu entwerfen. 1935 floh Wolpe mit Hilfe von Morison aus Deutschland nach England. Sachsenwald startete 1936 als »Bismarck Schrift« für einen deutschen Verlag, der den Auftrag zwei Jahre später zurückzog.
Die Buchstabenformen waren inspiriert von kirchlichen Glockeninschriften, die Wolpe einst in Deutschland entdeckt hatte. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg brachte Monotype die Schrift in England unter dem Namen »Sachsenwald« heraus. Durch die historischen Umstände geriet sie dann schnell in Vergessenheit, obwohl Wolpe die Schrift für den außer-deutschsprachigen Gebrauch umgestaltete und sogar spezielle Designs für den britischen Markt entwarf.
Ich freue mich, 70 Jahre später an der Wiedergeburt des Sachsenwaldes beteiligt zu sein. Monotype digitalisierte die Schrift zum ersten Mal und wir zeichneten alternative I-, L- und X-Zeichen, um sie leichter lesbar zu machen. Zusätzlich haben wir einen Light-Schnitt hinzugefügt, der Wolpes ursprünglicher Intention folgt, mit Sachsenwald eine leichtere und weichere Blackletter zu erschaffen.