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„Die Frau wie du und ich ist potthässlich“ Ein Kommentar Rolf Scheider

Brigitte ohne Models. Die Ansage, von Gruner + Jahr, in der „Brigitte“ künftig keine professionellen Mannequins mehr zu zeigen, sondern nur noch „normale Frauen“, sorgte für rege Diskussion allerorts. „Endlich mal jemand, der die Modebranche in die richtige Richtung lenkt”, finden die einen. „Reine PR“, kritisieren die Anderen. Page Online hat Model-Experte und Casting Director

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Brigitte ohne Models: Die Ansage, von Gruner + Jahr, in der „Brigitte“ künftig keine professionellen Mannequins mehr zu zeigen, sondern nur noch „normale Frauen“, sorgte für rege Diskussion allerorts. Page Online hat Model-Experte und Casting Director Rolf Scheider nach seiner Meinung gefragt:

 

 

“Zunächst einmal sind No-Models in Werbung Mode keine Erfindung von „Brigitte“. Perioden, in denen die kreative Welt ihre Modelle satt hatte, gab es schon immer. Zum Beispiel in den 80er Jahren, als Oliviero Toscani für Benetton vorwiegend Leute von der Straße gecastet hat, um sie zu fotografieren. Modeschöpfer wie Jean Paul Gaultier, Johi Yamamoto oder Rei Kawakubo für Comme des Garçons hatten jahrelang nur Laienmodelle auf ihren Laufstegen. In jüngerer Vergangenheit hat die Marke Dove den Stein ins Rollen gebracht, indem sie einfache Frauen zeigte, die vorher nie vor einer Kamera gestanden hatten. Auch für „Brigitte“ ist diese Erfahrung nicht neu. In „Brigitte Woman“ für die Frau ab 40 sind seit jeher „normale“ Frauen zu sehen. Die Strategie von “Brigitte” ist keine Revolution, sondern eine gute PR-Aktion.

 

„Brigitte“ surft damit natürlich auf der Reality-Welle und vermittelt das Motto: Jeder kann ein Star werden, jeder kann seine 15 minutes of fame haben. Das macht die Recherche für die Redaktion einfach, denn der Anreiz mitzumachen ist sehr motivierend: Es kostet nichts, man kann ganz groß rauskommen, Geld verdienen, eine wunderschöne Reise unternehmen. Die Freunde, der Partner, die Kinder, die Nachbarn sehen einen in den Zeitschriften, endlich ist man mal wer, und man kann es stolz zeigen. Das Selbstvertrauen wächst. Als Statement finde ich die Aktion absolut genial, vorausgesetzt, sie wird durchgehalten und ist nicht nur eine Eintagsfliege.

 

Aus Castingsicht hat die Herangehensweise jedoch einen Haken: Die „Frau wie du und ich“ ist in der Mehrzahl potthässlich. Es gibt nur Wenige, die der liebe Gott schön und mit einer außergewöhnlichen Persönlichkeit geschaffen hat. Und die werden – auch bei „Brigitte“ – von geschulten Augen, sprich vom Artdirektor und von Mode- und Chefredakteurin ausgesucht. Also ist sie nicht mehr die Frau wie du und ich …

 

Schauen Sie sich die Videos auf Brigitte.de doch mal an: Mädchen wie Sarah Schmidt, 19 Jahre, Abiturientin und gestylt und aufgebrezelt von Hair und Make Up Artisten, finde ich als Casting Director nicht jeden Tag auf der Straße. Oder Didda Jönsdöttir, 45 Jahre, Künstlerin. Wie viele solcher Frauen haben Sie im Bekanntenkreis? Wenn ich Alfrun Helga, 28 Jahre, Schauspielerin am Theater, auf dem Pferd an mir vorbeireiten sehen würde, hätte ich Minderwertigkeitskomplexe für den Rest des Nachmittags.

 

Natürlich gibt es Frauen mit außergewöhnlichen Persönlichkeiten, das sind aber nicht die Frauen wie du und ich. Um sie zu finden, wird lange gecastet, sie haben nichts mit „normalen“ Frauen zu tun. Jedenfalls nichts mit den Allerweltsfrauen, die die Brigitte kaufen. Was ist im Endeffekt besser? Deprimiert zu sein, weil man nicht so aussieht wie ein professionelles Model, an dessen Niveau man eh nicht rankommt. Oder sich gleich vor die Bahn stürzen, weil man nicht so ist, wie die vermeintliche „Frau wie du und ich“ in der „Brigitte“?

 

Bravo für den Werbehype, den Brigitte damit geschaffen hat. Die Verantwortlichen sollten mir mal für meine Castings ihre Kartei geben. Denn Frauen mit Charakter, wie die, die man jetzt in „Brigitte“ sieht, gibt es weniger als professionelle Modelle.“

 

Mehr Meinung zum Thema finden Sie in der Printausgabe PAGE 03.2010, die am 2. Februar erscheint.

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