PAGE online

Revival als Variable Font: Making-of Neue Television

Basierend auf der Diplomarbeit seines Vaters aus den 1970er Jahren, schuf Gabriel Richter gemeinsam mit ihm eine Variable-Font-Familie, die mit fünf Achsen und sechs Strichstärken riesiges Gestaltungspotenzial bietet. Wir zeigen, wie Gabriel Richter zusammen mit seinem Vater dessen Schrift ganz neu interpretierte.

Variable Font »Neue Television«: Father & Son

Für die meisten Typedesigner:innen mag es eine komische Vorstellung sein, mit dem eigenen Vater eine Schrift zu gestalten. Klaus und Gabriel Richter aber hatten trotz unterschiedlicher Charaktere und vieler Diskussionen vor allem Spaß. Sicher auch, weil Klaus Richter viel Interesse an heutiger Fonttechno­logie hat, die sich von dem, was er gelernt hat, doch sehr unterscheidet: »Damals gab es Abreibebuchsta­ben und Fotosatz statt Glyphs und einen Rapidogra­fen und Schoellershammer-Karton statt eines iPads Pro«, so Richter. »Schriftgestaltung war langwierig, aufwendig und lange nicht so populär wie heute.«

Variable Font »Neue Television«: Zu sehen ist das handgezeichnete Original der Television von Klaus Richter
Das Original: Gedruckt sieht die Diplomschrift von Klaus Richter eher gruselig aus, wie ein Dozent bei der Präsentation 1975 bemerkte. Doch das Ziel war ja schließlich auch eine deutlich verbesserte Lesbarkeit bei der Wiedergabe auf dem Schwarzweißfernseher.

Damals, das war 1971 bis 1975, als er an der Fachhochschule Düsseldorf Grafikdesign studierte. Als Diplomarbeit entwickelte Klaus Richter einen Font für Schwarzweißfernseher. Deren Bildwieder­gabe durch einen horizontal und linear laufen­den Kathodenstrahl, der auf eine Matt­scheibe projiziert wurde, machte Text be­sonders in kleinen Gra­den schlecht lesbar. Darauf reagierte Richter mit blo­ckigen Serifen und dem Öffnen der Buchstaben. Obwohl sein Alphabet deutlich besser lesbar war als die bei gängigen TV-Sendern verwendeten, wurde es nie umge­setzt. Stattdessen überarbeitete der Gestal­ter sie in eine plakativere Richtung.

Variable Font »Neue Television«: Die Versalien der Television von Klaus Richter
Die Television: Durch die Auflösung in eine lineare Strichform wurde aus der Diplomschrift quasi als Nebenprodukt die Television, die vor allem in der Kunst- und Musikbranche großen Anklang fand.

»Bei der Darstellung auf dem Bildschirm entstan­den durch das physikalische Phänomen der Phasenverschiebung Balken. Das brachte mich auf die Idee, diese horizontal laufenden Linien gestalterisch zu be­tonen«, erzählt Klaus Richter. Diese Television ge­nannte Schrift reichte er beim Mecanorma Contest ein, und das Unternehmen – Wettbewerber von Letra­set – vermarktete sie in Form von Abreibebuchstaben. Vor allem in der Musikbranche war die Television beliebt. Die Band Public Image Ltd von John Lydon (zuvor als Johnny Rotten Sänger der Sex Pis­tols) etwa setzte sie für Magazine und Plakate ein oder auch das Satiremagazin »Charlie Hebdo«.

PROJEKT Gestaltung der Variable-Font-Familie Neue Television
DESIGNER Gabriel Richter, Gründer der Foundry nice to type, Fukuoka, Japan und Klaus Richter, Düsseldorf
TOOLS Glyphs, Dinamo Font Gauntlet
ZEITRAUM Erste Skizzen 2014, mit vollem Einsatz von Anfang 2020 bis Ende Dezember 2022

Typedesign: Das Projekt Neue Television

35 Jahre später – im Jahr 2010 – begann Gabriel Richter, ebenfalls Grafikdesign in Düsseldorf zu studieren. Als er sich dann immer stärker für Typedesign ­interessierte, kam er auf die Idee, die Diplomschrift seines Vaters zu digitalisieren. Obwohl dieser im Keller noch einiges an altem Material fand, wurde daraus zunächst nichts, zu viel anderes stand auf der Agenda: die Bachelorarbeit, eine Sans Serif (heute als FF Infra erhältlich), dann der Start in die Selbstständigkeit. 2016 begann Gabriel Richter an der FH Düsseldorf Schriftgestaltung zu lehren, 2017 gründete er die Foundry nice to type, gestaltete ein paar schöne Fonts, zog nach Japan und wurde 2020 Vater einer Tochter.

Variable Font »Neue Television«: Portraitbild von Gabriel und Klaus Richter
Gabriel und Klaus Richter vor dem Kunstmuseum in Nagasaki. Einen Tag mal senkrechte statt waagerechter Linien zu sehen war eine schöne Abwechslung (Foto: Sumire Richter)

Vergessen hatte Gabriel Richter die Idee jedoch nicht, und während der Pandemie, als er Japan nicht ver­las­sen durfte, nahm das gemeinsame Projekt einer Neu­en Television richtig Fahrt auf. In Videocalls mit seinem Vater in Düsseldorf diskutierten die beiden hin und her, um sich auf ein Konzept zu einigen. Bei der Analyse der alten Vorlagen kam heraus, dass die Originalbuchstaben teils zu dünne Stämme hatten, und auch einige Buchstabenbreiten waren nicht optimal. E und F etwa nahmen zu viel Raum ein, das S kippte nach vorn. Sie entschieden, anstelle eines Re­vivals die Television lediglich als Ausgangspunkt für eine Neuinterpretation zu nehmen, die aber ebenfalls einem strengen Raster unterliegen sollte.

Variable Font »Neue Television«: Kreisziffern am Beispiel der 2
Zahlen im Kreis: Gabriel Richters Favoriten sind die Kreisziffern, vor allem die schwarzen. Einfach invertieren funktioniert nicht, stattdessen legte der Typedesigner die Kreislinien bis an die äußere Form der Ziffern, sodass eine Kontur entsteht

Wie viele Varianten braucht es?

Gabriel Richter fing an, mit den Linien zu experimentieren, der Gedanke an einen Variable Font drängte sich förmlich auf: »Ich habe gleich an sehr viele Ach­sen gedacht, nicht nur für Größe und Breite, sondern auch an eine, bei der der dicke Strich zu einem Kreis wird, dessen Position man verändern kann.« Sein Va­ter hätte sich lieber erst mal auf das Fertigstellen des Grundalphabets konzentriert und bezweifelte auch, dass sie wirklich so viele Schnitte brauchen würden. Insbesondere die fetten Fonts fand er unvorteilhaft. »Aber Designer:innen haben ja ihre eigene Meinung, vielleicht findet irgendjemand genau diesen Schnitt passend für ein spezielles Design«, argumentierte der Sohn dagegen. »Für mich war immer klar: Egal, wie seltsam es aussieht, wir packen es rein.« Auch weil man so vielfältiger mit der Schrift gestalten kann, in dem man zum Beispiel dicke und dünne Buchstaben übereinanderlegt, gerne auch in diversen Farben.

Variable Font »Neue Television«: Gelbes A mit orangenem SChatten

Variable Font »Neue Television«: Das A in unterschiedlichen Dicken
Dick oder dünn: Mit der Achse Weight kann man die Buchstaben, wie hier das A, beliebig dick oder dünn zeichnen. Nur der äußere dünne Strich lässt sich nicht verändern. So behalten die Buchstaben den Bezug zum Original, und es besteht nicht die Gefahr, dass sich innere und äußere Striche überlappen.

Viel Diskussionsbedarf gab es wegen den Strich­endungen. Sollten sie rund ausfallen, da die Schrift geometrische Grundlagen hat? Oder wie beim Original eher wie der Zipfel einer Zitrone? Die Lösung: Es gibt sowohl den Retrostil mit den weichen Einläu­fen als auch die geometrische Variante. Die An­wen­der:innen haben die Wahl und können über die entsprechende Achse auch Zwischenschritte erzeugen.

Variable Font »Neue Television«: Experimente zur Strichform
Eine Frage der Endung: Zu den Formen der Strichenden gab es viele Experimente. Schließlich entschieden sich die Designer für eine geometrische Version (ganz oben) und eine Retrovariante (ganz unten).

Viele Skizzen und Entwürfe gingen von Japan nach Deutschland und mit väterlichen Kommentaren versehen wieder zurück. Spätestens als Klaus Richter die erste Animation des Variable Fonts auf seinem Rechner betrachtete, war er von der Neuen Television vollauf überzeugt. »Man kann so vielfältige Anwendun­gen mit ihr gestalten«, sagt der 69-Jährige. »Ich habe sie gleich ein paar befreundeten Videokünstlern geschickt, die haben schon richtig gute Ideen, was sie damit machen wollen.«

Variable Font »Neue Television«: Variable Font S
Zu dem »normalen« Variable Font der Neuen Television (das linke Q und das +-Zeichen) gibt es noch eine Extraversion: Neue Television S , bei der nur der mittlere Strich enthalten und veränderbar ist (die beiden rechten Q). Ganz gleich, ob man sie einzeln anwendet oder – wie in der großen Abbildung oben – übereinanderlegt (die schwarzen Kreise sind Neue Television S), man kann wahnsinnig viel damit anstellen
Variable Font »Neue Television«: Anzahl der Striche bei Glyphen
Platzmangel: Je kleiner die Glyphen werden, desto mehr Striche bleiben auf der Strecke. Das kleine s verlor seinen Abstrich, der i-Punkt in der hochgestellten Variante hat nur noch zwei Balken.

Auf jeden Fall Kleinbuchstaben

Währenddessen plagte sich Gabriel Richter mit der Umsetzung. Jeden einzelnen Balken zeichnete er als Vektor und fragte sich, wie um alles in der Welt er sicherstellen sollte, dass jede Vektorlinie genau richtig sitzt. Statt der acht Kurvenpunkte eines »normalen« O gibt es bei der Neuen Television pro Segment zwölf, also 288 Kurvenpunkte. »Einmal verklickt, und schon ist eine Kurve schief oder ein bisschen kurz – das würde mich innerlich zerfressen«, erzählt der Typedesigner. Dann entdeckte er in Glyphs die Funk­tion »Smart Components«, mit der sich Teil­for­men von Glyphen immer wieder verwenden lassen. »Jetzt brauchte ich nur eine Grundform anzulegen. Verschob ich dann beispielsweise den Kreis von rechts nach links, übertrug das Programm diesen als Smart Component definierten Teil auf alle anderen Glyphen. Was für eine Arbeitserleichterung!«

Variable Font »Neue Television«: Smart Components
Unterstützung durch Smart Components: Viel Arbeit spart das Glyphs-Feature »Smart Components«, mit dem Änderungen an einer Komponente auch auf alle anderen Glyphen übertragen werden. Außerdem lässt sich die Breite der Komponente individuell ändern.
Variable Font »Neue Television«: Test-Tool Font Gauntlet
Test-Area Font Gauntlet: Im Tool Font Gauntlet der Foundry Dinamo kann man seine Variable Fonts wunderbar ausprobieren. Die Achse Stroke Width regelt die Breite der Mittelstriche, mit Stroke Position lässt sich die Position des Mittel­striches steuern und mit Retro Stroke der Übergang zur Endung.

Die alte Television war ein Versalalphabet ohne detaillierten Zeichensatz. Für Gabriel Richter war aber klar, dass die Neue Television auch Kleinbuchstaben und alle dazugehörigen Akzent- und Sonder­zei­chen bekommen sollte. Bei ihrer Gestaltung ließ sein Va­ter ihm freie Hand. »Das war schriftgestalterisch schon eine Herausforderung, weil die Buch­sta­­ben sich ja in einem strengen Raster einordnen müs­sen. Beim kleinen s zum Beispiel flog der Abstrich raus, weil er keinen Platz hatte«, so Gabriel Richter. Gerade im gemischten Satz scheinen die Buchstaben der Neuen Television auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen, dann aber doch wieder, weil sie durch die vertikalen Linien eine Einheit bilden. Das macht einen großen Teil des Charmes der Schrift aus.

Variable Font »Neue Television«: M

Variable Font »Neue Television«: M im Retroflair
Retroflair: Zu einigen Buchstaben und Zahlen gibt es alternative Glyphen mit dem Retroflair der Urschrift.

Fünf Achsen, sechs Strichstärken

Als Japan im September 2022 das Einreiseverbot für Touristen aufhob, flog Klaus Richter nach Fukuoka, Hauptstadt der südlichsten japanischen Haupt­insel Kyushu. Natürlich um die Familie zu besuchen, aber auch, um die Neue Television endlich fertigzustellen. »Seit ich hier bin, versuchen wir, jeden Tag bei fünf Buchstaben den Feinputz zu machen. So soll­te es klappen, das Projekt in den paar Wochen meiner Anwesenheit abzuschließen.«

Der fertige Variable Font hat fünf Achsen: Stem Width, Stroke Weight, Stroke Position, Stroke Width und Retro Stroke. Der statische Font besitzt sechs Strichstärken. Dabei hat jede 29 Varianten, sodass es insgesamt 174 feste Einzelschnitte gibt. Klaus Richter und Glyphs sind inzwischen gute Freunde. »Er probiert viel aus und kann mit der Software richtig gut umgehen«, so Gabriel Richter. »Allerdings hat alles, was er macht, Retroflair.« Was der Neuen Television richtig gut tut. Zu den Glyphen A, N, M, 2, 4, 6 und 9, die schon in der Originalschrift besonders waren, gibt es jetzt ein Stylistic Set mit den Retrovarianten.

Variable Font »Neue Television«: Einige Schnitte der Neuen Television
Jede Menge Vielfalt: Die statischen Schnitte haben sechs Strichstärken, alle mit verschiedenen Varianten. Insgesamt kommt Neue Television so auf 174 Schnitte.

»Ich hätte auch gerne ein paar Illustrationen in der Schrift gehabt«, sagt Klaus Richter. »Von Jimi Hen­drix, Janis Joplin, Kurt Cobain zum Beispiel, aber das wurde abgeschmettert. Gabriel fand, das sähe zu be­liebig aus.« Sie seien eben sehr verschieden, da sind sich die beiden einig. »Gabriel ist kopfgesteuert, ich bin etwas lockerer. Wenn ich bei einer Glyphe mal sage: ›Komm, 92 Prozent sind hier auch in Ordnung‹, geht er gleich an die Decke.« Allen Unterschiedlichkeiten und Diskussionen zum Trotz hat beiden Designern die Zusammenarbeit viel Freude bereitet – weitere Vater-Sohn-Schriftprojekte sind nicht aus­ge­schlossen. »Eigentlich müss­ten wir auch noch mal deine Ur-Diplomschrift digitalisieren«, überlegt ­Ga­briel Richter. »Ach lass mal«, antwortet sein Vater. Er hat wohl eher einen Icon-Font mit verstorbe­nen Musikgrößen im Sinn.

Variable Font »Neue Television«: Drei verschiedene Varianten von Pfeilen
Ganz individuell: Eigentlich identische Zeichen mit einem anderen Winkel, etwa Pfeile, lassen sich bei einer Rasterschrift nicht einfach kopieren und drehen. Gabriel Richter musste alle Zeichen individuell anpassen, damit sie ins horizontale Raster passen.

Neue Television ist bei nice to type erschie­nen. Ein Einzelschnitt kostet rund 70 Euro – dieser enthält 29 feste Varianten einer Strich­stärke. Die ganze Familie mit 174 Schnitten inklusive Variable Font gibt es für knapp 240 Euro.

Dieser Artikel ist in PAGE 02.2023 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.

PDF-Download: PAGE 02.2023

Storytelling für nachhaltiges Design ++ Designhochschulen im Wandel ++ Green Web: Konzepte und Tipps ++ Boomende Kreativszene aus Afrika ++ Umweltfreundliche Printproduktion ++ ENGLISH SPECIAL Yuri Suzuki ++ Circular Experience Design ++ Revival als Variable Font: Neue Television

9,90 €
AGB

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Das könnte dich auch interessieren