Kontrollgewinn: Unser Kolumnist Jürgen Siebert hat sein Smartphone auf Graustufen umgestellt.
Widmet sich jemand täglich mehrere Stunden einer Beschäftigung, steht bald die Frage im Raum: Bist du süchtig? Ich kenne diese Sorge bereits aus den 1960er Jahren, als wir Kinder stundenlang vorm Fernseher saßen. Später war es das Flippern, dann die Videospiele, zuletzt das Internet. Wenn ich mich recht erinnere, lösten sich all die »Süchte« nach einiger Zeit in Luft auf.
Aktuell diskutieren die Medien mal wieder eine weitere Abhängigkeit: die vom Smartphone. Zwei Großaktionäre hatten Apple im Januar in einem offenen Brief aufgefordert, sich stärker im Bereich Kinder- und Jugendschutz zu engagieren. Der Technologiekonzern reagierte gelassen und erinnerte daran, dass er schon kurz nach der Einführung des iPhones Voreinstellungen für Eltern integriert hatte, mit denen diese den Zugriff auf Filme oder Websites für ihre Kinder einschränken können (ebenso die Benutzungsdauer). Noch ist nicht bekannt, ob sich die Investoren damit beruhigen ließen.
Tatsächlich ist die Hardware die unschuldigste Komponente in der Mediensucht-Spirale, falls es diese überhaupt geben sollte. Es sind die Inhalte, die uns faszinieren. Und da man heute mit dem Smartphone auf sämtliche alle Informationen, Produkte und Dienstleistungen zugreifen kann, verbringen wir automatisch mehr Zeit mit diesen Geräten, als es jemals mit TV und Co Sinn gemacht hätte. Außerdem passen die Dinger in die Hosentasche, und zum Telefonieren sollen sie ebenfalls geeignet sein. Das Smartphone verbindet die Menschen. Wo ist das Problem?
»Sorgen machen sollte man sich dann, wenn sich alles ums Handy dreht und man auch schöne Tätigkeiten unterbricht, um aufs Display zu gucken.«
Okay, ich fühle mich schon ein bisschen beleidigt, wenn meine Begleitung im Restaurant kurz vor dem Dessert zum Smartphone greift. Ich versuche in solchen Situationen, es sportlich zu nehmen, und denke mir: »Du musst dringend deinen Unterhaltungswert steigern . . . Themawechsel.«
Früher war es meine Mutter, die mich immer an den Aus-Knopf erinnerte. Manchmal betätigte sie ihn auch selbst. Zu meiner Überraschung fiel ich nicht in eine Leere. Ganz im Gegenteil. Entweder vertiefte ich mich in ein Buch, legte Platten in meinem Zimmer auf oder ging auf die Wiese gegenüber Fußball spielen. Das Fernsehen war sofort vergessen. Problematisch wird es meiner Ansicht nach erst in dem Moment, wenn uns die »echten« Aktivitäten langweilen. Oder keiner mehr da ist zum Fußballspielen.
»Tatsächlich ist die Hardware die unschuldigste Komponente in der Mediensucht-Spirale. Es sind die Inhalte, die uns faszinieren«
Selbstbestimmung hin oder her . . . es gibt tatsächlich eine dunkle Macht im Netz und in den Smartphones. Daran erinnert der ehemalige Google-Design-Ethiker Tristan Harris. Die großen Online-Dienste kämpfen mit penetranten Methoden um unsere Aufmerksamkeit: Pop-up-Nachrichten, Video-Autoplay, Freunde-Vorschläge, »Unerledigt«-Etiketten, soziale Belohnung et cetera. Ihr Geschäftsmodell basiert auf der Unterbrechung. Sie locken mit Animationen, Herzchen, Tönen, bunten Knöpfchen. Tristan Harris schlägt zwei simple Maßnahmen vor, um den Angriff auf unsere Aufmerksamkeit wirksam abzuwehren: Ton aus und den Bildschirm auf Graustufen umstellen (bei iOS über »Einstellungen/Allgemein/Bedienungshilfen/Kurzbefehl«). Denn Farbe wird in Apps und auf Webseiten nicht nur zur Steuerung, sondern auch zur Priorisierung eingesetzt: »Guck, guck, guck!«, »Du hast 3 neue Likes«, »Reagiere jetzt!«
Ich habe das Farbverzicht-Experiment gleich ausprobiert. Wie sinnvoll ist Instagram noch, wenn all die schönen Fotos plötzlich schwarzweiß dargestellt werden? Es ist anders. Nachrichten ohne Farbe verlieren nicht. Neu eintreffende Mails werden weniger dringend ohne roten Zähler. Und die »Tagesschau« ist wie früher, als es nur einen TV-Sender gab.
Ich bin kein anderer Mensch, aber ich nehme die virtuelle Welt neu wahr. Was sich im ersten Moment wie eine Behinderung anfühlt, ist in Wirklichkeit Kontrollgewinn. Ich bediene ein Werkzeug, keinen Spielautomaten. Ich vergesse nicht mehr, was ich eigentlich gesucht hatte. Ich drücke Links, weil ich ein Ziel habe, und nicht, weil sie mich farbig anlächeln. Wenn ich im Coffeeshop anstehe, ist das monochrome Rauschen viel weniger verlockend als das bunte Geschehen um mich herum, dass ich mir sogar den reflexartigen Griff in die Jackentasche (fast) abgewöhnt habe. Probieren Sie es aus.