Wie ist das Universum entstanden, und warum ist es so, wie es ist? Diese Frage beschäftigt die Menschheit seit 2500 Jahren. Eine Antwort steht noch aus. Ich selbst hatte das Glück, mich in der Oberstufe mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Dafür sorgten ein Mathematik- und ein Philosophielehrer, die einen Großteil ihrer Freizeit damit verbrachten, die physikalische Welt durch mathematisches Denken zu erfassen. Dabei gingen sie von einem einzigen Prinzip aus, das nicht weiter hinterfragbar ist: dem Bezug auf sich selbst. Descartes fasste das in die Worte »Ich denke, also bin ich«.
Da Anfang der 1970er die Mengenlehre total in war, entwickelten unsere Lehrer ihr Gedankenmodell in der Sprache dieser mathematischen Disziplin. Startpunkt war die leere Menge, in der Sprache der Religion: das absolute Nichts. Wenn man nun das einzige, nicht hinterfragbare Prinzip, also den Selbstbezug, darauf anwenden möchte, bildet man die Potenzmenge der leeren Menge, die dann genau ein Element enthält, nämlich die leere Menge selbst – plötzlich ist aus nichts etwas entstanden.
Übersetzt man dieses Gedankenspiel in die Welt der Grafik, beschreibt es den Sprung von der 0. Dimension (= Punkt) in die 1. (= Gerade). Wiederholen wir den Selbstbezug, den ich jetzt mal Potenz nennen möchte, entsteht die Fläche und nach einer weiteren Multiplikation der Raum, also n3 oder die 3. Dimension. Setzt man diesen Bauplan fort, so wie es unsere Lehrer damals in einem 40-seitigen Manuskript taten, lassen sich Elementarteilchen, Atome und Moleküle erdenken und schließlich auch der Mensch – als ein 14-dimensionales Wesen, hervorgegangen aus dem Nichts.
An all das musste ich denken, als ich die letzten zwei Präsentationen bei den TYPO Labs Mitte April verfolgte. Ohne dass sie sich im Vorfeld ausgetauscht hätten, stellten sowohl Underware als auch Luc(as) de Groot die Zukunft der Schriftenwelt in vieldimensionalen Räumen dar. Angetrieben von der offenbar fantasieanregenden Technik der Variable Fonts arbeiteten sich beide an derselben Erkenntnis ab, die Underware so formulierte: »Wir können das Leben nur im Rückblick verstehen, müssen aber in die Zukunft hinein arbeiten.«
Vor einem Jahr hatte Underware ihren Vortrag mit der Vorstellung ihres Superfonts beendet – einer Fontdatei, die alle Schriften sämtlicher lebender und verstorbener Designer enthält –einschließlich derer, die noch geschaffen werden. Und an ebendieser Stelle spannen sie ihr Typedesign-Garn weiter. »Heute die Schrift für morgen entwerfen« lautet die Unterzeile ihrer gedruckten Novelle »Font Fiction«, die sie am Ende an alle Besucher verteilten. »Katzen haben 9 Leben. Schriften können unsterblich sein«, so die erste These, die sie nicht zuletzt mit der verwendeten Schrift belegten, ihrer Version der über 500 Jahre alten Bembo. Underwares Gedankenmodell zur Zukunft der Schrift kann man mittlerweile auch online nachlesen unter http://fontfiction.com.
Abschlussredner Luc(as) de Groot nutzt seit rund dreißig Jahren alle verfügbaren Tools, um seine Schriften zu entwickeln. Er ist in der TrueType- wie auch der PostScript-Welt zu Hause, also in der quadratischen (n2) und in der kubischen (n3) Berechnung von Buchstabenkonturen. Für ihn wäre es ein Traum, an manchen Kurven mit beiden Techniken arbeiten zu können . . . doch keines der gängigen Fontformate erlaubt einen solchen Mix.
Er beneide die Produktdesigner, so de Groot, die ihre Formen mit Funktionen 4. und 5. Grades entwerfen können. Mit den »primitiven« Werkzeugen der Schriftgestalter ließen sich die sanften Formen eines Smartphones gar nicht berechnen. Am Ende seines Vortrags, als er variable Schriften in vieldimensionale Räume projizierte, ähnelten sich die Grafiken von de Groot und Underware auf verblüffende Weise. Mindfuck. Was bleibt ihnen anderes übrig, wenn eine variable Fontdatei Raum für 64 000 Designachsen bietet?
Die Spinnereien der Typedesigner im Jahr 2 nach Erfindung der Variable Fonts zeigt: Die Technik aktiviert die Fantasie, doch über den Nutzen lässt sich noch nicht viel sagen. Das ist aber nicht ungewöhnlich für neue Medienformate. Man denke nur an die Musikkompression MP3, ohne die es keine digitalen Stores und kein Streaming geben würde. So werden auch die variablen Schriften bald in Welten auftauchen, für die sie wie gemacht sind: Virtual und Augmented Reality, sensorgesteuerte Geräte oder Bildschirmoberflächen, die irgendwann das statische Bedrucken ersetzen.
Gute Nachricht: Beim Erstellen von klassischen Drucksachen wird sich der Gebrauch von Schrift fast nicht verändern. Sehr gute Nachricht: Für das gegenwärtig noch nicht denkbare Verhalten von Schrift im Digitalen der 2020er und 2030er Jahre ist die Fontindustrie schon jetzt gerüstet.