Designer sollten das Bollwerk
gegen verantwortungslose und ethisch fragwürdige künstliche
Intelligenz sein. Was sie dafür wissen müssen …
Dass künstliche Intelligenz weder allwissendes Superhirn noch menschenverachtender Roboter ist, hat sich inzwischen herumgesprochen – auch bei Science-Fiction-Fans. Wie allgegenwärtig KI bereits heute ist, allerdings nicht. Ob Bilderkennung in Foto-Apps, Chatbots, Voice-Assistants wie Siri, Alexa und Cortana, Empfehlungssysteme von Netflix und Spotify oder neueste Smartphones: Schon heute leben wir mit vielen Services, die auf KI beruhen. Googles Android 9 Pie lernt die Verhaltensweisen seines Users und reagiert darauf, etwa indem es bestimmte Apps vorab lädt. Und der digitale Assistent Google Duplex könnte bald unsere Restaurant- und Friseurtermine buchen, wie der Konzern auf seiner Entwicklerkonferenz I/O im Mai 2018 eindrucksvoll bewies. Auch autonome Autos sind von einer kaum vorstellbaren zu einer handfesten Vision geworden.
Verwirrenderweise tragen viele Anwendungen derzeit das Label KI, obwohl es sich um »normale« Automatisierung handelt –etwa simple Wenn-A-dann-B-Chatbots. Und es entstehen relativ nutzlose Produkte – etwa im Bereich Internet of Things – oder auch ethisch und moralisch zweifelhafte, wie autonome Waffen oder simulierte Freunde. Zeit also, zu fragen: Was wollen wir? Wie kann künstliche Intelligenz unser Leben verbessern? Und was sollten wir unbedingt verhindern? Während Entwickler gerne dem Charme des Machbaren erliegen, haben Designer von Berufs wegen die (bewussten wie unbewussten) Bedürfnisse der Menschen im Blick. Daher können und müssen sie die Zukunft von KI mitgestalten. Ihr Tätigkeitsfeld wird sich dadurch verändern, und neue Aufgaben und Chancen entstehen. Um die Entwicklung aktiv beeinflussen zu können, müssen sie über Grundwissen darin verfügen, wie die Technik hinter KI funktioniert – und wissen, welche Probleme man damit lösen kann.
Die Basics
Unter »künstlicher Intelligenz« wird heute hauptsächlich das maschinelle Lernen verstanden. Hierbei handelt es sich um Programme, bei denen Entwickler nicht mehr explizit definieren, auf welche Aktionen welche Reaktionen folgen. Das Programm lernt vielmehr, welche Ergebnisse von ihm erwartet werden. Dafür trainiert man es mit Daten. Beliebtes Beispiel: Füttert man ein KI-System mit genug Katzenbildern, erkennt es Katzen auch auf Bildern, die es vorher nicht kannte. Das klingt simpel, ist aber eine ziemliche Leistung. Noch spannender wird es, wenn das System eine Menge an Bildern, Texten oder Audiodateien erhält, ohne dass ihm gesagt wird, was es damit tun soll. Bei diesem sogenannten Unsupervised Learning erkennt der KI-Algorithmus eigenständig Muster in den Daten – auch solche, die menschliche Betrachter noch nicht gesehen haben oder nie sehen könnten, schlicht weil die Datenmenge zu groß ist. Möglich machen dies künstliche neuronale Netze, die Daten Schicht für Schicht analysieren. Sind diese besonders kompliziert und umfangreich, spricht man von Deep Learning, einer Unterart des Machine Learning. Ihr ist eigen, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, was genau im System passiert und wie der Algorithmus zu seinen Ergebnissen kommt – das sogenannte Black-Box-Problem.
Schon heute leben wir mit vielen Services, die auf KI beruhen. Zeit also, zu fragen: Was wollen wir?
Die Mechanismen oder die Algorithmen hinter KI waren schon in den 1950er Jahren bekannt – doch die Voraussetzungen für ihren Einsatz haben sich erst durch extrem performante Rechner und Big Data ergeben. Sie ermöglichen die drei großen Anwendungsfelder von KI heute: Bilderkennung, Spracherkennung und Sprachverarbeitung, die Designern viele spannende Möglichkeiten eröffnen, wie die Personalisierung von Services und Produkten, das Erkennen von Regelhaftigkeiten und Anomalien in Daten, neue Interaktionsformen sowie Empfehlungs- und Automatisierungsmechaniken.
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Wenig überraschend ist, dass die großen Tech-Unternehmen den Markt bereits besetzt haben. Googles KI-Forschungsabteilung Brain existiert seit 2011, seit 2016 gilt im Konzern der Leitspruch »AI First«. Microsoft, Facebook, Apple und Amazon zogen mit ihren Labs nach, und IBMs KI-System Watson erleichtert schon seit Jahren viele Business- und Forschungsprozesse – derzeit unterstützt es den Astronauten Alexander Gerst mit dem kleinen runden Assistentenroboter CIMON auf der ISS. Dank On-Device-KI, die in der Cloud trainiert und auf unseren Smartphones weiterlernt, tragen wir KI früher oder später alle mit uns herum. Abseits von Alltagsanwendungen im Kleinen hat die Technologie auch Auswirkungen auf größere gesellschaftliche Kontexte – vor allem, wenn sie im Gesundheits-, Finanz-, Transport- und Personalwesen sowie bei der Polizeiarbeit und Rechtsprechung eingesetzt wird, ergeben sich ethische und moralische Fragen.
Die Probleme
Ein akutes KI-Problem ist die Verzerrung statistischer Schätzungen. Statistiker nennen dieses Phänomen Bias. Beispiel: Eine Bilderkennungssoftware erkennt dunkelhäutige Gesichter nicht, weil sie mit Fotos von Hellhäutigen trainiert hat. Der Grund für die Verzerrung liegt hier in der Auswahl der Trainingsdaten, denn eine KI ist nur so gut wie die Daten, aus denen sie lernt.
»Algorithmen sind in Code eingebettete Meinungen, sie sind nicht objektiv«, erklärt die Mathematikerin Cathy O’Neil in ihrem vielbeachteten Buch »Weapons of Math Destruction«. Besonders gefährlich wird Bias bei Anwendungen wie COMPAS, einer umstrittenen Software, die US-amerikanische Gerichte dabei unterstützt, die Rückfallwahrscheinlichkeit von Kriminellen zu schätzen. Schwarze Straftäter beurteilt sie härter als weiße – unabhängig vom Vorstrafenregister. Ein weiteres Beispiel ist Recruiting-Software, die weibliche Kandidaten nicht für Führungspositionen in Erwägung zieht, weil schlicht entsprechende Vorbilder in den Daten fehlen. Schlimmstenfalls bildet KI nicht nur unsere bewussten und unbewussten Vorurteile ab, sondern verstärkt und zementiert sie noch.
Designer verfügen über das nötige Instrumentarium, um KI menschlich zu gestalten – von User Research über Prototyping bis hin zu Usability Tests.
Ein weiteres Problem sind Fakes. Mit Adobes KI-Software Sensei erreicht nicht nur die Manipulation von Bildern und Videos ein neues Level, sondern auch die Bearbeitung von Audiodateien. So kann man heute jeden etwas sagen lassen, das er so nie gesagt hat, was der Konzern 2016 auf der Adobe Max Conference zeigte. Anfang 2018 sorgte das Programm Deepfakes – veröffentlicht auf Reddit – für viel Aufmerksamkeit (und Sorgen): Mit ihm lassen sich Gesichter erstaunlich nahtlos in bestehendes Bewegtbild einfügen. Einige nutzten das Open-Source-Tool zunächst, um Gesichter berühmter Schauspielerinnen in Pornos einzubinden – aber natürlich sind noch schlimmere Anwendungen möglich. Egal ob Foto, Video oder Audio: Es wird immer schwerer werden, manipulierten Content von echtem zu unterscheiden – und je besser die Aufdeckung von Fakes wird, desto besser werden die Fakes.
Die genannten Beispiele deuten auf ein weiteres Problem: zu starkes Vertrauen in KI. Nur weil die Ergebnisse auf einem großen Datensatz beruhen, heißt das nicht, dass sie fehlerfrei sind. Vielmehr ist es ein Fehler, Algorithmen blind zu vertrauen – besonders, wenn man weder deren Aufbau noch die Daten kennt, mit denen sie trainiert wurden. Skepsis gegenüber KI ist also angebracht – Angst dagegen nicht.
Die Regeln
Es gibt viele weitere Themen, die im Zusammenhang mit KI kritisch diskutiert werden, etwa die Entwicklung des Arbeitsmarkts, die Gefahren staatlicher Überwachung, das Monopol der Tech-Big-Player oder der Einsatz von KI beim Militär. Als Reaktion darauf haben einige Unternehmen und Institutionen Prinzipien oder Regeln aufgestellt, sei es, um ihr eigenes Handeln anzuleiten oder um eine Gesprächsgrundlage für öffentliche Diskussionen zu schaffen. Die Regeln von Microsoft und Google sind beinahe deckungsgleich und entwerfen das Leitbild einer transparenten und verantwortungsvollen KI, die Privatsphäre und Menschenwürde achtet und für das Allgemeinwohl eingesetzt wird. So weit, so unverbindlich.
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2017 veröffentlichte das Future of Life Institute, ein Zusammenschluss internationaler KI-Forscher, 23 Prinzipien, die unter anderem zum Ziel haben, ein Wettrüsten bei autonomen Waffen zu verhindern, Wohlstand gerechter zu verteilen und die Sicherheit von KI-Systemen vor Manipulation und Missbrauch zu gewährleisten. Das Problem dieser wohlgemeinten und durchaus berechtigten Regeln und Prinzipien liegt darin, dass keine Instanz ihre Einhaltung kontrolliert und keine Exekutive etwaige Verstöße ahndet.
Von Staatsseite tut sich in Deutschland noch relativ wenig. Die Bundesregierung will bis Ende November 2018 eine KI-Strategie erarbeiten und stellte im Juli erste Eckpunkte vor. Darin geht es unter anderem um die Förderung von Wirtschaft und Forschung, um die Öffnung von Datenbeständen, um Rechtssicherheit und die Einhaltung deutscher und europäischer Werte wie Persönlichkeitsrechte, Menschenwürde und Schutz der Privatsphäre. Deutschland und Europa müssen in Sachen KI mit starker Konkurrenz rechnen: Offiziell erklärtes Ziel Chinas ist es, bis 2030 KI-Weltmarktführer zu sein, und auch die USA investieren ordentlich. Sowohl die Bundesregierung als auch das Europäische Parlament sehen sich vor der Herausforderung, eine Balance zwischen Standortförderung und ethisch korrektem Vorgehen zu finden.
Die Designer
Wie schon erwähnt, liegt eine der wichtigsten Stärken von Designern darin, den Menschen und seine Bedürfnisse ins Zentrum zu stellen. Sie können menschliches Verhalten beschreiben, einordnen, antizipieren und bestenfalls positiv beeinflussen. Das hilft ihnen, Szenarien und Visionen zu kreieren und auch langfristige gesellschaftliche Auswirkungen vorauszuahnen. Sie besitzen das Instrumentarium, um KI menschlich zu machen, von User Research über Prototyping bis zu Usability Tests.
Mit Speculative Design können Designer ausloten, welche Anwendungen denkbar und sinnvoll sind und wie Menschen auf sie reagieren. Unter dem Titel »Hyper Human« stellte die Designagentur Ideo sieben Prototypen vor, die zeigen, wie KI menschliche Fähigkeiten erweitern könnte. Darunter der »Purpose Compass«, der Usern verdeutlicht, welche Aspekte ihres Jobs bald von KI erledigt werden und wie sie sich fortbilden sollten, um nicht arbeitslos zu werden. Leichtherziger geht Google mit seinen »AI Experiments« an das Thema heran. Ziel von Games wie »Quick, draw!« – einem KI-System, das errät, was der Nutzer zeichnen möchte – ist, die Technik zu demystifizieren und Berührungsängste zu lindern. Aber auch so finstere Experimente wie der KI-Psychopath »Norman« des MIT Media Lab helfen, die Technik hinter KI besser zu verstehen und Fehlentwicklungen vorauszuahnen. Norman beschreibt Rorschachbilder auf – nun ja – eher morbide Weise: Wo Menschen einen Regenbogen sehen, erkennt er die Überreste eines überfahrenen Mannes. »Schuld« sind die Daten, mit denen Norman trainiert wurde: Texte eines grenzwertigen Reddit-Threads, der der Beschreibung der »verstörenden Realität des Todes« gewidmet ist.
Das Thema KI ist zu umfangreich und komplex, als dass eine Disziplin ihr allein gerecht werden könnte. Hier ist die Schnittstellen- und Vermittlungs-kompetenz von Designern gefragt.
Jenseits experimenteller Anwendungen arbeiten Designer längst an konkreten Produkten und Services mit. UX Designer loten aus, wie KI uns begegnen muss, damit wir sie akzeptieren, und gestalten die Persönlichkeit von Chatbots und Voice Assistants mit. Kommunikationsdesigner entwickeln mit Developern KI-Tools, die ihre Arbeit erleichtern, indem sie händische Aufgaben automatisieren oder eine Fülle an generativen Entwürfen erstellen, auf denen Gestalter weiterarbeiten können.
Eine Bedingung für erfolgreiche KI-Projekte ist, dass Designer auf Augenhöhe mit Ingenieuren und Entwicklern arbeiten. Das Thema KI ist zu groß und komplex, als dass eine Disziplin ihr allein gerecht würde. Hier ist die Schnittstellen- und Vermittlungskompetenz von Designern gefragt, etwa wenn KI-Wissen in die Öffentlichkeit getragen werden soll. Denn nur wer weiß, worum es geht, kann aktiv mitdiskutieren.
Für all diese Aufgaben müssen Designer keine Coder sein. Wie im Webdesign wird es immer mehr Standards und Services geben, mit denen auch Laien Machine-Learning-Algorithmen einsetzen können. Mit Googles TensorFlow existiert bereits ein Framework, und auch auf GitHub sind entsprechende Codes zu finden. Baukastensysteme wie IBM Watson und Cloud-Services wie Google AutoML stellen vorprogrammierte neuronale Netze bereit. Auch Drag-and-Drop-Systeme, die das Trainieren von KI-Systemen enorm erleichtern, werden bereits entwickelt. Kurz: Der Einsatz von maschinellem Lernen wird einfacher und die Technik allgegenwärtiger.
Die Zukunft
Die Relevanz von KI ist in den meisten deutschen Designhochschulen sowie im Berufsalltag von Kreativen noch nicht angekommen. Vereinzelt gibt es Einrichtungen wie den Creative Space for Technical Innovations (CSTI) der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, eine interdisziplinäre Plattform für angewandte Forschung und Wissenstransfer im Bereich Mensch-Maschine-Interaktion und Smart Systems. Hier arbeiten Professoren und Studierende aus Informatik, Design und Soziologie gemeinsam an Projekten. Auf europäischer Ebene starteten jüngst die Bündnisse ELLIS (European Lab for Learning & Intelligent Systems) und CLAIRE (Confederation of Laboratories for AI Research in Europe), die den Austausch und die Kooperation zwischen Forschungseinrichtungen fördern. Ihre Programme sehen auch interdisziplinäre Fortbildungen und öffentliche Infoveranstaltungen vor. Wer will, kann sich schon heute mit vielen Inhalten im Web weiterbilden. Wir haben dafür eine Linkliste mit Artikeln, Tutorials, Videos und Podcasts erstellt.
Um die Zukunft von und mit KI aktiv mitzugestalten, müssen wir die Technik dahinter verstehen und offensiv mit ihr umgehen – sie zu unterschätzen oder zu verteufeln wäre fatal. Vor allem Designer sind gefragt, eine lebenswerte Welt zu entwerfen, in der KI den Menschen unterstützt und ihr Potenzial »for good« entfaltet. Packen wir’s an!
Und wenn Sie noch mehr über KI wissen wollen, melden Sie sich zu unserem Webinar »Die Zukunft von Design im Zeitalter von künstlicher Intelligenz« an!