Hierarchiefreie Strukturen: Das Team ist der Chef!
Keiner kann alles wissen – also sollte auch keiner alles entscheiden. Immer mehr Agenturen schaffen deshalb die Vorgesetzten ab. Wir zeigen, wie das gelingen kann.
Agentur-Organistation: Lebendige Zellstruktur
Digitalagenturen, in denen schon seit Jahren zunehmend agil gearbeitet wird, fällt eine Umstrukturierung oft leichter als eher klassisch orientierten Kreativagenturen. Bei Edenspiekermann in Berlin vollzog sie sich quasi schleichend. »Für uns war es ganz natürlich, die agile Arbeitsweise von der Projekt- auf die Unternehmensebene zu übertragen«, sagt Creative Director Moritz Guth. Vor rund zwei Jahren fand der offizielle Wechsel statt – auf Wunsch der Mitarbeiter. »Seitdem entwickelt sich das System immer weiter, wie ein lebendiger Organismus. Frei nach dem Motto ›Inspect and adapt‹«, so Guth.

Bei der Organisation entschied sich die Agentur für eine aus Zellen bestehende Struktur: In diesen arbeiten maximal acht Personen aus verschiedenen Disziplinen fest zusammen. »So haben die Teams die Möglichkeit, sich ganz aufeinander einzustellen. Das war bei von Projekt zu Projekt zusammengewürfelten Gruppen eher schwierig«, erklärt Moritz Guth. Durch die überschaubare Größe behält jeder eine Vorstellung davon, woran die Kollegen gerade arbeiten und Absprachen sind auch spontan möglich. Innerhalb des Teams unterstützt man sich, und jeder kann sich in dem Gefüge mal in einer anderen Rolle ausprobieren.
Angelehnt an den Project Owner aus dem Scrum-Konzept, nach dem die Agentur arbeitet, hat jede Zelle einen Leiter. Dieser verantwortet nicht jedes Projekt, sondern behält den Überblick über alle und kann gegensteuern, wenn etwas schiefläuft. Diese Position haben naturgemäß eher erfahrene Mitarbeiter inne. Daneben hat jede Zelle einen eigenen Budgeteer, der in Absprache mit dem Leiter und dem Team die Kalkulation macht. »Alles, was die Projektarbeit angeht, passiert innerhalb der Zellen. Das Management widmet sich allein der übergeordneten Unternehmensstrategie«, erläutert Guth.
Die Jobtitel sind bei Edenspiekermann noch recht klassisch aufgebaut: Nach Designer kommt Senior, darauf folgen Design sowie Creative Director. Sie bezeichnen jedoch eher die Reife und Erfahrung als die Position im Unternehmen. Auf der Teamebene haben sie laut Moritz Guth keinerlei Bedeutung: »Da geht es allein darum, was die Person kann und welche Rolle sie im jeweiligen Projekt übernimmt.« Außerdem legt die Agentur großen Wert darauf, dass sich die Mitarbeiter auch zellübergreifend austauschen. »Man muss aufpassen, dass sich die Zellen nicht quasi zu Business Units entwickeln, die sich abkapseln und gegeneinander arbeiten«, so Guth. Deshalb gibt es regelmäßige Austauschformate, in denen die ganze Agentur, die einzelnen Disziplinen oder auch die Cell Owner zusammenkommen.
Familien mit Oberhäuptern
Jan Jördening, Digital Director und Management Board Member bei Scholz & Friends in Düsseldorf, glaubt nicht an komplett selbstorganisierte Teams – an traditionelle Hierarchien aber auch nicht. Statt die Verantwortung ganz an die Teams zu übergeben, sollte man die Rolle des Vorgesetzten neu definieren: »Wir verstehen Führungskräfte als Coaches, die ihr Team unterstützen, statt es zu kontrollieren, die es empowern, statt zu bevormunden. Die immer ansprechbar sind, wenn man sie braucht.« Ein wichtiger Punkt sei aber auch, die Mitarbeiter nicht mit zu viel Verantwortung zu überfordern. Das erweise sich nämlich als kontraproduktiv, so Jördening – sowohl für die persönliche Entwicklung des Einzelnen als auch für die Arbeitsatmosphäre insgesamt. »Führungskräfte müssen zeigen: ›Ich trage die Verantwortung für eure Arbeit.‹ Auf diese Weise schaffen sie eine unbeschwerte Atmosphäre, die freies und kreatives Arbeiten fördert«, ist Jördening überzeugt.

Bei Scholz & Friends Düsseldorf sind die Mitarbeiter in sogenannten Familys organisiert, die rund 15 Personen unterschiedlichster Disziplinen umfassen und von zwei Kreativdirektoren geleitet werden. Diese setzen in Absprache mit den Beratern die jeweiligen Projektteams zusammen – und lassen sie dann relativ frei loslegen. »Alles sehen und freigeben zu wollen, ist nicht mehr zeitgemäß für einen Kreativdirektor«, so Jördening. Die Teams können gegenüber dem Kunden selbstständig Entscheidungen treffen, stehen aber in regelmäßigem Austausch mit den Chefs. Nach Abschluss der Projekte wird gemeinsam besprochen, was beim nächsten Mal anders gemacht werden könnte oder sollte.
Selbstorganisierte Teams: Ein großer Flip
Die Agentur wirDesign in Braunschweig und Berlin hat sich für den radikalen Wandel entschieden: Seit 2016 arbeitet die Agentur in selbstorganisierten Teams, die Vorstandsebene fungiert »nur« noch als Dienstleister für ihre Mitarbeiter und bietet Expertenwissen auf Nachfrage. Finanzvorstand Andreas Schuster hat die Entscheidung nie bereut: »Wir fragen uns eher, warum wir das nicht schon viel früher gemacht haben.« Heute gibt es bei wirDesign acht Teams mit jeweils vier bis sieben Mitarbeitern, die sich komplett selbst verantworten – inklusive Kalkulation. Es gilt jedoch das Konsultationsprinzip: Bevor eine Entscheidung fällt, wird ein jeweiliger Experte befragt. Bei Finanzthemen ist das häufig Andreas Schuster, der die Teams ebenfalls regelmäßig darüber informiert, wie sie gerade finanziell dastehen. »Transparenz ist für mich die Voraussetzung dafür, dass die Teams sich selbst steuern dürfen. Ein toller Nebeneffekt dabei: Alle Mitarbeiter entwickeln dadurch wirtschaftliches Denken.«

Eine Organisation mit rund siebzig Mitarbeitern lässt sich natürlich nicht von heute auf morgen umkrempeln. Bei wirDesign steckte ein ausgeklügelter Change-Prozess dahinter, für den sich die Agentur Unterstützung von Managementberater Niels Pfläging holte. Aus Sicht von Andreas Schuster waren zwei Faktoren erfolgsentscheidend: der Experimentcharakter der Umstellung und transparente Kommunikation. Ein Steuerkreis, bestehend aus den (damaligen) Führungskräften und wechselnden interessierten Mitarbeitern beriet sich über die geplanten Veränderungen und tauschte sich in Tandemgesprächen mit den Kollegen aus. Diese konnten quasi ein Mittagessen mit zwei Mitgliedern des Steuerkreises »buchen«, sich über den neuesten Stand informieren und sich mit eigenen Vorschlägen – und Bedenken – einbringen. Diese Kommunikations- und Beratungsphase dauerte rund ein halbes Jahr.
Und dann wandte die Führungsriege einen kleinen Trick an: Statt von »Veränderung« zu sprechen (ein Begriff, der oft negativ behaftet ist, auch weil er impliziert, dass etwas schlecht läuft), nannten sie den Prozess schlicht »Flip«. Nach dem Motto: Wir machen das jetzt einfach mal, zurück können wir immer noch. Auch jede weitere Veränderung – wie bei Edenspiekermann entwickelt sich die Struktur stetig weiter – heißt seither Flip.
Das neue Modell bedeutet eine deutliche Abkehr vom traditionellen Bild des Konzernlenkers – für Schuster vor allem eine Erleichterung. »In komplexen Organisationen gibt es kaum eine Entscheidung, die uneingeschränkt positiv ist. Aber vom Management wird erwartet, dass es alles weiß und die perfekte Lösung hat. Bei unangenehmen Nebenwirkungen stehen die Entscheider dann als Deppen da.« Heute entwickeln die wirDesign-Chefs Lösungen gemeinsam mit den Mitarbeitern.
Dabei erleben die Teams, wie komplex Entscheidungswege sein können – und tragen die Konsequenzen ihrer Beschlüsse selbst mit.
Das nimmt Druck von den Unternehmern, fördert die Mitarbeiter und sorgt dabei für ein echtes Miteinander. Das gelte übrigens auch für die Zusammenarbeit mit den Kunden. Diese seien sogar ausschlaggebend für den Wechsel gewesen, sagt Schuster: »Wir wollten die Voraussetzungen schaffen, gemeinsam mit ihnen schneller bessere Lösungen zu entwickeln. Es ist viel einfacher, wenn alle Ebenen auf Augenhöhe eng zusammenarbeiten. Das merken und schätzen unsere Auftraggeber.« Ohne den Zusammenhalt innerhalb der Agentur sei eine derartige Umstellung nicht möglich: »Wenn es ehemalige Führungskräfte gibt, die das System boykottieren, ist der Erfolg in Gefahr«, ist Schuster überzeugt.
Gegangen ist bei wirDesign seit dem Flip niemand, es kommen vielmehr neue Mitarbeiter dazu, die gerade wegen der hierarchiefreien Strukturen auf wirDesign aufmerksam geworden sind – und sich sogar mitunter gegen andere, vielleicht lukrativere Angebote entschieden haben. Genau das macht wohl den Arbeitgeber der Zukunft aus.
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Interview mit Designerdock-Chef Robert Mende: »Freelancer fördern hierarchiefreies Denken«



