Visual Thinking mausert sich zur Wunderwaffe für kreatives Denken. Kritzeln hilft nicht nur bei der Strukturierung von Gedanken, sondern auch bei der Ideenfindung und -entwicklung.
Visual Thinking mausert sich zur Wunderwaffe für kreatives Denken. Kritzeln hilft nicht nur bei der Strukturierung von Gedanken, sondern auch bei der Ideenfindung und -entwicklung.
The State of the Union, die alljährliche Rede des US-Präsidenten zur Lage der Nation, erlebte zwei Revolutionen. Die erste durch Woodrow Wilson, der sie 1913 nicht nur schriftlich einreichte, sondern auch persönlich vortrug. Die zweite durch Barack Obama im Januar 2011, der als erster Präsident nicht nur auf seine Worte vertraute, sondern auch Bilder sprechen ließ. Das Weiße Haus hatte dafür auf seiner Website eigens einen Stream eingerichtet. Das Splitscreen-Video zeigte zu zwei Dritteln Obama bei seiner Ansprache im Abgeordnetenhaus, das andere Drittel war für Infografiken und Erklärungsbilder reserviert, die die Argumente und Positionen des Präsidenten visuell verdeutlichten. Mit den Bildern lieferte er denen, die nicht die sechzig Minuten Zeit hatten, die seine Rede dauerte, einen schnellen und leicht verständlichen Überblick. Und weil sich unser Gehirn schriftliche Information in Verbindung mit Bildern viel besser merken kann, kommunizierte er seine Inhalte deutlich effektiver, als es eine Stunde Wortdiktat je könnte.
Vom visuellen Denken zum Graphic Recording
Was Obama sich zunutze machte, ist die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich Gedanken und Ideen in bildlicher Form vorzustellen. Schauplatz dieses Kopfkinos ist unsere rechte Gehirnhälfte. Im Gegensatz zur linken, die für das Analytische und Logische zuständig ist, kümmert sie sich um alles Kreative. Und genau dort ist das visuelle Denken angesiedelt. Strömungen, die die Kompetenzen der rechten Gehirnhälfte stärker in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken, gibt es seit geraumer Zeit – besonders in den trendaffinen USA. Inzwischen ist das visuelle Denken auch in Europa angekommen. Große Konzerne wie die Deutsche Bank oder Telekom setzen auf Graphic Recording und lassen ihre Meetings in Echtzeit von Illustratoren mitzeichnen. In Workshops für Führungskräfte wird Managern vermittelt, wie sie ihren Mitarbeitern mithilfe von Metaphern und visuellem Storytelling Vision und Mission der Firma näher bringen können. Und Marken wie Google, Microsoft und Chevrolet entdecken die Kraft des Handgezeichneten, um ihre Produkte auf neue Art und Weise zu präsentieren. Die Methoden sind breit gefächert und finden im Bildungs- und Kreativbereich ebenso wie in der Politik oder den Vorstandsetagen der Unternehmen Anwendung. Die Erfolgsformel visuellen Denkens: Es ist intuitiv, macht Spaß, ist schnell zu lernen und lässt sich außerdem leicht in den Berufsalltag integrieren.
Zeichnen als Sichtbarmachung des Design-Thinking-Prozesses
Eine grundsätzliche Affinität zu dem Thema besitzen natürlich Designer. Michael Bierut, vielfach ausgezeichneter Grafik-Designer und Partner von Pentagram in New York, dessen Arbeiten unter anderem im dortigen Museum of Modern Art zu sehen sind, schwört auf seinen kleinen täglichen Begleiter: das Notizbuch. Seit 1982 bringt er das, was ihm durch den Kopf geht, auf Papier. In den 18 Jahren seiner Karriere hat er insgesamt 86 Notizbücher gefüllt. Bevor sich seine Ideen in Produkten manifestieren, entwickeln sie sich in diesen Büchlein. Kollege Daniel Weil, Partner bei Pentagram in London, führt seit 1978 ein visuelles Tagebuch. Seine These: Zeichnen ist die Sichtbarmachung des Design-Thinking-Prozesses. Für die beiden ist visuelles Denken elementar in der Ideenfindungs- und -entwicklungsphase. Noch bevor Prototypen gebaut oder 3-D-Objekte am Computer generiert werden, zeichnen sie ihre Ideen, um ein Gefühl für das Entstehende zu bekommen. Besonders in der frühen Entwicklungsphase ist es extrem wichtig, möglichst viele Varianten und Perspektiven zu berücksichtigen. Visualisierung vereinfacht es, verschiedene Aspekte herauszuarbeiten und mehrere Entwürfe schnell und anschaulich darzustellen. Nicht ohne Grund steht Design Thinking auch im Businesskontext inzwischen ganz oben auf der Liste der Kreativmethoden. Und Pentagrams Erfolg beweist, wie sich visuelles Denken als Designdisziplin etablieren und rentieren kann.
Hollywood goes Scribbeling, Google setzt auf gezeichnete Erklärungen
Auch Hollywood-Regisseure und -Produzenten setzen Handgezeichnetes oder Scribbles ein, um ihre Ideen zu verkaufen und Konzepte zu erklären. Der Brite Christopher Nolan, für die Komplexität und Vieldeutigkeit seiner Filme bekannt, ist einer der prominentesten Vertreter. Bei dem vielfach prämierten Film »Inception« griff er zu den altbewährten Mitteln Stift und Papier. Im Shooting Script findet sich eine feingliedrige Skizze. Eine Komposition aus Ebenen, Pfeilen, Namen und schraffierten Flächen füllt das Blatt, zusammen mit den Randnotizen visualisiert sie das gesamte Konzept des Films. Mit einer einfachen Zeichnung reduziert Nolan die Vielschichtigkeit seines Konstrukts so, dass auch alle anderen es auf einen Blick verstehen. Sie dürfte aber auch ihm selbst geholfen haben, seinem Werk eine Form zu geben. Gedanken in Bilder zu übersetzen wirkt oft als Katalysator für die Ideenentwicklung, weil Inhalte strukturiert werden. Und das beschleunigt wiederum den Entstehungs- und Kommunikationsprozess. Wer teilweise vor ähnlichen Problemen steht, ist Google. Der kalifornische Konzern entwickelt Technologien, die nicht in jedem Fall einfach zu erklären sind und sich dem Nutzer häufig erst mit der Zeit erschließen. Das bemerkte man auch in der Abteilung Unternehmenskommunikation und tat sich daraufhin mit Epipheo Studios zusammen, die für Google fortan dreiminütige Erklärvideos produzierten. Wie funktioniert der Browser Chrome, was ist Google Places, wieso brauche ich Google TV? Mit einfachen Zeichnungen und Symbolen übersetzte Epipheo die Technikersprache in allgemein verständliche Bilder, die sich auf YouTube inzwischen mehrere Millionen Menschen angeguckt haben.
Doodle Revolution – Gekritzelte Visualisierungen
Wem zeichnerisches Talent nicht in die Wiege gelegt ist, dem sei an dieser Stelle das Doodling empfohlen. Sunni Brown, selbst ernannte Anführerin der »Doodle Revolution«, hat es sich seit 2005 zur Aufgabe gemacht, das Kritzeln wieder auf die Agenda der Geschäftswelt zu setzen. Angefangen hat sie mit großflächigen Live-Visualisierungen von Vorträgen – unter anderem von Bill Clinton. Inzwischen schreibt sie Bücher über das Denken in Bildern und spricht auch selbst auf Konferenzen. Kritzeln erhöht unsere Aufmerksamkeit, Informationen lassen sich besser aufnehmen und wieder abrufen, und die Sehrinde wird aktiviert – eben der Teil des Gehirns, der uns in Bildern denken lässt und uns den Zugang zum Kreativ- und Problemlösungsbereich ermöglicht. Außerdem vereint Doodling drei Lernarten: visuell, auditiv sowie kinästhetisch. Ein kognitiver Rundumschlag also, der nicht nur Spaß macht, sondern auch bessere Ergebnisse verspricht. Doodling hat sich demnach gemausert von Schulheftschmierereien hin zu einer Methode, deren Erfolg inzwischen wissenschaftlich belegt ist. An der Universität Plymouth ließ man Probanden eine monotone zweieinhalbminütige Nachricht anhören und bat sie, sich Namen und Orte zu merken. Die Hälfte wurde mit Zetteln ausgestattet, auf denen sie während des Versuchs einfache Formen ausmalen sollten. Im anschließenden Gedächtnistest schnitten die Doodler um 29 Prozent besser ab als die anderen, die nur zugehört hatten. Die These dahinter: Wer eine langweilige Sache machen muss und nur dasitzt, neigt zum Tagträumen, was wesentlich mehr Kapazität als Doodling in Anspruch nimmt – und Letzteres nur so wenig, dass sich das Gehirn noch auf die Hauptaufgabe konzentrieren kann.
Visuelles Denken jetzt beginnen!
Denken in Bildern macht Dinge konkreter, klarer und fassbarer, katalysiert Ideenfindung und -entwicklung, beschleunigt Entscheidungsprozesse und fördert das zielorientierte Handeln. Dabei geht es nicht um den künstlerischen Aspekt, sondern um Funktionalität und vor allem um Kommunikation. Wer das selbst ausprobieren möchte, zeichnet das nächste Mal einfach die Idee, die man den Kollegen erklären will. Oder er visualisiert die Ergebnisse des Meetings, anstatt das schriftliche Protokoll herumzuschicken. Nur Mut – man muss nicht vom Fach sein, um visuelles Denken für sich zu nutzen. Als Barack Obama im Frühjahr 2007, damals noch Senator von Illinois, gebeten wurde, für eine Wohltätigkeitsveranstaltung eine Zeichnung anzufertigen, war das Ergebnis eine durchaus ansehnliche Skizze einer Sitzung. Visuelles Denken hat die Kraft, eingerostete Kommunikations- und Präsentationsmuster zu revolutionieren. Und jeder kann diese Revolution anzetteln. Alles, was man dazu braucht, ist ein Stift, ein Blatt Papier und ein wenig Zurückhaltung – um nicht selber zu reden, sondern die Bilder für sich sprechen zu lassen.
Anna Lena Schiller begleitet als Moderatorin, Mitzeichnerin oder visuelle Übersetzerin Konferenzen, Meetings und Workshops und verwandelt Businesspläne und Präsentationen in einfach verständliche Bilder. PAGE und die Good School veranstalten mit ihr Visual Thinking Lessons. Hier gehts zur Anmeldung!
(veröffentlicht in PAGE 06.2011)