Kein Schriftzug hat sich je schneller verbreitet als die Solidaritätsbekundung »Je suis Charlie«.
Am Mittag des 7. Januar in Paris erfunden, abends in den Händen Tausender Menschen, die in den Metropolen Europas der Terroropfer gedachten. Dies alles ohne Zutun von Werbeagentur, PR-Agenten und Kommunikationsexperten. Wie war das möglich?
Der Anschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« am 7. Januar 2015 wurde von den Medien sofort als Anschlag auf die Pressefreiheit verstanden. Dementsprechend einhellig war ihr Echo, und das auf allen Kanälen: TV, Radio, soziale Medien und ab abends auch auf Papier. Wäre eine Pizzeria überfallen worden und das Mitgefühl gleichermaßen groß gewesen . . . es hätte flachere Wellen geschlagen.
Joachim Roncin, Artdirektor des französischen Magazins »Stylist«, erfuhr in einer Redaktionssitzung vom Massaker an den Kollegen. Zurück am Schreibtisch, tippte er an seinem Computer die Worte »Je suis«, weiß auf schwarz, in seiner aktuellen Lieblingsschrift, und setzte dann den »Charlie«-Schriftzug darunter, den er von einem Cover des Magazins abfotografierte.
Keine Stunde nach Bekanntwerden des Attentats, exakt um 12:52 Uhr, veröffentlichte Joachim Roncin das Artwork parallel auf Facebook und Twitter. Innerhalb von Minuten machte der Entwurf die Runde unter Berufskollegen, wurde retweetet und weitererzählt. Schon bald erschienen auf Vektorgrafik-Portalen, Logo-Plattformen und auf Wikimedia skalierbare Versionen des Schriftzugs. Anstelle des zeitungspapiergrauen »Charlie«-Repros verwendeten die Grafiker die populäre Originalschrift Block Condensed und färbten sie hellgrau. Nun konnte das Zeichen massenhaft geladen und in beliebiger Größe auf Papier oder Planen gedruckt werden. Botschaften, Kulturgebäude und Behörden projizierten es am Abend des Folgetags auf ihre Fassaden.
Roncins Illustration war in den Besitz der Öffentlichkeit übergegangen. Der Schriftzug wurde zum Inbegriff eines Gefühls von Trauer, Wut und schließlich Solidarität. »Auch ich«, so konnte jeder, der das Bild verbreitete, erklären, »bin von der Tat betroffen und stehe zu den Rechten der Freiheit.« Geschäftemacher versuchten zwar noch Markenschutz für das Logo zu beantragen, doch die französischen Behörden wiesen das Ansinnen ab. Niemand könne eine Parole kommerzialisieren, die bereits millionenfach kollektiv verwendet werde. Viele Menschen tauschten ihre Profilbilder gegen »Ich bin Charlie« aus. Unternehmen und Institutionen folgten, darunter auch solche, denen Kritiker die Solidaritätsbekundung nicht abnahmen, zum Beispiel traditionell konservative Medien oder auch die NPD und Pegida in Deutschland. Die Berliner »taz« kochte deswegen: »Spackos: Wagt es nicht, die Toten von Paris zu instrumentalisieren.«
Tatsächlich sind viele, trotz Bekundung, nicht Charlie. Vor allem die Medien aus dem »Land of Free Speech« wurden von europäischen Kollegen scharf kritisiert. Sie veröffentlichten Fotos des ermordeten »Hebdo«-Herausgebers Stéphane »Charb« Charbonnier, meist eine Ausgabe seiner Zeitschrift in den Händen, und verpixelten die auf dem Cover dargestellten »islamfeindlichen« Illustrationen. Der Präsident von CNN Worldwide, Jeff Zucker, begründete dies damit, dass man die Sicherheit seiner Angestellten auf der ganzen Welt nicht gefährden wolle. Die Terroristen wird das freuen.
Da ich selbst ziemlich aktiv bin im Fontblog, auf Twitter und auf Instagram, habe ich mehrfach geprüft, ob ich zu den Vorfällen in Paris oder den Ereignissen danach etwas zu sagen hätte. Nach drei Tagen kam ich zu der Auffassung: Nein, öffentlich habe ich dazu nichts zu sagen. Am vierten Tag versuchte ich, mein Schweigen in ein Bild zu packen . . . und vergaß dabei das 1. Axiom des Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick: »Man kann nicht nicht kommunizieren!«
»Man kann nicht nicht kommunizieren!«
Ich reduzierte die inzwischen platt getretene Charlie-Grafik auf das Niveau meines leeren Kopfes und die typografische DNS:
Prompt kam über Twitter die Reaktion aus Frankreich: »Wenn du auch in diesen Tagen an nichts anderes als an Schriften und Marketing denken kannst . . . halte dich bitte zurück.« Offensichtlich hatte ich Gefühle verletzt, was mir fernlag, aber doch so naheliegend ist. Auf der anderen Seite war dies für mich aber auch eine Bestätigung, in den drei Tagen zuvor richtig gehandelt zu haben.
Font Je suis Charlie: Die Typonauten aus Bremen haben einen Font kreiert, der die Namen aller Opfer der Anschläge enthält.