Wie Fernsehen heute funktioniert
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mmer zum Erscheinen der aktuellen Printausgabe der PAGE: »Die Fundstücke« von Jürgen Siebert. Freuen Sie sich über kühne Kommentare zu Trends, Entwicklungen, Ereignissen und dem ganz normalen Alltagswahnsinn eines Kreativen … Diesmal: Fernsehen funktioniert heute anders.
Auch in den USA gehören Telefon und Fernseher noch zur technischen Grundausstattung eines Hotelzimmers. Seitdem es Smartphones gibt, nutze ich beides nicht mehr auf Reisen. Viel wichtiger für mich sind heutzutage eine Steckdose, ein schnelles und kostenloses Wi-Fi-Netz und eine Docking-Station mit leistungsstarken Boxen, um meine eigene Musik oder Internetradio zu hören oder einen Film bei guter Tonqualität zu sehen.
Das Einschalten das Hotelfernsehers bestätigt, warum diese Art des Fernsehens ein nutzloses, heiß gelaufenes Dinosaurier-Medium geworden ist. Das fängt mit der Bildqualität an, erstreckt sich über die Menge der Kanäle und endet mit der werbefinanzierten Zerstückelung selbst gut gemachter Reportagen oder Filme. Wer schaut sich solchen Mist noch an? Mit Sicherheit viel weniger, als Einschaltquoten-Ermittler (Nielsen), TV-Sender und Werbeindustrie sich gegenseitig in die Tasche lügen.
Das Verrückte an der Ermittlung der Einschaltquoten: Noch immer wird sie in den USA mit Set-Top-Boxen auf TV-Geräten gemessen. Allerdings schaut heute kaum noch jemand auf diese Art fern. Vor allem tun es die anspruchsvollen Zuschauer nicht mehr. Sie lassen sich TV-Inhalte über Hulu, Netflix, Apple TV, Amazon Prime oder Roku auf Smartphones und Tablets servieren, die alle nicht in die Ermittlung der Einschaltquote einfließen. Warum nutzen die Menschen diese Möglichkeiten? Weil sie auf das zeitversetzte Anschauen angewiesen sind, weil sie sich der Werbung entziehen möchten und weil ihre Mobilgeräte bessere Bildschirme haben als jedes Hotel und jeder Flieger.
Viele TV-Networks trauen schon lange nicht mehr den Nielsen-Quoten. Als die 4. Staffel von »Community« im Februar bei NBC startete, soll sie eine Quote von 4 Millionen erreicht haben, etwa ein Viertel von »Two and a Half Men« und früher ein Grund, die Serie sofort einzustellen. Auf Twitter wurde »Community« (6 Millionen Follower) in der Nacht nach der Ausstrahlung jedoch Trending Topic weltweit. Fernsehen funktioniert heute anders.
Wenn eine Episode ausgestrahlt wurde, ist sie noch lange nicht zu Ende gesehen. Am nächsten Tag schauen sie sich Zehntausende auf ihren Rechnern an. Oder sie laden sie über iTunes, wo TV-Folgen kurz nach der Ausstrahlung für 2,99 US-Dollar zu kaufen sind. Dann twittern die Zuschauer weiter darüber, was neue Fans generiert. Sie tragen Kommentare in Blogs ein und diskutieren auf Facebook über den aktuellen Cliffhanger. Keine dieser Aktivitäten wird irgendwo auf der Welt von Quotenmetern erfasst.
Diese Mechanismen sind der Grund dafür, dass es momentan in den USA hervorragende Serien gibt, die ihre Kosten locker einspielen, beispielsweise »Mad Men« oder »Homeland«. Im vergangenen Jahr gewannen mehr Kabelsender einen Emmy als die klassischen Sender. Weil sich das Fernsehen mehr und mehr vom TV-Gerät abkoppelt, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Kabel- und Antennen-TV. Qualität ist das einzige Kriterium, das zählt. Ein Sieg für die Zuschauer und ein Knieschuss für die Zyniker des Privatfernsehens, die auch bei uns im Land immer noch die These vertreten: Der Zuschauer ist doof, also machen wir doofes Fernsehen.
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