Die Designausbildung muss endlich zeitgemäß gestaltet werden, fordert unser Kolumnist Jürgen Siebert
Technische Umbrüche faszinieren mich, besonders in der grafischen Industrie. PAGE ist nicht zuletzt das Kind eines solchen Wandels, an dem wir ab 1986 aktiv mitwirken durften: mit dem Desktop-Publishing. Der Begriff ist eigentlich längst beerdigt. Für die jüngeren Leser: Es bezeichnete das Erstellen von Druckvorlagen mithilfe von Mac und PC, was heute gar nicht mehr anders möglich ist.
Neue Werkzeuge werden anfangs meist belächelt, weil sie die Qualität der alten (noch) nicht erreichen. So war das beim DTP, aber auch bei der Digitalfotografie, und so läuft es gerade mit der Elektromobilität. Irgendwann meistert das neue Verfahren jedoch alles, was die alte Technik konnte . . . plus ganz viel mehr. Auf dem Gebiet der visuellen Kommunikation warte ich schon lange auf den Tag, an dem die typografische Qualität der digitalen Medien die der analogen überholt. Ich vertrete diese Ansicht schon seit Jahren, sehe aber keinen Fortschritt. Digitale Dokumente hinken in Lesbarkeit und typografischer Inszenierung genauso dem Analogen hinterher wie das Web. Warum ist das so?
Die Hauptursache sind die getrennten Designausbildungsprogramme. Webdesign und Typografie finden an den Hochschulen in parallelen Welten statt. Amy Papaelias, die als Associate Professor an der State University von New York Grafikdesign lehrt, beschreibt das so: »Kaum ein Professor oder Tutor unterrichtet Typografie und Webdesign integriert. Die Kurse werden von den Studierenden meist in aufeinanderfolgenden Semestern und in beliebiger Reihenfolge absolviert.« Der Aktualisierung der Lehrinhalte, so Papaelias, stünden lernunwillige Fakultäten im Wege.
Während im »echten Leben« die technischen Grenzen für gute digitale Typografie längst gefallen sind, etwa durch neue Fontformate (.woff2), erweiterte CSS-Regeln (@font-face) oder exzellente Hardware (HD-Screens), vergeuden Webdesignkurse viel zu viel Zeit mit dem Vermitteln von HTML/CSS-Grundlagen. Gleichermaßen hinken die Typografiekurse hinterher, und das seit … ja, man kann eigentlich sagen, seit DTP-Zeiten.
Jahrelang waren wir gefangen in der WYSIWYG-Blase und haben es uns in unseren Lieblingsprogrammen mit der Simulation klassischer PrePress-Methoden – Bleisatz, Klebelayout, Montieren und Reinzeichnen – bequem gemacht. Aber mit dem Web und vor allem den mobilen Geräten hat sich die typografische Welt weitergedreht.
»Typografie heißt nicht mehr, statische Inhalte in eine feste Form zu bringen. Das Web erwartet von uns, dass wir Typografie mittels Parametern praktizieren und die Trennung von Inhalt und Form anerkennen«
schrieb Indra Kupferschmid, Professorin für Typografie an der HBKsaar, bereits 2015 im amerikanischen Magazin »PRINT«.
Noch immer wird an manchen Designhochschulen darüber diskutiert, ob sich Gestalter mit Code herumschlagen müssen. Leute, dieser Zug ist längst abgefahren. Code gehört heute zu den essenziellen Designelementen – so wie Farbe, Form, Schrift, Maße und Raster. Selbstverständlich soll an den Hochschulen weiterhin das Erbe Gutenbergs, die Lehren aus dem Bleisatz und die Regeln der analogen Typografie, gelehrt werden. Sie gelten nach wie vor. Nur ihre Umsetzung hat sich geändert. Und deshalb spricht nichts dagegen, in Typografiekursen über Webdesign zu sprechen und in Webdesignkursen über Typografie. Idealerweise werden beide Kurse so schnell wie möglich zu einem.