Auch Journalisten liegen in der Interpretation von Daten oft schlicht falsch. Aus diesem Grunde hat sich in den letzten Jahren der Beruf des Datenjournalisten herausgebildet, der journalistische Redlichkeit durch mathematisches Know-how absichert. Ein hochinteressantes Feld für Grafiker, die gerne unter der Oberfläche schürfen, um der Öffentlichkeit brisante, skandalöse oder auch entwarnende Erkenntnisse zu bescheren. Selbstredend nicht mehr »nur« in Printmedien, sondern immer öfter auch bewegt und navigierbar (im Internet oder an Points of Interest), um Zusammenhänge und Wechselbeziehungen explorativ zu erfassen. PAGE berichtet über Studiengänge, Jobs und Arbeitsbereiche, in denen Designer gemeinsam mit Datenspezialisten und Entwicklern ins Herz der Statistik aufbrechen.
Erstveröffentlichung des folgenden Beitrags: PAGE Magazin, Mai, 2009
Autoren: Johannes Schardt und Christophe Stoll
Wo Information ein hohes Gut ist, sind Daten das neue Gold. Designer verwandeln an sich unnütze Zahlenmassen in kostbare Erkenntnis. Das aber wirft die Frage auf: Was für ein Material sind Daten eigentlich?
Die Quartalszahlen von Google, die leidenschaftlich geführten Schlachten um den Datenschutz und die zunehmenden kriminellen Machenschaften, um an eben jene zu gelangen, zeigen: Die Jagd auf das Gold des neuen Jahrtausends, die Daten, hat begonnen. Einen eklatanten Unterschied gibt es jedoch: Anders als beim Edelmetall ist hier Knappheit nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil – wir stehen erst am Anfang des bewussten Preisgebens, des unbewussten Verschleuderns und des gezielten Sammelns von Daten. Jeder Klick im World Wide Web und jeder Schritt mit einem GPS- oder internetfähigen Mobiltelefon erzeugt schon heute eine Spur. Dabei bricht das Zeitalter der Sensoren gerade mal an – die Schwemme von Geräten, die automatisch riesige Datenmassen aufzeichnen, steht in den kommenden Jahren erst noch bevor.
Doch gewinnen die Daten erst an Wert, wenn sie zu nutzbaren Informationen verarbeitet sind. Der Senior Lecturer am Design Lab der Universität Sidney, Andrew Vande Moere, stellt auf seinem populären Weblog infosthetics.com nicht nur viele Projekte vor, sondern hat die Zusammenhänge zwischen Ästhetik und Informationsvisualisierung auch einer wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen. Seine Forschungsergebnisse zeigen – Designer haben das natürlich schon immer gewusst –, dass sich attraktive Visualisierungen wesentlich besser verstehen lassen. Vande Moere führt dies darauf zurück, dass unsere kognitiven Fähigkeiten mit unseren Gefühlen verflochten sind und wir deswegen durch einen emotionalen Zugang Sachverhalte leichter verstehen. Schön zu sehen ist das im Kompendium »Data Flow – Visualising Information in Graphic Design« aus dem Gestalten Verlag (49,90 Euro, ISBN 978-3-89955-217-1): Von minimalistischer Strenge bis hin zu üppiger Verspieltheit, vom kühlen Science-Fiction-Look bis zur knuffigen Krickelkrakel-Ästhetik reicht die Palette an Stilen, mit der uns Gestalter Daten schmackhaft machen.
Die Visualisierung der Daten hat sich von den spezialisierten, elitären Sphären der Wissenschaft und Finanzwelt emanzipiert und hält Einzug in unser Alltagsleben: Schon seit Längerem setzen nicht mehr nur Zeitungen und Zeitschriften zunehmend auf Infografiken, um komplexe Sachverhalte darzustellen. Auch Vertreter der Markenkommunikation entdecken die narrativen Qualitäten visuell aufbereiteter Daten, wie es etwa Garrick Schmitt im Weblog Advertising Age beschreibt. Und wenn die angesagte Rockband Radiohead einen Videoclip ohne Kameras und Licht, sondern nur mit Daten dreht und mitsamt unbearbeitetem Rohmaterial bei Google veröffentlicht (code.google.com/intl/de-DE/creative/radiohead), so macht dies einmal mehr deutlich, dass die Ästhetik der Datenvisualisierung inzwischen auch in unserer Popkultur angekommen ist.
Dass die Datenvisualisierung in den letzten zwei Jahren zu einem Lieblingssujet in Designkreisen avanciert ist, verwundert somit nicht. Fast täglich macht ein neues Projekt die Runde durch die einschlägigen Blogs. Mehr und mehr Bücher und Magazintitel widmen sich dem Thema. Auch die Lehre hat reagiert und entsprechende Kurse in ihre Stundenpläne integriert. Zurecht: Gestalter digitaler Medien müssen den Umgang mit Daten lernen und erforschen – sind Letztere doch das Material, mit dem sie zunehmend arbeiten werden.
Denn, und das ist die Kehrseite der an sich positiven Erkenntnis, dass gute Gestaltung den Zugang zu Informationen vereinfacht: Manche ästhetische Ansätze können das Interesse an und das Verständnis von Informationen auch negativ beeinflussen. Eine zu starke Ästhetisierung kann dazu führen, dass Informationen an Wirkung verlieren, dass sie trivialisiert oder vom Betrachter distanziert werden. Denn ein entscheidender Unterschied zwischen dem Arrangieren von Texten und Bildern und dem Visualisieren von Daten ergibt sich aus dem Zustand des Materials: Texte und Bilder sind bereits verarbeitet und haben eine Position oder Intention. Daten hingegen sind Rohmaterial, das ein Gestalter erst in Form bringen muss. Somit wird der Designer hier auch zum Autor. Mehr als je zuvor interpretiert er Daten auch, formt Informationen und trifft Aussagen.
Das Rohmaterial Daten und das ihm innewohnende Potenzial zu verstehen, gewinnt damit an Bedeutung: So wie man aus Stahl eine Skulptur, eine Bratpfanne oder eine Pistole fertigt, so kann auch der Designer aus Daten etwas rein Ästhetisches, Nützliches oder Gefährliches schaffen. Nur allzu leicht lassen sich mit richtigen Daten falsche Informationen vermitteln oder zumindest falsche Schlüsse beim Betrachter provozieren, wenn man diese entsprechend visualisiert. Das muss nicht unbedingt vorsätzlich, sondern kann auch unabsichtlich geschehen (man denke beispielsweise an die unterschiedlichen kulturellen Interpretationen von Symbolen).
Dieses Gefahrenpotenzial rührt daher, dass wir Daten als Gestaltungsmaterial immer noch als objektiv und wahr erachten. Anders als etwa beim Medium Fotografie, das wir, nach der anfänglichen Bewertung als objektive Kopiermaschine der Wirklichkeit, inzwischen als höchst subjektiv und – spätestens seit Photoshop – als manipulierbar verstehen (auch wenn sich das Unterbewusstsein sicherlich immer noch ein Schnippchen schlagen lässt), scheinen Datenvisualisierungen immer noch wenig Zweifel an ihrem Wahrheitsgehalt zu wecken. Eher noch als ihre visuelle Umsetzung hinterfragen wir, wie korrekt die Erhebung gewesen ist: »Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast«, wird Winston Churchill immer wieder zitiert. Dabei sorgt die Auswahl, Kontextualisierung und Visualisierung (also die Verarbeitung der Daten) dafür, dass sie sich in unterschiedliche Informationen formen lassen, selbst wenn sie richtig erhoben und – für sich isoliert betrachtet – somit wahr sein können.
Designer müssen sich mit dem Material Daten auskennen, um verantwortungsvoll damit arbeiten zu können. Matt Jones, der Designer von dopplr.com, stellte die interessante Frage, ob sich zwischen Daten und physischen Materialien Parallelen ziehen lassen – ob es also beispielsweise so etwas wie eine Körnung oder Patina von Datenmaterial gibt. Wie und ob man diese Frage überhaupt beantworten kann, sei dahingestellt. Wichtig ist jedoch: Wenn man mit Daten arbeitet, sollte man ihre Beschaffenheit kennen. So wie ein Produktdesigner das Material für einen Stuhl nach bestimmten Kriterien wie Sitzkomfort, Belastbarkeit, Umweltverträglichkeit oder Preis auswählt, so muss auch ein Informationsdesigner prüfen, wie gut oder schlecht sich die jeweiligen Daten für bestimmte Visualisierungstechniken eignen.
Interdisziplinarität, also das Verständnis eines Designers von datenintensiven Disziplinen wie Informatik, Kartografie oder Statistik, ist daher mehr denn je notwendig. Doch nur durch eigene Experimente mit verschiedenen Tools und Frameworks, erst wenn man programmieren lernt – also selbst Hand anlegt und Daten formt, kombiniert oder schichtet –, findet man Muster, die einem sonst verborgen bleiben. Nur dann kann man die Stofflichkeit von Daten voll und ganz erforschen. Daten findet man nicht in Photoshop-Paletten, sondern zumeist in Datenbanken.
Dem Forschungsdrang steht dabei nichts im Wege. Noch nie gelangte man so leicht an größere Datenmengen wie heutzutage: Immer mehr Anbieter öffnen sich der Außenwelt. Über ihre Programmierschnittstelle oder auch API (Application Programming Interface) lassen sich Datenquellen so einfach wie nie zuvor anzapfen. Hat man sich einmal registriert, kann man in den meisten Fällen schon direkt loslegen – viele Plattformen liefern zu diesem Zweck ausführliche Dokumentationen und Blogs. Daneben expandiert das weite Feld der Self-Surveillance – also der Selbstbeobachtung und -kontrolle.
Neben dem inzwischen sehr weit verbreiteten Nike+ erscheinen immer mehr neue Tools und Technologien, mit denen jeder seine eigenen alltäglichen Daten erheben und analysieren kann. Die Webanwendung Bedpost zum Beispiel zeigt, dass die Self-Surveillance keine Grenzen kennt: Sie hilft, das eigene Sexleben zu protokollieren und möglicherweise neu zu bewerten. Diese und andere Daten decken nicht nur Muster auf, über die wir uns selbst vielleicht näher kennenlernen und damit unsere Lebensqualität verbessern können; sie lassen sich natürlich auch mit der Außenwelt teilen – sprich es ist plötzlich erstmals möglich, solch abstrakte Zusammenhänge in eine visuelle Sprache zu übertragen, sich besser verständlich zu machen und ein Feedback zu bekommen oder auf Gleichgesinnte zu treffen.
Um ein erstes Gefühl für Daten als Material zu bekommen, kann man auch einige Anwendungen testen, die diese Erfahrung in die Hände der Nutzer legen, indem sie Visualisierungen interaktiv zur Verfügung stellen. Beispiele hierfür sind die Anwendungen yooouuutuuube.com, spectrumatlas.org oder socialcollider.net. Als Gestalter hält man dabei – wichtig genug – die Ausgangsposition fest, die die Betrachter dann selbst untersuchen und interpretieren können. Ausgewählte Zustände und Ausschnitte lassen sich damit in einen neuen Kontext bringen und mit anderen Personen teilen sowie diskutieren.
Die Verantwortung der Designer nimmt zu – und mit ihr die Herausforderungen, aus einer immer größer und komplexer werdenden Datenfülle sinnvolle visuelle Metaphern zu bilden. Filtern und Weglassen wird dabei genauso wichtig wie Gestalten. So wird der Segen der Informationsflut zugleich zum Fluch. Der Neologismus infobesity bringt dieses relativ neue Phänomen auf den Punkt, indem er eine Parallele zieht zwischen dem wachsenden Problem der Fettleibigkeit (obesity) und den Symptomen übermäßigen Informationskonsums. Mussten wir Menschen vor noch gar nicht allzu langer Zeit so viel Nahrung und Information wie möglich aufnehmen, um unser tägliches Überleben zu sichern, so kämpfen wir heute (zumindest in den westlichen Industrienationen) mit einem Übermaß an Lebensmitteln und Informationen gleichermaßen.
Unsere DNA ist noch nicht umprogrammiert, unser Verhalten gleicht noch dem unserer Urahnen. Dass viele mit dem Überangebot an Nahrung nicht umgehen können, sieht man auf der Straße. Wie sich der übermäßige Informationskonsum auswirkt, wird sich wohl erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zeigen. Doch noch scheint die Anziehungskraft der Daten ebenso verführerisch wie der Glanz des Goldes. Für Designer ist es an der Zeit, dieses faszinierende, wertvolle, vielfältige und sensible Material nicht nur genauer zu erforschen, sondern vor allem auch kritischer zu betrachten.