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»Design Thinking ist meines Erachtens grundlegend fehlerhaft«

Leyla Acaroglu will mit ihrem Disruptive Design Ansatz die Branche aufrütteln. Wir fragten sie, was dahintersteckt.

Portraitbild von Leyla Acaroglu

Die Social Entrepreneurin Leyla Acaroglu ist Ex­per­tin für disruptive Designmethoden: Ihre Agentur heißt Disrupt Design, sie hat das Handbuch zu dem Thema veröffent­licht und die UnSchool of Disruptive Design gegründet. Sie setzt sich dafür ein, Gestaltung größer zu denken und sie als Ins­trument für positiven Wandel einzusetzen – und nicht nur als Treiber kommerzieller Interessen. 2016 wurde sie für ihr Engagement vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen als Champion of the Earth ausgezeichnet. Wir wollten mehr über die von ihr entwickelte Methodik Disrupt Design erfahren.

PAGE: Was ist deine Mission – und was hat Disruptive Design damit zu tun?
Leyla Acaroglu: Ich wollte Designerin werden, um kom­plexe Probleme zu lösen. In meinem Industriedesignstudium stellte ich aber schnell fest, dass Design mindestens so viele Probleme schafft wie beseitigt. Ich frag­te mich, wie die Disziplin mehr zum Wohl der Gesellschaft und des Planeten beitragen könnte – statt lediglich kommerziellen Interessen zu dienen. Da ich das Gefühl hatte, im Designstudium nicht die richtigen Methoden dafür zu lernen, brach ich es ab und studierte stattdessen Soziologie. Das hat mir die Augen geöffnet! Ich verstand das große Problem der Designbranche: Uns war der Impact unserer Handlungen einfach nicht bewusst! Soziales und umweltbewusstes Design wurde uns schlicht nicht beigebracht. Deshalb begann ich damit, Tools und Ressourcen zu entwickeln, um Desig­ne­rinnen und Designern Konzepte wie Life Cycle As­sess­ment näherzubringen.

Das Konzept für Disruptive Design schließlich entwickelte ich im Zuge meiner Doktorarbeit in Industrie­design, für die ich tief in die Systemtheorie eintauchte. Daraus entstand zum einen die Disruptive-Design-Methodik, die Erkenntnisse unter anderem aus Kognitionswissenschaft, System- und Spieltheorie in einem Prozess für kreativen Wandel zusammenführt, zum anderen die UnSchool of Disruptive Design, ein Live-Online-Training, in dem man die wichtigsten Tools lernen kann.

Was ist die Disruptive-Design-Methodik?
Sie umfasst die drei Phasen Mining, Landscaping und Building. Im ersten Schritt geht es darum, so tief wie möglich in ein Problem einzusteigen – also zu graben – und dabei Vorwissen, Erfahrungen und kognitive Bias zu ig­norieren. Lerne, das Problem zu lieben! Begegne ihm wie bei einem Date: mit Enthusiasmus und Neugier statt mit Vorurteilen. Im nächsten Schritt nimmt man eine Vogelperspektive ein und betrachtet das System, das das Problem umgibt. Mit diesem ganzheitlichen Blick lassen sich mögliche Bereiche für eine Intervention identifizieren, also Punkte, an denen man Wandel anstoßen kann. Dann geht es ans Bauen, an die Gestaltung disruptiver Lösungen. Dieser letzte Schritt gleicht dem tra­ditionellen Designprozess mit Ideation und Iteration.

Was genau unterscheidet deine Methodik vom Double Diamond oder Design Thinking?
Beim Double Diamond geht es auch um Divergenz und Konvergenz – insofern sind sich die Herangehensweisen ähnlich. Aber beim klassischen Modell des Design Council spielen weder soziale noch ökologische Aspek­te eine Rolle. Das hat dieser mittlerweile selbst erkannt und seinen Prozess um eine systemtheoretische Ebene erweitert. Design Thinking ist meines Erachtens grundlegend fehlerhaft. Es basiert auf der Annahme, dass sich in einer Kultur immer ein neues Bedürfnis finden lässt, das noch nicht befriedigt wird und für das man ein Produkt oder einen Service entwickeln kann. Es ist so menschenzentriert, dass es die Systemzusammenhänge komplett außer Acht lässt. Es gibt zwar Menschen, die Design Thinking in größeren Zusammenhängen denken und praktizieren, aber der Business-School-Ansatz folgt eher der Frage: Wie verkaufen wir mehr Mist an Idioten?

Deine Methode richtet sich nicht nur an professionelle Designer:innen, richtig?
Genau. Es geht auch darum, Menschen außerhalb des Berufsstands eine »designerische« Herangehensweise an die Hand zu geben – ähnlich wie beim Design Thinking, aber eben ganzheitlicher. Ich achte darauf, den Prozess und die Methoden so einfach wie möglich aufzubereiten, damit die Leute schnell ins Handeln kommen. Mein neuestes Projekt ist Swivel Skills, ein internes Weiterbildungsprogramm für Unternehmen zu Themen rund um Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit.

Welche Art von Projekten lässt sich mit Disruptive Design umsetzen?
Ich nutze es in all meinen Designprojekten. Für die UN habe ich zum Beispiel das Konzept »Anatomy of Action« entwickelt, mit dem eindrücklich vermittelt wird, wie ein nachhaltiger Lebensstil aussieht. Dafür haben mein Team und ich zunächst untersucht, was diesen Lebensstil überhaupt ausmacht, haben begutachtete Forschung aus fünf Jahren analysiert, eine Snapshot-Analyse gemacht und eine Heatmap erstellt – das war das Mining. Danach haben wir uns die Verhaltensweisen von Menschen im echten Leben angesehen und untersucht, welche davon nachhaltig sind. Insgesamt haben wir hun­dert Handlungen aufgelistet und mit der Forschung kor­­re­liert – das war das Landscaping.

Daraus haben wir wie­derum fünfzehn alltägliche Maßnahmen herausgegriffen und anhand einer Metapher visualisiert: der mensch­lichen Hand. Jeder Finger steht für einen Oberbegriff –Food, Move, Money, Stuff und Fun – und darunter sind jeweils drei nachhaltige Verhaltensweisen aufgelistet. Das war das Building beziehungsweise das Design. Die­­se Visualisierung nutzt die UN global in ihren Kampagnen. Sie ist einfach und reduziert, basiert aber auf einer breiten wissenschaftlichen Vorarbeit.

Schaubild »Anatom of Action«, das anhand von fünf Hand-Illustrationen Entscheidungsfindung für nachhaltige Lebensführung ermöglicht
Leyla Acaroglu geht bei all ihren Designprojekten nach ihrer Disrupt-Design-Methodik vor – so auch bei dieser Visualisierung für die Vereinten Nationen

Wie kann man als Designerin oder Designer mit Disruptive Design starten?
In meinen Kursen sage ich immer: Du kannst mit jedem Problem anfangen, das dich interessiert – egal ob auf Mikro- oder Makroebene. Als Erstes musst du das Problem richtig framen und dabei bestehende Annahmen und Bias ausblenden. Pass auf, dass du nicht versehentlich bei der Problembeschreibung schon einen Lösungsweg vorzeichnest. Wenn du zum Beispiel von dem Satz »Viele junge Menschen haben keinen ausreichen­den Zugang zu Bildung, was zu sozialer Ungleichheit führt« ausgehst, liegt darin bereits eine Annahme. Stel­le sicher, dass du das Problem und seinen Kontext wirk­lich verstehst. Finde heraus, was du noch nicht weißt.

In den meisten Fällen starte ich mit einer Cluster Map, also einer Exploration des Systems, um zu sehen, welche Elemente und Akteure darin eine Rolle spielen. Anschließend kann man mit einem Tool namens Intercon­nected Circles Mapping die Beziehung zwischen den einzelnen Elementen untersuchen und Ansatzpunkte für die Intervention finden. Daraus lässt sich ein klares Ziel definieren, dem man sich dann in einem klassi­schen Designprozess nähern kann. Je nach Größe des Problems kannst du diesen Prozess allein durchlaufen oder musst dir ein Team zusammenstellen. Wichtig ist, dass du die Probleme wirklich lösen willst und sie nicht nur beschreibst. Wir alle besitzen die Fähigkeit, Wandel anzustoßen – das Einzige, was uns zurückhält, ist un­sere eigene Untätigkeit.

Mehr zu den diversen Aktivitäten von Leyla Acaroglu erfahrt ihr auf ihrer Website. Live erleben könnt ihr sie auf der mcbw am 8. Mai.

Dieses Interview ist in PAGE 05.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe finden Sie hier.

PDF-Download: PAGE 05.2023

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