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Gastbeitrag von Rei Inamoto: »Die Zukunft gehört den Geeks und Freaks«

Eine Bestandsaufnahme der Kreativbranche von Rei Inamoto, Vice President und Chief Creative Officer von AKQA – basierend auf seinen Beobachtungen in Cannes. Darin kritisiert er unter anderem die Kategorienflut bei den Cannes Lions und die Rückwärtsgewandtheit der Branche – nennt aber auch zukunftsweisende Kampagnen und Lösungen.

 

Eine Bestandsaufnahme der Kreativbranche von Rei Inamoto, Vice President und Chief Creative Officer von AKQA – basierend auf seinen Beobachtungen in Cannes. Darin kritisiert er unter anderem die Kategorienflut bei den Cannes Lions und die Rückwärtsgewandtheit der Branche – nennt aber auch zukunftsweisende Kampagnen und Lösungen.

 

 

DIE ZUKUNFT GEHÖRT DEN GEEKS UND FREAKS

 

»Es ist dein Leben. Führe es – ohne Kompromisse.«

 

Das war die Botschaft, die Prasoon Joshi, der Präsident der Titanium & Integrated Jury (und erstmals eine Person aus Asien, die dieser Jury vorstand), auf der Bühne anlässlich des Abschlussabends des Cannes Lions Festival of Creativity übermittelte.

 

Heute gibt es mehr Award-Kategorien, als man sich merken kann. Die neuen Kategorien klingen nicht sehr nach „Werbung“ – aber die Arbeiten, die auf dem Festival ausgezeichnet werden, kommen werblicher daher als je zuvor. Und es gibt mehr Überschneidungen bei den Kategorien. Soweit ich mich erinnere, herrschte bei den Kategorien noch nie so viel Verwirrung wie in diesem Jahr.

 

Während der diesjährigen Cannes-Festival-Woche waren Storytelling oder Content die Schlagwörter, die man hörte, die zitiert und bis zur Ermüdung strapaziert wurden. Trotzdem gab es keinen Grand Prix in den Kategorien Branded Content & Entertainment oder Film Craft – die beiden Kategorien, die eigentlich das Beste aus Storytelling und Content herausstellen sollten.

 

Andererseits wurden allein in der Kategorie Cyber drei Grand Prix vergeben – wovon alle ausgesprochen gut ausgearbeitet waren, aber wahrscheinlich spiegelten sie mehr den Stand vor fünf Jahren wider als die Richtung, in die wir voranschreiten. Und die Grand Prix Arbeiten einiger anderer Kategorien bereiteten eher Kopfzerbrechen statt klare Aussagen zu treffen.

 

Zudem gab es in einer Branche und vielleicht sogar unter den Juries, welche sonst die Bedeutung der Big Idea predigen, weniger Verständnis dafür, was eine integrierte, auf einer großen Idee basierende Kampagne ausmacht, gerade im Vergleich zu dem, was deren einzelne Elemente stark macht. Sind es die Print-Anzeige und die Fernsehwerbung von Harvey Nichols Kampagne »Sorry, I Spent It On Myself«, die in den Kategorien Press und Film einen Grand Prix verdienen? Oder ist es die große Idee dahinter, die die eigentliche Substanz darstellt – wie verdientermaßen bei den Integrated-Lions anerkannt?

 

Die »Live Tests Series« für Volvo Trucks erhielt den Grand Prix in der integrierten Cyber-Kategorie. Mein guter Freund, der stets bestens informierte Iain Tait, drückte es anlässlich seiner Jurorentätigkeit für eine andere Veranstaltung in diesem Jahr folgendermaßen aus: »Ich bin sicher, wir würden ohne Van Damme und Enya niemals über LKWs von Volvo sprechen.«

 

Allerdings wurde mir aus diesem Chaos, der Verwirrung und den Widersprüchen eine Sache klarer als je zuvor: die Zukunft gehört den Geeks und Freaks. Und zwar Geeks und Freaks, nicht Geeks oder Freaks.

 

1: Warum Geeks?

 

Außerhalb der Werbebranche erhalten Geeks viel Liebe und Respekt. Ohne Zweifel entwickeln Geeks seit einigen Jahrzehnten die Zukunft mit. In unserer Branche jedoch werden Geeks bei den meisten Agenturen zur Seite geschoben – oder erst in der allerletzten Phase eines Auftrags involviert.

 

Zusätzlich verursacht der Begriff „Data“ vollkommen entgegengesetzte Reaktionen: Marketingleute lieben Daten. Kreative hassen sie.

 

Daten sind vor allem Fakten und Zahlen. Deswegen lieben Marketing-Fachleute sie – weil es Fakten über die Welt sind, in der wir leben. Und Fakten beinhalten Wahrheiten.

 

Aber Daten sind das Gegenteil von Magie und Inspiration. Sie werden als etwas gesehen, das die Kreativität killt. Bei einem Glas Rosé habe ich mich mit Kreativdirektoren aus verschiedenen Ländern unterhalten. Einer bemerkte im Scherz: »Wie viele Kategorien braucht Cannes noch? Nächstes Jahr wird es eine Kategorie Data geben. Das ist völlig verrückt.« Außerdem gibt es sehr einflussreiche und kritische Stimmen zu Daten und Technologie – wie Sir John Hegarty während des Festivals anmerkte.

 

Während der gesamten Woche habe ich unter den Gewinner-Arbeiten kaum welche gesehen, die Daten und Technologie zelebrierten. Bis zum Abschlussabend, als »Sound of Honda« den Titanium-Grand Prix gewann.

 

Diese von Dentsu und Rhiozomatiks in Tokyo kreierte Arbeit wagte das Unmögliche: die Nachbildung der schnellsten Runde, die der legendäre Formel 1-Fahrer Ayrton Senna, der bei einem Rennunfall starb, vor mehr als 20 Jahren gefahren ist. Der Ursprung dieser Idee waren Daten. Das hauptsächlich aus Geeks bestehende Team begann die Idee mit der Sammlung der Sound-Daten von vor 20 Jahren.

 

Davon ausgehend stellte das Team die Rennstrecke, auf der Senna die historische Runde drehte, ähnlich wie auf einem dreidimensionales Notenblatt wieder her, visualisierte das Datenmaterial auf wunderschöne und poetische Weise auf der Strecke und dokumentierte dies.

 

Die Bedeutung von »Sound of Honda« ist nicht so sehr das Endergebnis. Es geht eher darum, was darin integriert wurde: Daten als Ausgangspunkt und die Zusammenarbeit von Daten-Wissenschaftlern mit Kreativen und Informatikern.

 

Daten sind wirklich nur Zahlen – und das ist wahrscheinlich der Grund, warum sie so negativ angesehen werden. Aber mit Daten kann man unerwartete Wahrheiten und eine Authentizität der unsichtbaren Welt um uns entdecken. Sie können menschliches Verhalten erklären, das wir sonst nicht verstehen würden. Und wenn man Zahlen mit Kreativität und Vorstellungskraft kombiniert, kann dies zu einem magischen und emotionalen Ergebnis führen – wie »Sound of Honda« bewiesen hat.

 

Vielleicht ist diese Arbeit mehr Cyber und vorausschauender als viele andere Preisträger in der diesjährigen Cyber-Kategorie.

 

2. Warum Freaks?

 

Kreative Branchen sind meist ein Refugium für all jene, die woanders nicht richtig hineinpassen. Egal ob Musik, Film, Kunst oder Design – wir waren im Klassenzimmer oft die Außenseiter am Rand (nicht hinten, da saßen die Coolen). Unsere Hefte waren voll mit Kritzeleien und Skizzen, kitschigen Texten und Gedichten. Wir haben oft versagt und einfach nicht mehr mitgemacht.

 

Es gab jedoch auch etwas Gutes: Sobald die pubertierenden Jahre vorbei waren ernteten wir ein wenig mehr Respekt, wenn wir nur hart genug gearbeitet haben.

 

Dennoch haben Geeks in der Technik- und Geschäftswelt nicht viel Respekt für Freaks übrig. Geeks sind üblicherweise viel akademischer und intelligenter als wir Künstlertypen. Sie wollen meistens nicht einmal mit uns arbeiten – Google stellt hauptsächlich Leute von der Stanford University und dem MIT (Massachusetts Institute of Technology) ein. Wenn du kein Einserstudent warst, hast du keine Chance.

 

Hier ein weiteres Beispiel: Offensichtlich hatten die Gründer von Airbnb, die eigentlich gelernte Designer sind, anfangs Probleme bei der Finanzierung, da sie Gestalter und keine Programmierer waren. So viel zu beruflichen Vorurteilen.

 

Was wäre, wenn Geeks und Businessleute dies erzählt bekämen: Stell dir Jean-Claude Van Damme, einen ausgedienten Action-Star vor, wie er seinen berühmten Spagat zwischen LKWs ausführt und das Ganze zur Musik von Enya, einer etwas aus der Mode gekommenen Musikerin. Man würde denken, was der oben erwähnte Kreativdirektor über Daten gesagt hat: »Das ist völlig verrückt.«

 

Nebenbei bemerkt: Die Fähigkeit, diese vollkommen uncoolen, irrationalen Elemente zusammenzubringen – gefilmt gegen einen wunderschönen Sonnenuntergang mit einem langsamen Kameraschwenk und dazu ein poetisches Skript, das der Star selbst einspricht, untermalt mit einem New-Age-Song – das ist für mich die beste Film Craft-Arbeit, die ich dieses Jahr gesehen habe.

 

Es gibt in letzter Zeit verstärkt den Trend Menschen durch Maschinen zu ersetzen. 2012 hat der IBM Supercomputer Watson zwei der besten Spieler der US-Quizshow Jeopardy geschlagen und eine Million Dollar gewonnen. Aber würde Watson auf die Idee kommen, LKWs, Van Damme und Enya zu kombinieren? Wahrscheinlich nicht (jedenfalls noch nicht).

 

In der Praxis ersetzt Technologie bereits in vielen Bereichen den Menschen. Aber Technologie sollte keine Menschlichkeit ersetzen. Oftmals entwickeln Geeks eine Technologie nur um der Technologie willen.

 

Woran Freaks sie erinnern könnten, ist, dass Technologie der Menschheit dienen sollte.

 

Alan Kay, der berühmte Informatiker und Futurist hat einmal Folgendes gesagt: »Die beste Art und Weise, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu erfinden.«

 

Wenn Geeks und Freaks sich gegenseitig etwas mehr Respekt zollen und wenn wir selbstbewusster akzeptieren würden, wer wir sind und was wir tun, wenn wir uns zusammensetzen und miteinander auskommen würden und wir die Idee der Verbindung von Art & Code mit etwas mehr Ernst angehen würden, um kommerzielle wie auch menschliche Probleme zu lösen, dann könnten wir nicht nur die Zukunft gestalten, wir könnten sie sogar besser machen – zusammen.

 

Und stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Geeks und Freaks über sich selbst hinauswachsen und zu den Führungskräften des 21. Jahrhunderts würden.

 

Wir wären nicht aufzuhalten.

 


 

Hinweis des Herausgebers: Dieser Artikel erschien erstmals online in Fast Company am 1. Juli 2014.

 

Mehr zum Thema:

 

Auch im vergangenen Jahr zog Rei Inamoto Bilanz aus den Cannes Lions und blickte in die Zukunft der Werbebranche. Den Beitrag »Das Ende der Werbung, wie wir sie kennen« lesen Sie hier.

 

Unsere komplette Berichterstattung zu den Cannes Lions 2014.

 

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