Karl Wolfgang Epple reist durch Asien, um Menschen und Märkte besser kennenzulernen. Diesmal: Wie die chinesische Numerologie das Denken eines ganzen Volkes beeinflusst.
Die chinesische Sonderverwaltungszone Macau ist der vierte Stopp auf der Asien-Reise von Karl Wolfgang Epple, zuletzt Executive Creative Director bei thjnk. In der Welthauptstadt des Glückspiels beschäftigen ihn die Bedeutung von Zahlen in der chinesischen Kultur – und regionale Glücksspiel-Vorlieben. Seinen ersten Stopp machte er in Südkorea, seinen zweiten in Taiwan und seinen dritten in Hongkong.
Wie man mit Aberglauben viel Geld gewinnt. Und verliert.
Als wir bei thjnk zum ersten Mal mit dem chinesischen Markt über die Einführung des Audi Q8 gesprochen haben, wurde uns klar, dass diese Aufgabe ein Klacks werden würde. Die 8 ist für Chinesen nämlich die Glückszahl schlechthin. Gerade hier in Macau, wo die Amtssprache Kantonesisch ist, hat’s die 8 besonders leicht. Denn während man die 8 im Hochchinesischen ba ausspricht, klingt es hier eher nach fa, was zufälligerweise auch »Glück« bedeutet. Ein Zufall, der das Denken eines ganzen Volkes beeinflusst. Ein Chinese ersteigerte darum z.B. bei EachNet.com (mittlerweile von eBay gekauft) für umgerechnet 900.000 € die Handynummer 135 85 85 85 85. Spricht man die Zahlenfolge laut aus, klingt es wie »Lass mich reich sein, reich sein, reich sein, reich sein«. Oh, und erinnern Sie sich noch an Olympia 2008? Die Spiele begannen am 8.8. um 8 Uhr 8, kein Scherz.
Diese Zahlenmystik mag auf Sie vielleicht albern wirken, aber haben Sie schon mal in der 13. Reihe einer Lufthansa-Maschine gesessen? Sicher nicht, denn die gibt es genauso wenig wie den Hörsaal 13 am Campus Freising-Weihenstephan. Selbst staatliche Einrichtungen vermeiden in Deutschland die Unglückszahl. Band 14 des Sozialgesetzbuchs tritt 2022 in Kraft. Es ist aber erst der 13. Band.
Wie Sie sehen, interessieren mich Zahlen heute besonders. Und das hat auch seinen Grund: Ich bin nämlich heute im Casino. Zwar ist zocken in China verboten, aber Macau ist das gallische Dorf, das sich längst von einer portugiesischen Kolonie zur Welthauptstadt des Glücksspiels gemausert hat. Doch mit dem James-Bond-Macau, der Opiumhöhle voller drachenartiger Warane im Atrium, hat dieses Macau nichts zu tun. Dieses Macau sucht in Sachen moderner Opulenz seinesgleichen. Monte Carlo und Las Vegas sind ein Witz gegen das, was ich hier geboten bekomme: von Zaha Hadid entworfene Hotels, gigantische Resorts und Casinos, die jährlich 33 Milliarden Dollar Umsatz machen – 7 mal mehr als Las Vegas!
Ich habe vor lauter Staunen den halben Tag das Hotel nicht verlassen. Ich wohne im 31. Stock in einem der 2.200 Zimmer des Galaxy Macau, einem Superlativ von einem Hotel. Es hat den größten Skytop-Pool der Welt, mit künstlichen Wellen zum Surfen, Röhrenrutschen, Wildwasserbahn und Sandstrand. Es hat eine irre kitschige Diamanten-Lightshow in der Lobby. Und es hat Casinos.
Egal ob im Galaxy oder im MGM, Wynn, Venetian, Parisian oder Grand Lisboa – eigentlich soll man ein Casino nie durch den Haupteingang betreten; das bringt Unglück. Darum sind die Seiteneingänge auch größer als die Haupteingänge. Aber ich bin ja nunmal schon drinnen und die unzähligen Spieltische lassen mich nicht mehr aus ihrem Bann. Bei den Kartenspielen läuft mir ein alter Bekannter über den Weg: die Zahl 8. Chinesen spielen tatsächlich deutlich häufiger Hände, die eine 8 enthalten, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen offensichtlich gering ist. Sie lieben einfach das Glück. Spiele, bei denen es auf Können ankommt, sind eher unbeliebt.
Es muss schon irgendwie ein kosmischer Zufall sein, der einem den Geldsegen beschert – eine Fortuna-Vorstellung, die es bei uns wohl leider schon zu Carl Orffs Zeiten nicht mehr gegeben hat. Dabei ist es genau diese Art von Aberglauben, die für mich die Magie des Glücksspiels ausmacht. Der Aberglaube unterscheidet Casino- Blauäugigkeit von schnöder Mathematik, die nur berechenbar und gähnend irdisch daherkommt. Menschen wollen auch beim Geld an etwas glauben; wir sehen es täglich an der Börse. Das chinesische Musterbeispiel ist die Bank of Communications, die sich beim Börsengang die Wertpapierkennnummer 3328 sicherte. 3328 klingt auf Kantonesisch wie »leicht reich werden«. Und weil das alle wussten und alle gut fanden, kauften alle die Aktie und der Kurs schoss in die Höhe.
In der riesigen Casino-Halle des Galaxy gibt es wie gesagt viele Kartenspieltische, aber im Vergleich zu Vegas nur wenige Automaten. Dementsprechend verteilt sich auch der Umsatz anders. In den USA werden 70% durch kleinere Beiträge in Slot Machines generiert – einarmigen Banditen, oft lizenziert von Marken. Mein Freund Jakob hat dort mal eine ganze Nachtschicht an einem Ellen DeGeneres Automaten verbracht. Man macht da eigentlich nichts, außer auf einen Knopf drücken, aber wem’s gefällt … Hier auf dem künstlich aufgeschütteten Cotai-Strip von Macau gibt es nicht so viel Platz wie in der Wüste Nevadas; da lohnt sich der Quadratmeter nicht für Automaten. Denn in Macau ist Gambling Serious Business: 80% der Geldes werden mit High Rollern gemacht – Spielern, die Einsätze bis zu 250.000 Euro pro Spiel bringen. Doch die sitzen nicht an Automaten und auch nicht an Pokertischen oder beim Roulette. Die meisten spielen Baccarat.
Baccarat ist ein Kartenspiel, das es in verschiedenen Varianten gibt. Eine davon – Chemin de fer – ist James Bonds Lieblingsspiel. In „Casino Royale“ dreht sich alles darum. Aber nur im Buch. Im Film hat man sich für das Skill-betonte Texas Hold‘em entschieden, jenes Spiel, das jeder Halbstarke mit Sonnenbrille, Supermarkt-Whiskey und Tankstellen-Zigarre als absoluten Hirnwettbewerb glorifiziert. Wie gesagt: Chinesen bevorzugen im Casino das Glück.
An meinem Tisch spielt man die Baccarat-Variante Punto Banco. Der Croupier legt die Karten für zwei imaginäre Gegenspieler: den Spieler (Punto) und die Bank (Banco). Es ist mir frei überlassen, ob ich mein Geld auf die Bank setze oder auf den Spieler – ich beobachte das Spiel nur. Der Croupier legt jetzt für beide Kontrahenten jeweils zwei Karten hin. Es gewinnt derjenige, der mit der Summe seiner beiden Karten näher an der 9 dran ist. Und jetzt passiert etwas besonderes, das ich für den ausschlaggebenden Punkt halte, warum Baccarat so beliebt ist: Die Karten deckt nicht etwa der Croupier selber auf, sondern immer derjenige Spieler, der den höchsten Einsatz gebracht hat. An meinem Tisch spielen nämlich drei weitere Gambler und es sollen noch einige dazukommen. Das Aufdecken ist natürlich ein dramatischer Moment, den man nach Belieben hinauszögern kann. Großes Entertainment für alle Beteiligten! So, bis hierhin hab ich noch alles verstanden und setze mutig ein paar Chips auf die Banco. Immerhin gewinnt die Banco immer, stimmt’s?
Es geht los: Der Punto bekommt eine 2 und eine 4, macht also 6. Die Banco bekommt eine 6 und eine 7… Zeit, eine neue Regel zu lernen: Ist die Summe zweistellig, streicht man die linke Ziffer weg: 6+7=13, man streicht 1 weg und erhält 3. Der Punto gewinnt, weil die 6 näher an der 9 dran ist als die 3. – Denkste! Denn jetzt wird plötzlich noch eine dritte Karte gezogen und dann auch noch eine dritte für die Banco und irgendwie gewinne ich am Ende doch. Ich kapier nix. Macht aber nichts, denn es geht gleich weiter. Ich setzte wieder auf die Banco und gewinne wieder. Und wieder und wieder.
Und jetzt kommt wieder etwas ungewöhnliches: Solidarität! Die anderen Spieler am Tisch jubeln mir zu. Das Spiel selbst lädt ja schon irgendwie dazu ein, sich als Einheit zu fühlen. Immerhin hat keiner von uns Einfluss auf den Ausgang und darum wollen wir alle nur gewinnen. Jeder jubelt für den anderen. Und ich gewinne schon wieder! Der ganze Tisch feuert mich an. Meine Einsätze sind zwar viel geringer als die der anderen Mitspieler, aber Chinesen scheinen Glückssträhnen – egal von wem – ganz besonders zu lieben. Alles läuft perfekt! … Haben Sie eigentlich die Überschrift gelesen?
Einer der High Roller ist ganz angetan von meinem Glück und kommt auf einmal auf die fixe Idee, mich als Medium zu missbrauchen. Vor sechs Runden kannte ich nicht mal die Regeln, jetzt nennt er mich „The Lucky Guy“. Er ist der Höchstbietende am Tisch, möchte aber in der nächsten Runde die Karten nicht selber aufdecken. Diese Ehre lässt er „The Lucky Guy“ zukommen. Und ich verrate es Ihnen direkt: Meine Glückssträhne schafft es nicht bis in Runde 8. Der High Roller und ich verlieren alles. Die Banco gewinnt. Immer.
Als ich geknickt im Fahrstuhl zurück auf mein Zimmer fahre, steigt ein Junge zu. Wie wild drückt er auf alle Knöpfe, die freundlich zu leuchten anfangen. Das macht den Kleinen überglücklich. Nur das simple Feedback des Leuchtens. Menschen, denke ich mir, lieben einfaches Feedback. Es gibt ihnen das Gefühl, dass ihre Handlungen nicht ungesehen bleiben. So wie wenn man in einer Instagram Story auf eine Umfrage drückt – dann kommt auch sofort das aktuelle Ergebnis in Prozent als kleine Belohnung. Oder noch einfacher: Wenn man in einem Webshop über einen Button „hovert“ und er seine Farbe verändert.
Es gab mal ein Experiment mit Tauben, die zehn mal einen Knopf picken mussten, um einen Snack zu bekommen. Das haben sie brav gemacht und alles war gut. Aber dann hat man die Anzahl der nötigen Drücker völlig willkürlich eingestellt. Mal mussten die Tauben 30 mal picken, mal kam schon nach zwei Drückern eine Riesenladung Tauben-Snacks runter. Sowas macht Tauben richtig gierig. Weil sie unsicher sind, wann genau sie wie viel Belohnung bekommen. Wie in Ekstase picken die dann den ganzen Tag auf den Knopf ein. So wie wir Menschen an den Ellen DeGeneres Automaten.