Revamp Klassik! Design für klassische Musik
Das Design für klassische Musik steckt in einer Sackgasse. Es muss sich einiges ändern – Gestalter:innen und Fotograf:innen sind gefragt. Wir stellen überraschende Ansätze vor, die deutlich machen, welche tollen (foto-)grafischen Möglichkeiten es hier gibt.
Design für Klassik: Es geht auch anders
Eine spannende Oase ist da das kleine Münchner Label Aldilà Records, zu dessen Betreibern der Dirigent Christoph Schlüren gehört. »Der Kunde wünschte sich eine progressivere Gestaltung, die sich nicht an anderen Klassiklabels orientiert«, so Oliver Schwamkrug vom Münchner Designstudio Daily Dialogue. Dieses ist für seine eigenständige Haltung bekannt – was auch fürs Programm von Aldilà Records gilt. Nachdem das Label einige Jahre keinen durchgängigen Look hatte, sondern mit wechselnden Künstlern zusammenarbeitete, wollte es seinen Auftritt professionalisieren.
Die neue Identity überrascht durch eine raffinierte, zeitgemäße Typografie mit Helvetica Narrow sowie der feingliedrigen Saol Text Monospaced der Berliner Foundry Schick Toikka. Dazu kommen interessante Visuals. Beim spanischen Trio Montserrat etwa, benannt nach einem ikonischen Bergmassiv in Katalonien, entwickelte Daily Dialogue 3D-Renderings. »Die imposante Form des Montserrat, auf dem ein Kloster steht, ist durch tektonische Plattenverschiebung entstanden. Fotos gaben das nicht gut wieder, darum erzeugten wir verschiedene Ansichten, die aus dem Berg ein Objekt machen«, erklärt Schwamkrug. Ungewöhnlich ist immer auch das Zusammenspiel von Typo und Bild bei den CD-Covern für Aldilà Records. Mal begleitet unerwartet viel Text die Bilder, mal tauschen Covermotiv und Text sogar den Platz auf Vorder- und Rückseite der CD. »Statt die üblichen Muster zu bedienen, wollen wir Inhalte richtig und auch mal anders kommunizieren, um neue Hörer einzuladen, mit frischem Ohr in die Musik einzutauchen.« Eine Website ist in Arbeit, wir sind gespannt.


»Ich möchte mit meinen Bildern dem Betrachter das Gefühl geben, im gleichen Raum mit den Porträtierten zu sein, eine Verbindung zwischen beiden herstellen«
Eva Vermandel, Fotografin, London
Schallplatten-Cover: Früher war alles besser?
Nicht alles, aber ganz bestimmt wirkten die Cover klassischer Schallplatten aufregender auf die Zeitgenossen. Seit den 1950er Jahren sorgten hochkarätige Designer bei Labels wie Decca oder Westminster für gestalterische Highlights mit abstrakter Grafik oder zeitgemäßen Illustrationen (siehe www.page-online.de/vintage-klassik-cover).
Dass in der Bildsprache die Musikerfotos inzwischen so dominieren, liegt wohl am Klassikboom der letzten Jahrzehnte. Mittlerweile gibt es so viele Einspielungen von wirklich jedem Stück, dass nicht mehr der Komponist und seine Musik im Mittelpunkt stehen, sondern die Vermarktung komplett über die ausführenden Dirigenten und Solisten läuft. Aufs Thema spezialisierte Fotografen lichten sie immer wieder nach Schema F ab, meist zu stark geschminkt und mit dem Instrument in der Hand.

Das Fotoproblem in der Klassik
»Es ist mir ein Rätsel, wieso rund um klassische Musik so viel schlechtes Design und schlechte Fotografie stattfinden«, sagt Eva Vermandel. Die in London lebende Fotografin fasziniert durch intime Porträts, die an Gemälde erinnern. Von Elektro-Musikern über Maler bis Schauspieler hat sie jede Menge bekannte Künstler porträtiert, ihre Aufnahmen hängen in großen Museen. Doch bei der Klassik stößt sie an frustrierende Grenzen. »Mit dem Pianisten Pavel Kolesnikov hatte ich kürzlich ein wunderbares Shooting für die Titelgeschichte einer Klassikzeitschrift. Aber dort wussten sie damit nichts anzufangen und wählten nur eine Aufnahme aus«, erzählt sie.
Seit zehn Jahren arbeitet Eva Vermandel auch regelmäßig mit der Geigerin Alina Ibragimova zusammen, fotografiert sie solo oder mit dem für seine Nähe zu historischen Aufführungsformen gefeierten Chiaroscuro Quartet. »Für unser letztes Shooting waren wir in einem schönen alten Haus in Suffolk, haben abends füreinander gekocht. Ich möchte mit meinen Bildern dem Betrachter das Gefühl geben, im gleichen Raum mit den Porträtierten zu sein, eine Verbindung zwischen beiden herstellen.« Das Gegenteil also von der überinszenierten Fotografie, die klassische Musiker sonst über sich ergehen lassen müssen. »Mit Eva Vermandel zu arbeiten, ist immer inspirierend, ich liebe ihren einzigartigen, ruhigen Stil«, sagt uns ihrerseits Alina Ibragimova. »So verschieden ihre Fotos unseres Quartetts sind, sie vermitteln ein tiefes Gefühl, einen Charakter unter der Oberfläche – was ja in allen ihren Arbeiten so wunderbar gelingt.«

Künstlerische Bildwelten: Passt Abstraktion zu klassischer Musik?
Betrachten wir noch einmal die gestalterischen Alternativen, die in der Klassik jenseits von Musikerfotos traditionell zum Einsatz kamen. Gern genommen waren natürlich schon immer Motive aus der bildenden Kunst. Gemälde alter Meister bleiben beliebt, womöglich sind die Abbildungen sogar rechtefrei … Mit Werken zeitgenössischer Künstler experimentiert leider meist nur das Musiktheater. So arbeitete das Studio collect für die Saison 20/21 an der Staatsoper Stuttgart mit expressiven Gemälden von Norbert Bisky oder Herburg Weiland für die Staatsoper Unter den Linden mit Filmstills des Videokünstlers Doug Aitken. Grundsätzlich ist Oper aber im Unterschied zu »reiner« Klassik per se bildorientiert, illustrative Konzepte liegen nahe.
Passt also Abstraktion besser zu klassischer Musik? In den 1950er Jahren – als auch die ungegenständliche Malerei blühte – gestalteten die US-Designer Alvin Lustig oder Erik Nitsche wunderbare abstrakte Cover. Sogar Josef Albers entwarf geometrische Visuals für Platten des Londoner Symphonieorchesters. Und unzählige Musiker und Chorsänger hierzulande kennen noch die Notenpublikationen aus dem Carus-Verlag, für die der Schweizer Grafiker Paul Weber abstrakte Muster entwickelte. Vielleicht lässt Carus das Design für eine Retro-Sonderedition zum 50-jährigen Verlagsjubiläum 2022 wieder aufleben?
Zeitgemäße nonfigurative Gestaltung ist heute leider die Ausnahme. So setzt das Studio m23 von Fons Hickmann für jede Saison des RIAS Kammerchors aufmerksamkeitsstarke Farbspiele in Szene – siehe PAGE 05.19, Seite 30 ff. In der gleichen Ausgabe stellten wir Arbeiten von Ariane Spanier für die Akademiekonzerte des Nationaltheater-Orchesters Mannheim vor. Im Mittelpunkt der Identity stehen immer große, an Notenschrift erinnernde Zahlen oder Lettern für die einzelnen Veranstaltungen der Konzertreihe. Beim Hintergrund entschied sich das Studio zur Saison 20/21 für abstrakte Collagen aus schwebenden Formen und Strukturen (Seite 33).



Der traditionsreichen visuellen Kultur der klassischen Musik versucht auch das Design entgegenzukommen, die Klientel erwartet Seriosität. Sind Kitsch und schlechter Geschmack aber nicht genau darum dringend zu vermeiden?
Klassik: Besondere Orte, besonderes Design
Es ist natürlich kein Zufall, dass die visuelle Sprache für klassische Musik am ehesten dort Konventionen durchbricht, wo dies auch die Orte tun, an denen sie aufgeführt wird. Zum Beispiel beim wohl ungewöhnlichsten Konzertsaal, den Deutschland derzeit aufzuweisen hat: dem Konzerthaus Blaibach, im gleichnamigen 2000-Einwohner-Örtchen im Bayerischen Wald vom Architekten Peter Haimerl erbaut.
Ein mutiges Projekt – gegen den futuristischen Bau gab es teils heftige Widerstände, berichtet Karen Zeiger vom Münchner Studio Parole. »Die Identity sollte ebenfalls Statements setzen, überraschen bis provozieren und den Heimatgedanken transportieren. Beim Logo verzichteten wir auf Details und konzentrierten uns aufs Wesentliche. Es ist ›rätselhaft‹«, fungiert als ein Code für Insider, den Entdecker sich erst erarbeiten müssen. Aufregung darüber war und ist erwünscht«, schmunzelt sie. »Im Kontrast dazu steht eine elementare (Makro-)Bilderwelt, die sich aus allem bedient, was den Ort prägt und bewegt: den Menschen – Einheimischen wie Künstlern –, der rauen Natur, Tradition und Bräuchen … ungeschönt und wahrhaftig. Beim Shooting gibt es keine Visagisten, und die Bilder werden nicht retuschiert.« Kurz, die inzwischen weltweit gefeierte Architektur des Konzertsaals findet Ausdruck in einem kongenialen Corporate Design.



Klassik & Gegenwart: Junge Hörer aufhorchen lassen
Deutschlands größtes mobiles Musikvermittlungsprojekt hätte der BTHVN2020 Musikfrachter werden können. Am 13. März (!) sollte er eigentlich von Bonn nach Wien fahren und insgesamt 14 Städte ansteuern, um auf diesem Weg der Hauptzielgruppe der 14- bis 24-Jährigen ein vielfältiges Programm von Konzerten, Diskussionen und sonstigen Veranstaltungen zwischen Klassik und Gegenwart zu bieten. Die Reise, die auch Beethoven selbst zu Lebzeiten unternommen hatte, war ein Projekt des Dirigenten Dirk Kaftan, Generalmusikdirektor des Beethoven Orchester Bonn, des Netzwerks Junge Ohren und der Beethoven Jubiläums GmbH.
Die extragroße Identity – passend zur überlebensgroßen Figur Beethovens – übernahm die Berliner Agentur anschlaege.de. Im Mittelpunkt stand ein nur allzu bekannter Font: die Impact von 1965, seit 1996 Windows-Systemschrift. Für das Projekt wurde diese »Schrift für alle« quasi »durch den Rhein gezogen«, erklärt Designer Rik Watkinson: »Wellen als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen Musik und Schifffahrt – sie schlagen an die Zeichen, die auf knalligen Hintergründen in Rot, Gelb, Rosa oder Cyan umhertreiben. Inspiration für diese Farbwelt jenseits von Frack und Fliege waren Andy Warhols Beethoven-Porträts von 1987.« Jammerschade, dass aus dem Trip wegen Corona nichts wurde. Hoffen wir für die Zukunft auf weitere experimentierfreudige und zeitgemäß gestaltete Projekte dieser Art. Die Klassik und ihre engagierten Musiker haben es verdient!



Neben unserer Geschichte »Design für klassische Musik«, findet ihr ein weiteres spannendes Musik-Design-Special in der PAGE 03.2021, die ihr als PAGE+-Abonnent kostenlos herunterladen könnt:





