
Making-of Ideenzug: So wird Bahnfahren neu gedacht!
Wie sieht das Bahnfahren der Zukunft aus? Das Hamburger Designstudio zweigrad durfte zwei Konzepte für den Ideenzug der Deutschen Bahn entwickeln. Wir zeigen, wie sie dabei vorgingen.
Hygienemodul Inklusiv gestaltet
Um die Zugtoilette für möglichst viele Menschen nutzbar zu machen, hat zweigrad ein Konzept entwickelt, das den Publikumsverkehr neu regelt: Zusätzlich zum regulären WC gibt es ein Urinal, und das Waschbecken befindet sich außerhalb der Kabinen. So halten sich Fahrgäste kürzer auf der Toilette auf, und zusätzlich können alle einfach mal so die Hände waschen – gerade in Pandemiezeiten eine willkommene Idee!
Apropos: In der Kabine ist alles touchless bedienbar. Zur Ausstattung gehören ein Wickeltisch, der diagonal in den kleinen Raum hereinragt, um möglichst viel Fläche zu nutzen, sowie eine Halterung, in die man ein Baby hineinsetzen kann, während man selbst auf der Toilette sitzt. Oder hockt: Analog zu einer Lösung für Flugzeugtoiletten, die zweigrad zusammen mit Krüger Aviation umgesetzt hat, verfügt das Modell über eine Sitz-Hock-Toilette. Wer sich aus religiösen oder hygienischen Gründen nicht auf die Brille setzen möchte, findet neben der Toilettenverkleidung Platz für seine oder ihre Füße. Handläufe unterstützen ältere und schwächere Fahrgäste. Dazu kommen eine große LED-Leuchtfläche, in den Spiegel integrierte Fahrgastinformationen sowie ein gut sichtbares Signal an den Türen, ob das WC frei oder besetzt ist.
Die gesamte Ausstattung ist sehr hochwertig, da sich herausgestellt hat, dass robuste Edelstahlkonstruktionen nicht nur ungemütlich sind, sondern entgegen ihrer Intention Vandalismus eher provozieren als verhindern. Eine freundliche, helle Gestaltung mit Holzelementen führt dagegen eher dazu, dass die Kabine so hinterlassen wird, wie man sie vorgefunden hat. Wichtig für Zugtechniker:innen: Die beiden Kabinen sind diagonal angeordnet, sodass die Technik für die Türen sowie die Toiletten an einem Ort zusammenläuft und durch eine einzige Zugangsklappe von außen erreichbar ist.

Den Regionalverkehr neu denken: Hygiene und Fahrradmitnahme
Aufgabe von zweigrad war es nun, Antworten auf folgende Fragen zu finden: Wie können Zugtoiletten für wesentlich mehr Passagier:innen zur Verfügung stehen – und sauber bleiben? Wie lassen sich Waggons so umrüsten, dass sie sowohl Sitzplätze als auch Stellfläche für Fahrräder bieten – und das besser als bisher?
Die Entwicklung der Module verlief zeitversetzt mit einem Team aus jeweils drei Industriedesigner:innen und einer gemeinsamen Projektleitung. Der Fokus lag auf dem Industriedesign, Interfaces spielten nur am Rande eine Rolle. Beide Teams tauschten sich regelmäßig untereinander aus, und am Ende wurden beide Module in einem Modell zusammengeführt. Bei dem Hygienemodul arbeiteten die Designer:innen mit Evac und Krüger Avation zusammen, bei dem Fahrradmodul mit DB Regio. Weitere Partner kamen im Projektverlauf dazu.
Zweigrad arbeitet grundsätzlich nutzerzentriert in einem methodisch gestützten Designprozess – und von Anfang an kollaborativ mit den Kund:innen zusammen. »Wenn man Ideen gemeinsam entwickelt und bewertet, entsteht ein viel besseres Teamgefühl«, sagt zweigrad-Geschäftsführer Timo Wietzke. »Außerdem stehen am Ende die Chancen besser, das Projekt bei der Geschäftsführung durchzubekommen – sofern diese nicht ohnehin Teil des Prozesses ist.« Das war auch beim Ideenzug der Fall.


Start: Analyse und Ideenworkshop
Los ging es mit einer gründlichen Analyse des Marktes und des Wettbewerbs, von Designtrends sowie sogenannter Analogien, also Beispielen aus verwandten Feldern – in diesem Fall Luftfahrt oder Caravaning. Letztere dienten beim späteren Workshop als Anregung, querzudenken und Ideen aus anderen Bereichen auf den eigenen zu übertragen.
Anschließend fand ein Strategie- und Innovationsworkshop mit Evac und DB Regio statt, bei dem die Design- und Projektziele formuliert, Anforderungen an die Technik und Gestaltung spezifiziert, Zielgruppen definiert und Use Cases durchgespielt wurden, um zu ersten Lösungsansätzen zu gelangen. Von Kundenseite waren Vertreter:innen aus Technik, Marketing und Vertrieb dabei, die ihre Perspektive auf Umsetzung und Wartung, den Markt sowie auf die Nutzer:innen einbrachten. »Normalerweise laden wir hier auch Anwender:innen dazu. Aber in diesem Fall waren wir das selbst: Wir fahren sowohl beruflich als auch privat viel mit der Bahn«, berichtet Timo Wietzke.
Sich nur auf eigene Erfahrungen zu verlassen genügt aber nicht: Mithilfe von Use Cases wurde durchgespielt, wie etwa Teenager:innen, ältere Menschen mit Seh- oder Gehbehinderungen oder Familien mit kleinen Kindern die Bahn nutzen. »Dabei ergaben sich verschiedene Anforderungen, die wir im Design berücksichtigen mussten. Use Cases erweitern immer die Perspektive und führen zu einem höheren Innovationsgrad«, ist Wietzke überzeugt. Im Laufe des Designprozesses kam auf Initiative der Deutschen Bahn punktuell auch Karl-Peter Naumann mit dazu, um als Ehrenvorsitzender des Fahrgastverbands ProBahn seine langjährige Expertise einzubringen.

Kreation: Vom Mockup zur 3D-Visualisierung
Aus den im Workshop generierten Einzelideen wählte das Team gemeinsam mit Evac und DB Regio die besten aus und entwickelte daraus ein schlüssiges Gesamtkonzept. In dieser Phase entstand zum Beispiel der Grundriss für das neue Hygienemodul in Illustrator. Im nächsten Schritt evaluierte das Team seine Ideen anhand von rudimentären 1 : 1-Mock-ups mit Proband:innen. Dafür baute zweigrad in der agentureigenen Werkstatt ein einfaches Modell aus Holzwänden und KAPA-Platten. »Auf diese Weise entsteht ein Gefühl für die Raumdimensionen und die Ergonomie unserer Entwürfe«, erklärt Timo Wietzke. Und es fällt zum Beispiel auf, dass kleinere Menschen einen Hocker vor dem Waschbecken benötigen. Das Setting testete das Team mit den Kund:innen sowie mit Familienmitgliedern. Ein größer angelegter Nutzer:innentest musste pandemiebedingt ausfallen.
Für das evaluierte Konzept erarbeiteten die Gestalter:innen dann diverse Designrichtungen. Hier kamen Moodboards und viel 2D-Sketching zum Einsatz. Die aussichtsreichsten Entwürfe setzten sie in Photoshop-Renderings um und präsentierten sie Evac und DB Regio. Als das finale Design verabschiedet war, folgte die Ausarbeitung in der CAD-Software Rhino, und es entstanden 3D-Renderings mit den ausgewählten Materialien und Oberflächen (siehe Abbildung oben). Nun übergab zweigrad die Designs an die Ingenieur:innen auf Kundenseite, die mit der Konstruktion des 1 : 1-Zugmodells starteten. Die Agentur begleitete den Produktionsprozess beratend, um notwendige Änderungen zu diskutieren und das Design anzupassen. »Das machen wir bei allen unseren Projekten, sowohl im Bereich Interfaces als auch Hardware. So stellen wir sicher, dass wir unsere Vorlage gut ins Ziel bringen«, so Wietzke.
Während der initiale Workshop für das Hygienemodul Ende 2019 noch vor Ort stattfinden konnte, lief alles Weitere ab März 2020 digital über Miro und Microsoft Teams. »Das hat viel besser funktioniert, als wir anfangs gedacht hätten«, sagt Wietzke. Zwar könne man virtuell weniger auf Mimik und Gestik eingehen, dafür sei die Scheu vor der aktiven Teilnahme im Workshop geringer. Ein großes Plus sei auch die Dokumentation via Miro. Das Projekt-Board ist durchgängig für alle zugänglich und kann bearbeitet oder mit To-dos ergänzt werden. Zusätzlich fanden Meilenstein-Präsentationen statt sowie in der Schlussphase wöchentliche Abstimmungscalls.

Ergebnis: In Real Life und Virtual Reality
Im Juli 2021 war es dann so weit: Die High-End-Modelle der beiden Ideenzüge – gebaut vom Messebauer Hubl & Hubl – wurden im Research Center von DB Regio in Oberursel offiziell vorgestellt. Die Fotos der realen Hygiene- und Fahrradmodule (siehe Abbildung oben) sind kaum von den 3D-Renderings zu unterscheiden. Demnächst gehen die Ideenzüge auf Tour und werden unter anderem auf der internationalen Verkehrstechnikfachmesse InnoTrans 2022 zu sehen sein.
Die Ideenzüge lassen sich aber auch digital erkunden: Auf https://ideenzug-event.de gibt es eine VR-Tour, die einen durch die neuen Module führt. Dafür erstellte das zweigrad-Team aus seinen CAD-Dateien mit den Programmen KeyShot und 3DVista 360-Grad-Ansichten des Hygienebereichs sowie des Fahrradwagens und übergaben sie an die Münchner Event- und Digitalagentur planworx, die die Website und die VR-Tour programmierte.
Die Designer:innen von zweigrad hoffen nun – gemeinsam mit den Partnerunternehmen –, dass ihre Konzepte bei Ausschreibungen für Umbauten oder neue Züge Anklang finden. Beide Module funktionieren nämlich nicht nur unabhängig voneinander, sondern existieren auch jeweils als Komplett- sowie als Retrofit-Lösung für bestehende Züge. »Besonders bei dem Fahrradmodul gab es schon positive Resonanz, weil viele Verkehrsbetriebe hier eine neue Lösung suchen«, sagt Wietzke. Und mal ehrlich: Welcher Fahrgast würde sich nicht über die attraktive Toilettenvariante von zweigrad freuen?

Fahrradmodul – Verschiedene Nutzungsszenarien kombiniert
Viele Verkehrsbetriebe stehen vor der Herausforderung, dass immer mehr Fahrgäste aus Ballungsräumen mit ihren Fahrrädern raus in die Natur wollen – während Menschen aus den umliegenden Regionen zum Arbeiten oder Einkaufen in die Stadt möchten. Die Wagen müssen also für zwei sehr unterschiedliche Nutzungsszenarien gleichermaßen funktionieren. »Die bisherige Lösung mit Klappsitzen in Fahrradabteilen wird dieser Problematik nicht gerecht, weil sie nicht eindeutig genug ist«, erklärt Timo Wietzke. »Dort sitzen oft auch Personen ohne Rad, was zu Streitigkeiten führt, die für die Kontrolleur:innen schwer zu regeln sind.«
Die Lösung von zweigrad sieht ein flexibles Raumsystem vor, das in seiner Bedienung beziehungsweise Nutzung klar definiert ist: Man kann entweder sitzen oder ein Fahrrad anschließen. Welches Szenario auf welcher Fahrt und zu welcher Uhrzeit gerade sinnvoll ist, entscheidet das Bahnpersonal. Die Umstellung kann entweder motorisiert oder mechanisch erfolgen. Es gibt auch die Option einer Mischform mit Sitzen auf der einen und Fahrradständern auf der anderen Seite. Dank einer Nachrüstlösung ließe sich das Konzept in bestehenden Wagen schnell umsetzen – vorausgesetzt, es findet sich ein Sitzhersteller als Partner, der entsprechende Vorrichtungen produziert.