Jürgen Siebert äußert sich regelmäßig zu Trends, Ereignissen und dem ganz normalen Alltagswahnsinn eines Kreativen. Diesmal nimmt er sich die Twitter-Entwicklung vor und welche Alternative sich uns bietet.
Am 19. Januar 2007 wurde ich Twitter-User. Zwei Jahre passierte nicht viel auf meinem Account. Erst Ende 2008 verkündete ich: »Fontblog zwitschert jetzt regelmäßig.« So ist das manchmal mit neuen digitalen Angeboten: Es braucht einen Ruck, um aufzuspringen.
Die anfängliche Beschränkung auf 140 Zeichen machte Twitter zum bevorzugten Kanal für Texter:innen, Journalist:innen, Politiker:innen und Künstler:innen. Mit mehreren 100 Millionen aktiven Nutzer:innen hat der Dienst zwar nie die Größe von Facebook oder Instagram erreicht, wurde aber zur Medienmacht, weil einflussreiche Menschen ihre professionelle Kommunikation dort abwickelten.
Ins Reich des Bösen rückte das inzwischen »Nachrichtendienst« genannte Twitter, als es 2013 an die Börse ging. Kaufmännisch dressierte Algorithmen belohnten Narzisst:innen und Großmäuler mit Reichweite. Die Plattform wurde zum Brandbeschleuniger für Fake News, Verschwörungserzählungen und Hasskampagnen.
Dann kam Elon Musk, ein fleißiger Twitter-User. Seit Juni 2020 ärgerte sich der Tesla-Chef über den Bot @ElonJet, der die Starts und Landungen seines Privatjets twitterte (auf Basis frei zugänglicher Luftfahrtdaten). Im November 2021 bot der Multimilliardär dem Programmierer des Trackers 5000 Dollar, wenn er ihn stilllegte. Der wollte das Zehnfache. Musk lehnte ab und kaufte Twitter im Oktober 2022 für 44 Milliarden Dollar.
Als er sein neues Spielzeug mit Entlassungen, bunten Häkchen und einem Abo-Rohrkrepierer ins Chaos ritt, wanderten die ersten User:innen ab. Musks Auffassung von Meinungsfreiheit – die Profile von Kritiker:innen sperren, die von gesperrten Hetzer:innen wieder freischalten – und der Versuch, Multiple-Choice-Umfragen als Demokratie zu verkaufen, führte uns allen die verhängnisvolle Abhängigkeit von den geschlossenen Plattformen großer Tech-Unternehmen vor Augen.
Als Konsequenz wechseln seit Anfang des Jahres Zehntausende zu Mastodon, einer dezentralen Open-Source-Alternative. Mastodon ist ein technischer Zugang, um sich mit dem Fediverse zu verbinden. Das Fediverse (gebildet aus federation und universe) ist ein dezentrales Netzwerk föderierter Onlinedienste, die untereinander interagieren können. Anders als bei den kommerziellen sozialen Netzen gibt es im Fediverse keine zentrale Instanz. Jeder kann mit einem eigenen Server eine Community gründen, einen Knotenpunkt, über den die Nutzer:innen untereinander und mit anderen Servern kommunizieren. Die größte Mastodon-Instanz heißt mastodon.social mit mehreren Hunderttausend User:innen.
Die auf Twitter stark vertretene Schriftszene ist praktisch vom einen auf den anderen Tag zu Mastodon gewechselt. Ihre Instanz typo.social wurde von fünf renommierten Partnern aufgesetzt, darunter der Typographischen Gesellschaft München, Erik van Blokland und Fonts In Use. Aktuell sind dort über 500 Schriftentwerfer:innen und Typograf:innen aktiv.
Neben der dezentralen Architektur sorgen zwei weitere Mechanismen auf Mastodon für einen gepflegteren Umgang. Jede Instanz kann selbst über ihre Gesprächskultur entscheiden. Das schließt keine Haters oder Verschwörer:innen aus, doch im Fediverse leben sie in ihren eigenen Häusern – und nicht mit allen unter einem Dach wie auf Twitter. Und es gibt (noch) keine Drüberkommentare (Drükos) auf Mastodon, eine Social-Media-Technik, bei der man die Nachricht anderer – kommentiert – mit den eigenen Follower:innen teilt. Sozial kompetent eingesetzt, sind Drükos eine gute Sache; Empathielose nutzen sie als verbale Molotowcocktails.
Die Twitter/Musk-Saga hat uns die Augen für eine mögliche Zukunft im Internet geöffnet, zurück zum globalen Dorf der Nullerjahre. Die »ZEIT« vergleicht das mit der unter Großstädter:innen grassierenden Flucht aufs Land. Warum nicht?