
‹In›Between: AR-Ausstellung fürs Reeperbahn Festival
Unter Corona-Auflagen eine Ausstellung realisieren? Bareis + Nicolaus ist das mit ihrer interaktiven Schau zu Musik und Grafik gelungen – durch ein flexibles Konzept und den smarten Einsatz von Augmented Reality

Design fürs Musikbusiness
Alles hatte im Winter 2019 bei einem Party-Smalltalk der beiden Designer mit Christina Schäfers, der Managerin des Kunst-, Film- und Literaturprogramms des Reeperbahn Festivals, und der Frage angefangen, ob das Event sich nicht auch visuell stärker aufstellen könnte, zum Beispiel indem man das Zusammenspiel von Musikbusiness und Design beleuchtet: »Ich wusste, dass das Reeperbahn Festival kein Musikfestival im klassischen Sinne ist, sondern dass der Schwerpunkt darauf liegt, die verschiedenen Beteiligten im Musikgeschäft zusammenzubringen: Talentscouts mit Künstlern, Bands mit Labels, Klubs mit Publikum und das ganze Drumherum. Also haben wir uns mit dem Festivalteam überlegt, dass auch die visuelle Komponente vertreten sein müsste«, sagt Christian Nicolaus, »also Animationen, Videoclips, Filme, LP-Cover, Plakate, Bühnenbild, Szenografie, Kostüme – alles, was eine Band visuell nach außen trägt.«

Für die Betreiber war dieser Aspekt neu – und so war die Aufgabenstellung dazu relativ offen: »Wir sollten uns erst einmal ein grobes Konzept überlegen. Nachdem wir dieses Ende Januar präsentiert hatten, bat man uns um ein komplettes Ausstellungspaket von der inhaltlichen Konzeption über die Umsetzung bis zum Aufbau einer Ausstellung zum Thema Grafik und Musik«, sagt Felix Bareis. Eine Vorgabe gab es doch, wenn auch eher implizit: Dem Reeperbahn Festival wie auch den Designern war es wichtig, dass mindestens die Hälfte der Speaker und ausgestellten Künstler Frauen sein sollten.

Ausstellung: Corona-konforme Konzepte
Kaum hatte das Studio im Februar 2020 mit den Vorbereitungen begonnen, brachte Corona erste Unsicherheiten. Alle zwei Wochen trafen sich die Festivalorganisatoren in Videokonferenzen, um zu entscheiden, ob es weitergehen konnte oder ob Bareis und Nicolaus noch warten mussten, bevor sie bei anderen beteiligten Gestaltern etwas beauftragen oder anfragen konnten. Das ging so bis einen Monat vor Festivalstart im August: »Natürlich ist das anstrengender als eine normale Produktion, wenn man nicht genau weiß, was kommt«, berichtet Christian Nicolaus, und Felix Bareis ergänzt: »Aber wir haben viel gelernt, viel improvisiert und das Konzept immer wieder neu an die Situation angepasst.«

Die Corona-Auflagen verlangten beispielsweise, dass die Containertüren immer offen standen, um für ausreichend Belüftung zu sorgen, oder dass separate Ein- und Ausgänge vorhanden waren – und sogar auf die technische Umsetzung wirkten sie sich aus: »Wir hatten anfangs überlegt, eine eigene App in Unity zu programmieren und iPads auszulegen, mit denen man die AR-Inhalte zu den Covern ohne Internetverbindung hätte zeigen können. Aber dann hätten wir die Geräte dauernd desinfizieren müssen«, erklärt Christian Nicolaus. So entschieden sich die Designer schließlich für eine Umsetzung mit der kostenlosen AR-App Artivive und damit für eine hygienische Bring-your-own-Device-Lösung.
AR-Kuratoren: Exponate sammeln, Räume gestalten
Für die AR-Inhalte setzte sich Bareis + Nicolaus mit den Coverdesignern und Grafikern in Verbindung, die sie für die Ausstellung gewinnen wollten, beschrieben ihnen die inhaltlichen und technischen Möglichkeiten – etwa Animationen von Covermotiven oder Musikvideos als AR-Inhalte für die Ausstellungsbesucher zu hinterlegen – und fragten, ob sie eine Idee beisteuern wollten.

Nicht alle Angefragten meldeten sich zurück, und doch war die Resonanz insgesamt positiv und die Motivation der Gestalter, etwas zur Ausstellung beizutragen, sehr groß. »Manche riefen an und sagten, sie würden gerne extra noch ein Video machen. Und bei denen, die sich gar nicht gemeldet haben, deren Cover wir aber dennoch zeigen wollten, haben wir – natürlich mit dem Einverständnis der Künstler – einfach die Musikvideos oder Fotos von deren Instagram-Account hinterlegt«, sagt Felix Bareis.
AR-Event: Modulares Ausstellungsdesign
Parallel entwickelte Bareis + Nicolaus eine Lösung für den Showroom von ‹In›Between2020. Das modulare Prinzip stapelbarer ISO-Container bot sich den Kuratoren als Inspiration für das Ausstellungsdesign an. Ähnlich flexibel geriet nämlich auch die Hängung an mittels Magneten befestigten Gittern, an denen die Plattencover mit kleinen eckigen S-Haken aufgehängt wurden. Die Beschriftungen der Exponate waren mit Gummibändern an den Gitterelementen angebracht. »Im Endeffekt ist also nix gebohrt und nix geklebt, was uns nicht nur den Auf- und Abbau extrem erleichterte, sondern uns bis zum Schluss die Möglichkeit ließ, umzuhängen und auf die aktuelle Situation zu reagieren«, erläutert Christian Nicolaus, der sich verschiedene Prototypen ins Büro gehängt und alles ausprobiert hatte: welche Magnetstärke man braucht, wie viele Magnete pro Gitter, wie viele Gitter generell und wie man die Platten daran befestigt.
‹In›Between2020: Betrieb unter Realbedingungen
Lediglich ein kleiner Nachteil der Ausstellungscontainer kristallisierte sich erst im Verlauf der viertägigen ‹In›Between2020 heraus: Aufgrund der recht ausgeprägten Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht und der hohen Luftfeuchtigkeit am Morgen begannen einige Plakate und Plattencover, Wellen zu schlagen. Doch dieser Wermutstropfen war schnell verdampft: »So ist das eben im Kontext, es war schließlich ein Festival im Freien«, sagt Felix Bareis. Für die Besucher war das ohnehin nicht zu erkennen, stattdessen konnte man nach dem Einchecken in den Container in die grafischen Welten der Musikproduktion abtauchen und dabei über Artivive sowohl die Sounds der ausgewählten Musiker als auch bewegte visuelle Inhalte genießen. Daneben lud die Videoskulptur Monolith von Pfadfinderei zur kontemplativen Betrachtung ein und die soundreaktive Installation von lichtgestalten zum Klatschen, Pfeifen und Hüpfen.

Im Container treppauf hatte Bareis + Nicolaus zudem ein Vortragsprogramm rund um Grafik und Musik mit bekannten Akteuren aus der Designbranche aufgestellt, darunter das Berliner Studio Sucuk und Bratwurst sowie Ladies, Wine & Design Hamburg. Alles in allem eine sehr gelungene Premiere des Themas auf dem Reeperbahn Festival, und so hoffen wir natürlich, dass es dort 2021 unter besseren Vorzeichen ein nächstes Mal gibt – für das perfect match Grafik und Musik.
Weitere Artikel zum Einsatz von Augmented Reality
- Wie Augmented Reality Künstler zu überraschenden Experimenten herausfordert lesen Sie in unserem PAGE-Case und -Tutorial »New York AR« und in der PAGE 11.2020
- Wie Video-AR funktioniert und wie man sie entwickelt, erfahren Sie in unserem Artikel Video-triggered Augmented Reality.
- Stadtentwicklung: AR-App für Bürgerbeteiligung
- Augmented-Reality-Weltpremiere bei Jan Böhmermann
Dieser Artikel ist in der PAGE 02.2021 erschienen, die Sie hier mit Ihrem P+-Abo auch komplett runterladen können!