Dank Lockdown erleben Social-Live-Shopping-Formate gerade ein Momentum. Hier zeigen Anbieter, wie man einfache, aber interessante Konzepte mit kleinem Aufwand auf vielen Plattformen umsetzt
»Der Preis ist heiß« mit Harry Wijnvoord und Walter Freiwald war in den 1980er/1990er Jahren legendär. Heute gibt es ein ähnliches Format in der Video-Community TikTok, das heißt: »Guess the price and I’ll buy it«. Brianna White muss die Preise unterschiedlicher Artikel erraten, die ihr Angetrauter Jaelin in stationären Läden oder auf Onlineplattformen für sie aussucht. Liegt sie richtig oder nur knapp daneben, kauft er ihr den Artikel – ein offenbar teures, aber unterhaltsames und durch und durch konsumoptimistisches Vergnügen.
Einen ähnlichen Spaß hat, wenn auch ein bisschen verspätet, gerade das überaus kauflustige China, wo als Influencer gefeierte CEOs in mehrstündigen Liveübertragungen für Mehrere-Millionen-Dollar-Umsätze sorgen. Die Vorsitzende von Gree Electric, Dong Mingzhu, brachte so etwa in einem dreistündigen Livestream am Muttertag Haushaltsgeräte im Wert von über 43,7 Millionen Dollar unters Volk.
Sicher sind diese Märkte nicht eins zu eins mit unserem vergleichbar. Und doch weiß jeder Fischmarktbesucher in St. Pauli, dass Konsum und Entertainment seit jeher gut zusammen funktionieren, und dass sich Social-Media-Netzwerke in ebendem Maße als Absatzkanal eignen, in dem sie zur Unterhaltungsplattform taugen. Zumindest in der Theorie, denn Facebook und Co versuchen sich seit fast einem Jahrzehnt als Social-Shopping-Plattformen zu etablieren – doch erst seit das halbe Land im Homeoffice sitzt und nach Ablenkung, Inspiration und Unterhaltung dürstet, die sich nur ein bisschen so anfühlt, wie zum Spaß unter Leute zu gehen, kommt wieder richtig Schwung in die Sache.
Der Lockdown drängt Marken und Anbieter in die digitale Ansprache
Diese neue Belebung verdankt Social Commerce vor allem den stationären Händlern, die angesichts von Corona spontan auf Instagram, WhatsApp oder Pinterest aktiv werden, weil die Not im Lockdown groß und die technischen Hürden so niedrig waren wie nie. Und siehe da: Einzelhändler, aber auch Dienstleister sorgen mit ihrer hohen Beratungskompetenz, umfassendem Kundenservice und einer persönlichen Story für eine ganz neue interaktive und unterhaltsame Contentqualität, wenn sie im Internet live gehen.
Dabei lautet das Motto »Test, learn, build bigger«, wie es Anatol Sostmann, Director Product und Brand beim Fahrradhändler ROSE Bikes, beschreibt. Das über 100 Jahre alte Fachgeschäft aus dem nordrhein-westfälischen Bocholt mit Filialen in München und Posthausen bei Bremen verstärkte im Lockdown die digitale Kundenkommunikation und baute in wenigen Wochen seine digitalen Services aus – etwa die Beratung mit Live-Videochats über WhatsApp und FaceTime oder seine Instagram-Aktivitäten mit einer Verkaufsshow per Livestream. »Unsere Community nimmt es super an, schaltet ein und nutzt auch die persönlichen Beratungs-Slots in voller Länge«, so Sostman. Eine Conversion-Betrachtung sei noch ungenau, aber er schätzt die getesteten Liveformate insgesamt als sehr wirksam bei Produkteinführungen ein. »Zudem positionieren uns die mutigen Vorstöße als Vorreiter in der Vermarktung unserer Produkte im digitalen Umfeld«, so der Brandmanager.
Während sich ROSE Bikes für den ersten Anlauf eine Produktionsfirma aus Dortmund zur Unterstützung holte, wagen kleine Unternehmen den Schritt ins Live-Shopping ganz ohne professionelle Hilfe und machen damit gute Erfahrungen, wie die Illustratorin Sue Hiepler und die Schriftkünstlerin Yasmin Reddig. Unter dem Label May & Berry boten die beiden in ihrem Bonner Studio Handlettering- und Illustrationsworkshops an: »Seit Veranstaltungen nicht mehr erlaubt sind, haben wir uns total auf Livestreams konzentriert. Wir geben unserer Community kleine Einblicke in unsere Arbeit und animieren sie, mitzumachen und Fragen zu stellen. Dieser Austausch ist mittlerweile superwichtig für uns geworden, weil wir viel näher an unserer Zielgruppe sind«, berichtet Hiepler. Ihrem Instagram-Account folgen – Stand Juni 2020 und Tendenz steigend – über 70 000 Profile. Weitaus mehr, als nach Bonn zu den Workshops kommen.
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Social-Commerce-Cases
9 Tipps fürs Presenten im Livestream
Anatol Sostmann von ROSE Bikes rät: »Je nach Produkt schauen wir, welches Netzwerk eine adäquate Zielgruppe bereitstellt, und setzen dann auf Facebook für eine gesetztere Zielgruppe oder auf Instagram für eher junge Zuschauer.« Derzeit zählt Instagram aus vielerlei Gründen zu den beliebtesten Plattformen, wenn es um Social-Media-Shopping geht. Laut Facebook-Daten von 1,6 Millionen Verbrauchern gingen 2017 in den USA 70 Prozent von ihnen auf die Foto- und Videosharing-Plattform, um neue Produkte zu entdecken.