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‹In›Between: AR-Ausstellung fürs Reeperbahn Festival

Unter Corona-Auflagen eine Ausstellung realisieren? Bareis + Nicolaus ist das mit ihrer interaktiven Schau zu Musik und Grafik gelungen – durch ein flexibles Konzept und den smarten Einsatz von Augmented Reality

AR Ausstellung Bareis + Nicolaus vier Cover
Cover im Container Mit AR in die Welt von Plattenhüllen eintauchen konnten die Besucher der Ausstellung »‹In›Between – Zwischen Musik und Grafik« beim letzten Reeperbahn Festival – links jeweils ohne, rechts mit AR-Inhalt.

PROJEKT ‹In›Between — Zwischen Musik und Grafik. Interaktive Ausstellung für das Reeperbahn Festival 2020
KUNDE Reeperbahn Festival GmbH, Hamburg
AGENTUR Bareis + Nicolaus, Stuttgart und Hamburg
TECHNIK Artivive, Adobe Photoshop, InDesign, Illustrator, After Effects, Glyphs
ZEITRAUM Dezember 2019 bis September 2020

 Besucher hält Smartphone in AR-Ausstellung
AR-Plattencover: Das perfekte Match von Grafik und Musik konnten Besucher der interaktiven Ausstellung von Bareis + Nicolaus mithilfe der Artivive-App erleben. (Bild: Bareis + Nicolaus)

Man konnte durchaus überrascht sein, dass im letzten September trotz bundesweiter pan­de­miebe­dingter AHA-Regeln, zahlreicher abgesagter Großevents und der Angst vieler Städte, zum nächs­ten Hotspot zu werden, ausgerechnet das Reeperbahn Festival stattfinden durfte. Warum? Dem 2019 mit 20 Millionen Euro vom Bund geförderten Klub- und Musikfestival war es dank zusätzlicher 500 000 Euro von der Stadt Hamburg gelungen, ein umfangrei­ches Hygienekonzept vorzulegen. Damit konnte das Reeperbahn Festival 2020 nicht nur weiterhin als wichti­ger Treffpunkt der internationalen Musikwirtschaft dienen, sondern auch als nationales Versuchsmodell für pandemiegerechte Großveranstaltungen. Nach dem Motto: St. Pauli macht’s vor.

Vinylcover im Hafencontainer

Wie die Veranstalter die Hygieneregeln in der Praxis um­setzten, davon konnte sich die PAGE-Redaktion ein Bild machen, denn zumindest Gästelistenplätze für den Future Playground, einen großen Abschnitt des Festivalgeländes auf dem Hei­ligen­geist­feld neben dem Millerntor-Stadion, konnten wir ergattern. Doch viel mehr als das Check-in-and-out-Prozedere vor und auf dem Terrain, mehr als Absperr­bändchen, Des­in­fek­tions­mittel, Maskenpflicht und Sicher­heits­dienste interessierten uns die ­Inhalte der dorti­gen Containerausstellun­gen, allen voran ‹In›Between – ­Zwischen Musik und Grafik des Designerduos Felix Bareis und Christian Nicolaus.

Dieser Artikel erschien erstmals im PAGE Magazin #02.2021.

Begleitet von einem von ihnen konzipierten Vortragsprogramm mit spannenden Speakern aus der Designszene, bespielten die zwei Gestalter vier Tage lang mehrere Frachtcontainer mit einer umfangreichen interaktiven Ausstellung, auf der man rund 60 Plattencover und 40 Konzertplakate auf dem eigenen Smartphone mit Augmented Reality anreichern konnte. Außerdem zu sehen: eine soundreaktive In­stallation von lichtgestalten aus Stuttgart und der Monolith, eine Videoskulptur von Pfadfinderei aus Berlin.

 

AR-Ausstellung Videoskulptur Monolith

Besucher vor Videoskulptur Monolith und Platten
Videoskulptur Monolith: Was passiert, wenn ein Bildschirm Pixel uneinheitlich anzeigt? Wie beeinflusst dies unsere Wahrnehmung von Bildern – und wie viel visuelle Information benötigen wir, um die Grenze zwischen abstrakt zu gegenständlich zu überschreiten? Der Monolith, eine 2,7 mal 2,7 Meter große Leinwand aus Acrylglas und LED von Dominic Kießling und Thomas Vanta von der Motion-Design-Agentur Pfadfinderei, spielt mit Verzerrungen und Transformationen. Klassische Büsten verwandeln sich in abstrakte Verläufe und werden wieder zu konkreten Bildern. (Bild: Vianca Reinig)

Design fürs Musikbusiness

Alles hatte im Winter 2019 bei einem Party-Smalltalk der beiden Designer mit Christina Schäfers, der Managerin des Kunst-, Film- und Literaturprogramms des Reeperbahn Fes­tivals, und der Frage angefan­gen, ob das Event sich nicht auch visuell stärker aufstellen könnte, zum Beispiel indem man das Zusammenspiel von Musikbusiness und Design beleuchtet: »Ich wusste, dass das Reeperbahn Festival kein Musikfestival im klassischen Sinne ist, sondern dass der Schwerpunkt darauf liegt, die verschiede­nen Beteiligten im Musikgeschäft zusammenzubrin­gen: Talentscouts mit Künstlern, Bands mit Labels, Klubs mit Publikum und das ganze Drumherum. Also haben wir uns mit dem Festivalteam überlegt, dass auch die visuelle Komponente vertreten sein müsste«, sagt Christian Nicolaus, »also Animatio­nen, Videoclips, Filme, LP-Cover, Plakate, Bühnenbild, Szenografie, Kostüme – alles, was eine Band visuell nach außen trägt.«

Planungsskizze Exponatverteilung
Exponatverteilung: Planungsskizze für die Hängung und Beklebung der Ausstellungscontainer: Für jedes Format eine andere Farbe, etwa Blau für die Plattencover und Grün für die Beschriftungsschilder. (Für eine größere Ansicht bitte auf das Bild klicken)

Für die Betreiber war dieser Aspekt neu – und so war die Aufgabenstellung dazu relativ offen: »Wir soll­ten uns erst einmal ein grobes Konzept überlegen. Nachdem wir dieses Ende Januar präsentiert hatten, bat man uns um ein komplettes Ausstellungs­paket von der inhaltlichen Konzeption über die Um­set­zung bis zum Aufbau einer Ausstellung zum Thema Grafik und Musik«, sagt Felix Bareis. Eine Vorgabe gab es doch, wenn auch eher implizit: Dem Reeperbahn Festival wie auch den Designern war es wichtig, dass mindestens die Hälfte der Speaker und ausgestellten Künstler Frauen sein sollten.

Schreibtisch mit Gitter und vier Covern Magnethalen für die Hängung im Container

Befestigung der Infotafeln mit Gummibändern
Modulare Hängung: Um die Container nicht anzubohren, entwickelte Bareis+Nicolaus eine modulare magnetische Aufhängung für Schallplattencover, die sie vorher im Office ausprobierten. Die LP-Beschreibungen waren flexibel mit Gummibändern befestigt. (Bild: Vianca Reinig)

Ausstellung: Corona-konforme Konzepte

Kaum hatte das Studio im Februar 2020 mit den Vorbereitungen begonnen, brachte Corona erste Unsicherheiten. Alle zwei Wochen trafen sich die Festivalorganisatoren in Videokonferenzen, um zu entscheiden, ob es weitergehen konnte oder ob Bareis und Nicolaus noch warten mussten, bevor sie bei anderen beteiligten Gestaltern etwas beauftragen oder anfragen konnten. Das ging so bis einen Monat vor Festivalstart im August: »Natürlich ist das anstrengender als eine normale Produktion, wenn man nicht genau weiß, was kommt«, berichtet Chris­tian Nicolaus, und Felix Bareis er­gänzt: »Aber wir haben viel gelernt, viel improvisiert und das Konzept immer wieder neu an die Situation angepasst.«

Christian Nicolaus und Felix Bareis sitzen vor dem Container
AR-Kuratoren: Die Diplom-Designer Christian Nicolaus (links) und Felix Bareis vor ihren Ausstel­lungscontainern ‹In›Between – Zwischen Musik und Grafik im Sommer 2020 auf dem Reeperbahn Festival.

Die Corona-Auflagen verlangten beispielswei­se, dass die Containertüren immer offen standen, um für ausreichend Belüftung zu sorgen, oder dass separate Ein- und Ausgänge vorhanden waren – und sogar auf die technische Umsetzung wirkten sie sich aus: »Wir hatten anfangs überlegt, eine eigene App in Unity zu programmieren und iPads auszulegen, mit denen man die AR-Inhalte zu den Covern ohne Internetverbindung hätte zeigen können. Aber dann hätten wir die Geräte dauernd desinfizieren müssen«, erklärt Christian Nicolaus. So entschieden sich die Designer schließlich für eine Umsetzung mit der kostenlosen AR-App Artivive und damit für eine ­hygienische Bring-your-own-Device-Lösung.

AR-Kuratoren: Exponate sammeln, Räume gestalten

Für die AR-Inhalte setzte sich Bareis + Nicolaus mit den Coverdesignern und Grafikern in Verbindung, die sie für die Ausstellung gewinnen wollten, beschrieben ihnen die inhaltlichen und technischen Möglichkeiten – etwa Animationen von Covermotiven oder Musikvideos als AR-Inhalte für die Ausstellungsbesucher zu hinterlegen – und fragten, ob sie eine Idee beisteuern wollten.

Hand mit Smartphone, das AR-Inhalt zum Cover anzeigt Container außen mit Beklebung

Container außen zweiter Stock
AR-Ausstellung auf dem Hamburger Heiligengeistfeld: Oben links: Scannt man das Griptape-Albumcover von 7apes und Enaka (1992) mit der Artivive-App, spielt sie das Video zum Track »City of Angels« mit Sound ab. Die großen Folienplots brachten Klebetechniker kurz vor Eröffnung nach exakten Plänen der Kuratoren an den Containern an.

Nicht alle Angefragten meldeten sich zurück, und doch war die Resonanz insgesamt positiv und die Motivation der Gestalter, etwas zur Ausstellung beizutragen, sehr groß. »Manche riefen an und sagten, sie würden gerne extra noch ein Video machen. Und bei denen, die sich gar nicht gemeldet haben, deren Cover wir aber dennoch zeigen woll­ten, haben wir – natürlich mit dem Einverständ­nis der Künstler – einfach die Musikvideos oder Fotos von deren Instagram-Account hinterlegt«, sagt Felix Bareis.

AR-Event: Modulares Ausstellungsdesign

Parallel entwickelte Bareis + Nicolaus eine Lösung für den Showroom von ‹In›Between2020. Das modulare Prinzip stapelbarer ISO-Container bot sich den Kuratoren als Inspiration für das Ausstellungsdesign an. Ähnlich flexibel geriet nämlich auch die Hängung an mittels Magneten befestigten Gittern, an denen die Plattencover mit kleinen eckigen S-Haken aufgehängt wurden. Die Beschriftun­gen der Exponate waren mit Gummibändern an den Git­ter­elementen angebracht. »Im Endeffekt ist also nix gebohrt und nix geklebt, was uns nicht nur den Auf- und Abbau extrem erleichterte, sondern uns bis zum Schluss die Möglichkeit ließ, umzuhängen und auf die aktuelle Situation zu reagieren«, erläutert Chris­tian Nicolaus, der sich verschiedene Proto­typen ins Büro gehängt und alles ausprobiert hatte: welche Magnetstärke man braucht, wie viele Magne­te pro Gitter, wie viele Gitter generell und wie man die Platten daran befestigt.

‹In›Between2020: Betrieb unter Realbedingungen

Lediglich ein kleiner Nachteil der Ausstellungscontainer kristallisierte sich erst im Verlauf der viertägigen ‹In›Between2020 heraus: Aufgrund der recht ausgeprägten Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht und der hohen Luftfeuchtigkeit am Morgen begannen einige Plakate und Plattencover, Wellen zu schlagen. Doch dieser Wermutstropfen war schnell verdampft: »So ist das eben im Kon­text, es war schließlich ein Festival im Freien«, sagt Felix Bareis. Für die Besucher war das ohnehin nicht zu er­kennen, stattdessen konnte man nach dem Einchecken in den Container in die grafischen Welten der Musikproduktion abtauchen und dabei über Artivive sowohl die Sounds der ausgewählten Musiker als auch bewegte visuelle Inhalte genießen. Daneben lud die Videoskulptur Monolith von Pfadfin­derei zur kontemplativen Betrachtung ein und die soundreaktive Installation von lichtgestalten zum Klatschen, Pfeifen und Hüpfen.

Großer Bildschirm im Container mit soundreaktiver Installation Fazer Drums
Soundreaktive Installation Fazer Drums: Wie sieht eigentlich ein Klangteppich aus? Die Flüssigkeits- und Partikel­simulationen der Installation von lichtgestalten reagieren in Echtzeit auf Sounds im Raum: Über zwei Richtmikrofone versetzt lautes Pfeifen, Klatschen oder Rufen die in TouchDesigner programmierten GLSL-Shader-Animationen in Bewegung. Die ursprünglich für einen Liveauftritt der Band Fazer Drums konzipierte Installation modifizierte Dominik Schatz für das Reeperbahn Festival, indem er etwa Farben der Partikel und die Soundverarbeitung an die stark hallenden Containerwände anpasste.

Im Container treppauf hatte Bareis + Nicolaus zu­dem ein Vortragsprogramm rund um Grafik und Musik mit bekannten Akteuren aus der Designbranche aufgestellt, darunter das Berliner Studio Sucuk und Bratwurst sowie Ladies, Wine & Design Hamburg. Alles in allem eine sehr gelungene Premiere des Themas auf dem Reeperbahn Festival, und so hoffen wir natürlich, dass es dort 2021 unter besseren Vorzeichen ein nächstes Mal gibt – für das perfect match Grafik und Musik.

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Dieser Artikel ist in der PAGE 02.2021 erschienen, die Sie hier mit Ihrem P+-Abo auch komplett runterladen können!

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