Revival als Variable Font: Making-of Neue Television
Basierend auf der Diplomarbeit seines Vaters aus den 1970er Jahren, schuf Gabriel Richter gemeinsam mit ihm eine Variable-Font-Familie, die mit fünf Achsen und sechs Strichstärken riesiges Gestaltungspotenzial bietet. Wir zeigen, wie Gabriel Richter zusammen mit seinem Vater dessen Schrift ganz neu interpretierte.
Vergessen hatte Gabriel Richter die Idee jedoch nicht, und während der Pandemie, als er Japan nicht verlassen durfte, nahm das gemeinsame Projekt einer Neuen Television richtig Fahrt auf. In Videocalls mit seinem Vater in Düsseldorf diskutierten die beiden hin und her, um sich auf ein Konzept zu einigen. Bei der Analyse der alten Vorlagen kam heraus, dass die Originalbuchstaben teils zu dünne Stämme hatten, und auch einige Buchstabenbreiten waren nicht optimal. E und F etwa nahmen zu viel Raum ein, das S kippte nach vorn. Sie entschieden, anstelle eines Revivals die Television lediglich als Ausgangspunkt für eine Neuinterpretation zu nehmen, die aber ebenfalls einem strengen Raster unterliegen sollte.
Wie viele Varianten braucht es?
Gabriel Richter fing an, mit den Linien zu experimentieren, der Gedanke an einen Variable Font drängte sich förmlich auf: »Ich habe gleich an sehr viele Achsen gedacht, nicht nur für Größe und Breite, sondern auch an eine, bei der der dicke Strich zu einem Kreis wird, dessen Position man verändern kann.« Sein Vater hätte sich lieber erst mal auf das Fertigstellen des Grundalphabets konzentriert und bezweifelte auch, dass sie wirklich so viele Schnitte brauchen würden. Insbesondere die fetten Fonts fand er unvorteilhaft. »Aber Designer:innen haben ja ihre eigene Meinung, vielleicht findet irgendjemand genau diesen Schnitt passend für ein spezielles Design«, argumentierte der Sohn dagegen. »Für mich war immer klar: Egal, wie seltsam es aussieht, wir packen es rein.« Auch weil man so vielfältiger mit der Schrift gestalten kann, in dem man zum Beispiel dicke und dünne Buchstaben übereinanderlegt, gerne auch in diversen Farben.
Viel Diskussionsbedarf gab es wegen den Strichendungen. Sollten sie rund ausfallen, da die Schrift geometrische Grundlagen hat? Oder wie beim Original eher wie der Zipfel einer Zitrone? Die Lösung: Es gibt sowohl den Retrostil mit den weichen Einläufen als auch die geometrische Variante. Die Anwender:innen haben die Wahl und können über die entsprechende Achse auch Zwischenschritte erzeugen.
Viele Skizzen und Entwürfe gingen von Japan nach Deutschland und mit väterlichen Kommentaren versehen wieder zurück. Spätestens als Klaus Richter die erste Animation des Variable Fonts auf seinem Rechner betrachtete, war er von der Neuen Television vollauf überzeugt. »Man kann so vielfältige Anwendungen mit ihr gestalten«, sagt der 69-Jährige. »Ich habe sie gleich ein paar befreundeten Videokünstlern geschickt, die haben schon richtig gute Ideen, was sie damit machen wollen.«
Auf jeden Fall Kleinbuchstaben
Währenddessen plagte sich Gabriel Richter mit der Umsetzung. Jeden einzelnen Balken zeichnete er als Vektor und fragte sich, wie um alles in der Welt er sicherstellen sollte, dass jede Vektorlinie genau richtig sitzt. Statt der acht Kurvenpunkte eines »normalen« O gibt es bei der Neuen Television pro Segment zwölf, also 288 Kurvenpunkte. »Einmal verklickt, und schon ist eine Kurve schief oder ein bisschen kurz – das würde mich innerlich zerfressen«, erzählt der Typedesigner. Dann entdeckte er in Glyphs die Funktion »Smart Components«, mit der sich Teilformen von Glyphen immer wieder verwenden lassen. »Jetzt brauchte ich nur eine Grundform anzulegen. Verschob ich dann beispielsweise den Kreis von rechts nach links, übertrug das Programm diesen als Smart Component definierten Teil auf alle anderen Glyphen. Was für eine Arbeitserleichterung!«
Die alte Television war ein Versalalphabet ohne detaillierten Zeichensatz. Für Gabriel Richter war aber klar, dass die Neue Television auch Kleinbuchstaben und alle dazugehörigen Akzent- und Sonderzeichen bekommen sollte. Bei ihrer Gestaltung ließ sein Vater ihm freie Hand. »Das war schriftgestalterisch schon eine Herausforderung, weil die Buchstaben sich ja in einem strengen Raster einordnen müssen. Beim kleinen s zum Beispiel flog der Abstrich raus, weil er keinen Platz hatte«, so Gabriel Richter. Gerade im gemischten Satz scheinen die Buchstaben der Neuen Television auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen, dann aber doch wieder, weil sie durch die vertikalen Linien eine Einheit bilden. Das macht einen großen Teil des Charmes der Schrift aus.
Fünf Achsen, sechs Strichstärken
Als Japan im September 2022 das Einreiseverbot für Touristen aufhob, flog Klaus Richter nach Fukuoka, Hauptstadt der südlichsten japanischen Hauptinsel Kyushu. Natürlich um die Familie zu besuchen, aber auch, um die Neue Television endlich fertigzustellen. »Seit ich hier bin, versuchen wir, jeden Tag bei fünf Buchstaben den Feinputz zu machen. So sollte es klappen, das Projekt in den paar Wochen meiner Anwesenheit abzuschließen.«
Der fertige Variable Font hat fünf Achsen: Stem Width, Stroke Weight, Stroke Position, Stroke Width und Retro Stroke. Der statische Font besitzt sechs Strichstärken. Dabei hat jede 29 Varianten, sodass es insgesamt 174 feste Einzelschnitte gibt. Klaus Richter und Glyphs sind inzwischen gute Freunde. »Er probiert viel aus und kann mit der Software richtig gut umgehen«, so Gabriel Richter. »Allerdings hat alles, was er macht, Retroflair.« Was der Neuen Television richtig gut tut. Zu den Glyphen A, N, M, 2, 4, 6 und 9, die schon in der Originalschrift besonders waren, gibt es jetzt ein Stylistic Set mit den Retrovarianten.
»Ich hätte auch gerne ein paar Illustrationen in der Schrift gehabt«, sagt Klaus Richter. »Von Jimi Hendrix, Janis Joplin, Kurt Cobain zum Beispiel, aber das wurde abgeschmettert. Gabriel fand, das sähe zu beliebig aus.« Sie seien eben sehr verschieden, da sind sich die beiden einig. »Gabriel ist kopfgesteuert, ich bin etwas lockerer. Wenn ich bei einer Glyphe mal sage: ›Komm, 92 Prozent sind hier auch in Ordnung‹, geht er gleich an die Decke.« Allen Unterschiedlichkeiten und Diskussionen zum Trotz hat beiden Designern die Zusammenarbeit viel Freude bereitet – weitere Vater-Sohn-Schriftprojekte sind nicht ausgeschlossen. »Eigentlich müssten wir auch noch mal deine Ur-Diplomschrift digitalisieren«, überlegt Gabriel Richter. »Ach lass mal«, antwortet sein Vater. Er hat wohl eher einen Icon-Font mit verstorbenen Musikgrößen im Sinn.
Neue Television ist bei nice to type erschienen. Ein Einzelschnitt kostet rund 70 Euro – dieser enthält 29 feste Varianten einer Strichstärke. Die ganze Familie mit 174 Schnitten inklusive Variable Font gibt es für knapp 240 Euro.
Dieser Artikel ist in PAGE 02.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.