Jenseits des Gewohnten denken und Neues, Konstruktives entwerfen: In verschiedenen Formaten und Veranstaltungen ergründen Designer:innen die Gegenwart und imaginieren mögliche Zukünfte.
Technologie spielt eine tragende Rolle in den aktuellen gestalterischen Reflexionen. Als Werkzeug, Infrastruktur, Netzwerk und Denkmodell öffnet die imaginative Kraft des Digitalen das Feld für Spekulation sowie bisher unbetretene Handlungsräume. Unter dem Motto »New Digital Deal« formulierte die Ars Electronica im September: »Statt eines polarisierenden ›Die-Technologie-wird-alles-und-jedes-ersetzen!‹ wäre ein ›Wie-kann-Technologie-unsere-Möglichkeiten-sinnvoll-erweitern?‹ hilfreich.«
Dieser Artikel ist erstmals in PAGE 12.2021 als Teil der Titelgeschichte »Radikale Renaissance« erschienen: Inmitten der kollektiven Überforderung durch den Klimawandel und die zunehmende Ungleichheit besinnt sich das Design auf seine praktische Kompetenz. Wir zeigen, wie wirkliche Veränderung gelingen kann
Design als Diagnose
Das IAM Weekend in Barcelona lässt Mitte November die fiktiven Ansätze digitaler Fantasiewelten zu einem Teil der Wirklichkeit werden. Unter dem Stichwort »Re-Imagine und Re-Design« widmet sich die Konferenz der Frage, wie ein Internet als nachhaltiges Netzwerk für Solidarität und Fürsorge aussehen könnte. Diskutiert werden Techniken, die es uns künftig erleichtern, die komplexen Wechselbeziehungen zwischen digitaler Wirtschaft und ökologischer Krise besser zu begreifen. Als symbolisches Gegenmodell zu geordneten Kausalketten der Vergangenheit, funktioniert das Keyvisual des diesjährigen IAM Weekend , ein rhizomartiges Geflecht, das organisch und digital zugleich erscheint.
Unter der hoffnungsvollen Unterzeile »Another End is Possible« wagte das New Now Festival für digitale Künste im September in der Zeche Zollverein einen Blick in die Zukunft . Da wir ja bereits auf den Ruinen unserer Gesellschaft stehen, so die Macher:innen, geht es nun darum, gemeinsam mit Gästen wie Nelly Ben Hayoun herauszufinden, wie ein Neubeginn aussehen könnte: »Wie kann uns ein kooperativer Neustart glücken? Wie lässt sich unser Zusammenleben neu denken, sodass Mensch, Biosphäre und Technologie im ›Neuen Jetzt‹ koexistieren können.«
Zwischen Traum und Trauma
Von der Welt im Wandel zwischen globaler Dystopie und technologischer Utopie handelt die Ausstellung »Willkommen im Paradies«, die zeigt, »was passiert, wenn die Traumlandschaft zum Albtraum wird«. Zu den bis Anfang Januar im NRW-Forum präsentierten Arbeiten zählt das Smartphone-Retreat »Eden« der Künstlerin Christiane Peschek. Die Besucher:innen gehen hier auf eine audiovisuelle Reise in ein immersives Paradies irgendwo zwischen Unsterblichkeit, digitaler Spiritualität und Wellnessindustrie.
Statt auf klassische kuratorische Praxis setzt das NRW-Forum bei der Ausstellung auf Hierarchy Anarchy: Ein Teil der Arbeiten wurde via Open Call über die Plattform www.nextmuseum.io gefunden, die erprobt, wie das Museum der Zukunft aussehen könnte. Das Begleitprogramm findet dann auch nicht auf dem Podium statt, sondern in einer Telegram-Gruppe mit dem Namen »Welcome to heaven«.
Einen vollkommen anderen, explorativen Zugang zu einer Fantasiewelt bietet das Mixed-Reality-Spiel »HoloVista« der von Frauen geführten New-Media-Storytelling-Plattform Aconite . Das Spiel, von dem es auf Twitter einmal hieß, Salvador Dalí sei wiederauferstanden und habe ein Game entwickelt, wendet sich an weibliche Jugendliche. In der Rolle der Nachwuchsarchitektin Carmen können sie surreale Räume erkunden, bizarre Objekte entdecken, mysteriöse Geheimnisse entschlüsseln – und ihre eigenen beichten.
Objekte der Begierde
Dass die Trennlinie zwischen Mensch und Technologie verschwimmt und bald vielleicht ganz verschwunden sein wird, ist die These hinter den Arbeiten der Designerin Pleun van Dijk. Mit ihren spekulativen »Objects of Desire« untersucht sie die immer intimer werdende Beziehung zwischen menschlichen Bedürfnissen und technischen Möglichkeiten. Ihre hybriden, anthropomorphen Skulpturen generiert sie aus einem Datensatz, der sowohl realistische (Genitalien repräsentierende) Formen als auch abstraktes Sexspielzeug umfasst.
Die für eine nahe Zukunft entworfenen Objekte der Körperarchitektin und Sci-Fi-Künstlerin Lucy McRae erforschen, wie sich der technologische Wandel auf unsere körperliche und mentale Verfassung auswirkt. Ihr Interesse gilt fundamentalen Bedürfnissen wie dem Verlangen nach Nähe und Geborgenheit, die oftmals aus digitalen Diskursen ausgeklammert werden. Mit ihrer Arbeit »Heavy Duty Love«, die bis 21. November auf der Architekturbiennale in Venedig zu sehen ist, bezieht sie sich auf die wachsende Gruppe der In-vitro-Kinder, die ohne Körperkontakt in einer künstlichen Gebärmutter heranwachsen werden. Die gepolsterte Maschine soll ihnen durch die simulierte Umarmung helfen, ihr Geborgenheitsmanko auszugleichen.
Anti-Monopoly Mindset
Unlösbar verbunden mit der Frage nach der zukünftigen Rolle des Designs ist die Frage des nachhaltigen Gestaltens und Wirtschaftens. So appellierte die Dutch Design Week im Oktober an Designer:innen, nicht länger Teil des Problems zu sein. Die Zeit sei reif, um ihre Vorstellungskraft und Gestaltungspraxis zu nutzen, zu einer Post-Wachstumsgesellschaft mit weniger Konsum, weniger Produktion und weniger Abfall beizutragen.
Gezwungen, inmitten einer globalen Krise erste berufliche Schritte zu machen, stellt die Generation Z den Sinn und die Zukunftsfähigkeit bisheriger Systeme fast zwangsläufig infrage.
Mit einem »Responsible Design«, das die Ästhetik des Upcylings in einer neuen Radikalität widerspiegeln soll, propagiert Nicole McLaughlin einen bewussten Umgang mit den Ressourcen in einer Circle Economy . In den Arbeiten der New Yorker Designerin vermischen sich Stoff- und Materialreste mit banalen Alltagsüberbleibseln wie Duftbäumen, Eierkartons, Haribo-Tüten und Kleideretiketten. Kaum hatte sie ihre ersten Arbeiten bei Instagram hochgeladen, da kündigte sie auch schon ihren Job bei Reebok. Neben Luxusmarken wie Hermès und Prada kooperierte McLaughlin zuletzt mit den beiden Streetwear- und Sneaker-Brands Chinatown Market und Allbirds. Bei dem Projekt ging es nicht um Wachstum, sondern um Veränderung: Der Erlös aus dem Verkauf der Upcycling-Unikate, die McLaughlin aus Materialresten der beiden Labels fertigte, ging nicht zu 100 Prozent an gemeinnützige Kollektive, die sich für POC-Transpersonen und eine gerechtere Gesundheitsversorgung einsetzen.
More than Human
Eine radikal erweiterte »Zielgruppe« umfasst nicht nur benachteiligte gesellschaftliche Gruppen, sondern alle Lebewesen und Lebensräume – einschließlich Weltraumkorallen, Bakterien oder Pilzen. Modebegriffe wie Human-Centered Design werden damit auf den Kopf gestellt.
Das Nieuwe Instituut in Rotterdam widmete dem chemischen Element Lithium vor gut einem Jahr gleich eine ganze Ausstellung: In einer Art Wellness Area konnten Besucher:innen am eigenen Leib die Auswirkungen nacherleben, die das Alkalimetall, ohne das weder Handyakkus noch Elektroautobatterien möglich wären, auf die Welt hat – von ökologischer Zerstörung bis hin zu digitaler Überwachung. Indem es Begriffe wie Natur, Kultur und Technik kategorisch hinterfragt, zählt das Nieuwe Institut als Forschungsinstitution an der Schnittstelle von Architektur, Design und digitaler Kultur zu den Pionieren der radikalen Renaissance, die zeigen, wie es gelingen könnte, die zerstörerischen Strukturen des Anthropozäns hinter uns zu lassen und den Blick auf die vielfältigen Verflechtungen von Arten und Wesen zu richten. Ein Querschnitt der Diskurse ist in dem gemeinsam mit den Serpentine Galleries und der Manifesta Foundation herausgegebenen Reader »More than Human« nachzulesen.
Exemplarisch für Designprojekte, die das Verhältnis zwischen Mensch, Natur- und Tierwelt neu justieren, ist die Arbeit »Making Kin« von Wang & Söderström. Das dänische Designduo widmet sich darin den sogenannten Extremophilen: mikroskopischen Organismen, die, anders als der Mensch, auch unter extremen Bedingungen wie starker Strahlung, Kälte oder Hitze, Wasser- und Sauerstoffmangel überlebensfähig sind und so beispielsweise problemlos auf dem Mars existieren könnten. Für Wang & Söderström sind Extremophile eine Möglichkeit, sich von dem, was bislang als »normales Leben« angesehen wurde, zu distanzieren, und ein Ausgangpunkt, um zu spekulieren, wie Leben auf dem Mars aussehen könnte. Als Werkzeug dienten ihnen dabei die Genomsequenzdaten extremophiler Organismen, die sie mit Algorithmen und 3D-Software in spekulative Lebensformen übersetzen. Der titelgebende Ausspruch »Making Kin« – Macht euch verwandt! – geht zurück auf eine Maxime der Biologin und Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway, deren Texte zur artenübergreifenden Symbiose die Lieblingslektüre vieler Designer:innen geworden sind.
Die Autorin Judith Mair beneidet Nelly Ben Hayoun um ihre beiden Doppelgängerinnen. Die hätte sie dringend nötig, um alle Veranstaltungen bewältigen zu können.