Experience Design ist mehr als das X hinter dem U! Es geht darum, Erlebnisse zu entwickeln, die nicht nur digitale Produkte und Services, sondern auch die Strukturen und Prozesse in Unternehmen umfassen – und so konsistente Customer Experiences über alle Touchpoints hinweg erzeugen.
Die Anforderungen an Designer:innen verändern sich im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung fundamental. Der heute fast schon starr anmutende Charakter von Produkten, Services und Lieferketten weicht einer hochkomplexen Welt aus allseits und umgehend erreichbaren Produkten und Services, in der ständig neue, sich verändernde Angebote, Geschäftsmodelle und Kundenerlebnisse entstehen. Und das in einem Tempo, das Ausbildung, Studium und Weiterbildung vor große Herausforderungen stellt. Die Designanforderung der Zukunft lautet: Erlebnisse zu entwickeln, die nicht nur digitale Produkte und Services, sondern auch die Strukturen und Prozesse in Unternehmen umfassen – und so konsistente Customer Experiences über alle Touchpoints hinweg erzeugen.
Der entscheidende Perspektivwechsel im Selbstverständnis von Designer:innen muss daher lauten: Nicht die Gestaltung einzelner Produkte oder Services steht im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung sowie der industriellen Anwendung von künstlicher Intelligenz im Fokus, sondern das Design ganzer Business-Ökosysteme. Dazu ist es notwendig, auch unternehmerische Strukturen, Prozesse und Infrastrukturen zu betrachten, die ein überragendes und überzeugendes Produkt- und Kundenerlebnis erst ermöglichen. Der relativ neue Gattungsbegriff Experience Design ist besonders gut geeignet, diesen breiteren Fokus des Designs abzubilden.
Die Anfänge der Experience Economy
Die Definition von Experience Design leitet sich von dem Begriff Experience Society oder Experience Economy ab. Schon 1998 stellten die Managementberater B. Joseph Pine II und James H. Gilmore die Theorie auf, dass die »Experience Economy«, so der Titel ihres Artikels, die Dienstleistungsgesellschaft ablösen wird. Pine und Gilmore argumentieren, dass Unternehmen unvergessliche Ereignisse für ihre Kunden organisieren müssen und dass diese und die Erinnerung daran selbst zum Produkt werden. In den Mittelpunkt gerät zunehmend die Befriedigung des menschlichen Bedürfnisses nach Emotionen, Spaß, Ablenkung und Fantasien. Differenzierende Erlebnisse sind die entscheidenden Treiber der Experience Economy – und digitale Produkte und Services können sie liefern. Längst erwarten User:innen dies auch ganz selbstverständlich, eingebettet in personalisierte Kontexte und in Echtzeit an jedem Touchpoint abrufbar. Ganz so, als stünden sie in direktem Dialog mit der Marke.
Unterschiede zwischen Experience und UX Design
Von hier aus wird die Abgrenzung des Experience Designs vom landläufigen User Experience (UX) Design verständlich. Der wesentliche Unterschied ist, dass UX die Evaluation interaktiver Produkte und Services immer noch fast ausschließlich produktorientiert betreibt, also auf ihre Gebrauchstauglichkeit hin prüft. Anders in der Experience Economy: Hier wird das Produkt zweitrangig. Es geht nicht mehr nur um die Technologie und das Design von Schnittstellen, sondern darum, eine sinnstiftende Erfahrung mit dem Produkt oder Service zu kreieren. Nach Marc Hassenzahl, Professor für Ubiquitous Design/Erlebnis und Interaktion am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Siegen, ist Experience als eine gespeicherte Geschichte der Nutzung oder des Konsums zu betrachten, die sich aus der Art und Weise ergibt, wie Nutzer:innen die Welt wahrnehmen. Es gilt also, das individuelle emotionale Erlebnis einzelner User:innen zu überprüfen, das sich als Konsequenz der Produktnutzung entfaltet. Und das ist ein sehr viel komplexeres Unterfangen als Usability-Tests.
Bisher wird auch bei der Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen das Nutzungserleben nur als eine vom Produkt ausgelöste Bewertung von Benutzer:innen verstanden. Den Begriffen »Erleben« und »Erlebnis« wird diese Sichtweise nicht gerecht, geht es doch dabei laut Hassenzahl vielmehr um die Verknüpfung von Handeln, Fühlen und Denken. Das sind natürlich alles Kategorien des Individuums, die zunächst einmal außerhalb der Gestaltungsmacht von Designer:innen liegen. Wir können ja nur schwer beeinflussen, wie Nutzer:innen das Produkt oder den Service in ihre eigene Lebenswelt überführen, in ihre Lebensweise einbetten und damit in ihr eigenes völlig autonomes »Erlebnis«. Doch das ist exakt die Herausforderung, der Experience Design sich stellen muss.
Experiences: Vereinfachung ist eine komplexe Aufgabe
Diese kognitive Lücke zwischen dem Produkt oder Service und dem einzelnen autonomen Individuum lässt sich nicht so einfach schließen. Aber die klassischen Tugenden des Designs können diese Lücke zumindest ein Stück weit überbrücken. Designer:innen waren schon immer Vermittler:innen zwischen Technologie und Lebenswelt. Deshalb beobachten, erforschen und analysieren sie sehr intensiv kulturelle Trends im Alltagsbewusstsein der Menschen und die Veränderung von Einstellungen und Werten der Konsument:innen. Ohne diese Kunst des Zuhörens wäre es unmöglich, Sinn zu stiften und Bedeutungen zu verleihen, die in der intuitiven Beziehung des Menschen zu seinen Dingen und seiner eigenen digitalen Interaktionsrepräsentanz – also der Weise, wie er Bindung zu digitalen Produkten und Services aufbaut – heute nun mal die Hauptrolle spielen.
Die Einfachheit auf Nutzer:innenseite erzeugt eine nie dagewesene Komplexität auf der Unternehmensseite.
Welches Mindset also braucht es im Experience Design? Digitale Bindung herzustellen und zu halten, bedeutet, die komplexen Prozesse hinter dem Service mühelos konsumierbar zu machen. Tatsächlich aber erzeugt die Einfachheit auf Nutzer:innenseite eine nie dagewesene Komplexität auf Unternehmensseite! So geraten Gestaltungsaufgaben sehr schnell zu dem, wofür der Designtheoretiker Horst Rittel und der Stadtplaner Melvin Weber in den 1970er Jahren den Ausdruck »Wicked Problems« prägten. Also Aufgabenstellungen, die eine unüberschaubare Zahl einander bedingender Details enthalten, was ihre Lösung extrem schwierig oder unmöglich macht, weil sie jeweils nur aus einer Perspektive zutrifft und aus einer anderen kaum gültig ist.
Ähnlich verhält es sich oft in Unternehmen, in denen die Experience, die ein Nutzer idealerweise wie aus einem Guss erlebt, in mehreren Unternehmensabteilungen hergestellt wird. So ist es auch kein Wunder, dass die Gestaltung und das Management von komplexen Experiences heute schon zunehmend innerhalb von Unternehmen stattfinden und nicht mehr in der klassischen Rollenverteilung zwischen Auftraggeber:in und Agentur. Wer hier etwas verändern möchte, muss Teil der Organisation werden oder als Beratungsunternehmen in enger, oft langjähriger Partnerschaft mit Auftraggeber:innen Experiences nicht nur gestalten, sondern auch implementieren, managen und optimieren.
Ganzheitliche Lösungen und neue Skillsets
Experience Design stellt komplexe Anforderungen an Designer:innen. In der digitalen Transformation geht es um die Gestaltung ganzheitlicher und konsistenter Experiences für Nutzer:innen über alle Touchpoints hinweg und in der Folge auch um die Gestaltung von skalierbaren Services, Plattformen und Businessmodellen. Experience Design ist ein wachsendes Tätigkeitsfeld, in dem viele Designer:innen eine Heimat finden werden, denn die Zahl der zu bewältigenden Aufgaben wird weiter wachsen.
Experience Design ist ein wachsendes Tätigkeitsfeld, in dem viele Designer:innen eine Heimat finden.
Dabei werden Leute gebraucht, die in ihren angestammten Disziplinen arbeiten, wie UX Design, Visual- und Interface Design, Produkt- oder Interaction Design sowie in der Gestaltung von Sprachinteraktion für Chatbots, Voice-Anwendungen und Dialogsysteme. Immer wichtiger werden zudem Designer:innen, die konzeptionsstark sind und Business-Design-Skills mitbringen, die es ihnen erlauben, die Perspektiven von User:innen und Organisationen zu verbinden und neue, innovative Lösungen zu schaffen. Zentral ist die Bereitschaft, sich ständig auf neue Problemfelder einzulassen und deren Definition überhaupt als Gestaltungsaufgabe zu verstehen.
Wer im Experience Design erfolgreich sein will, braucht ein tiefes Wissen über das Unternehmen, über seine Kund:innen, Geschäftsprozesse und technologischen Infrastrukturen und damit ein sehr breites Kompetenzprofil sowie die Bereitschaft zu enger Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams. Um relevante und differenzierende Erlebnisse zu gestalten, benötigen Experience-Designer:innen aber vor allem ein Verständnis von Design, das weit über produktfokussierte Formgebung und Oberflächengestaltung hinausgeht. Sie müssen Design auch als Triebfeder organisatorischer Veränderung verstehen, mit dessen Hilfe es gelingen kann, das gesamte Unternehmen auf die Nutzer:innen auszurichten.
Philipp Thesen, Professor für Mensch-Maschine-Interaktion an der Hochschule Darmstadt und Berater für Strategie und Design Leadership
Dieser Beitrag ist erstmals am 30. November 2021 erschienen
Eine sehr interessante und zerfledderte Sichtweise. Sehr viele neue Bezeichnungen für ewig alte Themen und theoretische Lösungsansätze. Die These, dass Erlebnisse alles und jeden verkaufen finde ich nicht nachhaltig. Starke Erscheinugsbilder, gute Gestaltung, Markenführung ohne Albernheiten ergeben jahrzehntelanges stabiles Vorankommen. Und dann gibt es einen Faktor den man hat oder nicht, das Verkaufsgen.