
Making-of: interaktive Installation »Bubbleversum« von Jung von Matt
Jung von Matt hat mit dem »Bubbleversum« eine interaktive Experience geschaffen, mit der man in die Filterblasen anderer Menschen eintauchen kann. Wie die Agentur das interne Mammutprojekt umsetzte
Ausgangspunkt war, den Mitarbeitenden ein Tool an die Hand zu geben, mit dem sie eigenständig mit Zielgruppendaten arbeiten können – und das möglichst einfach und intuitiv. »Wir wollten Data Science aus dem Elfenbeinturm rausholen«, so Andersen. Mit der Zeit entstand die Idee, nicht nur ein Programm zu entwickeln, sondern ein physisches Erlebnis. Die Filterblasen sollten aus dem Datenkosmos in den realen Raum übertragen werden, emotional und mit allen Sinnen erfahrbar. »Die größte Herausforderung war dabei die User Experience: Wie erlebt man eigentlich eine Filter Bubble? Und wie schaffen wir es, dieses Erlebnis so unmittelbar und immersiv wie möglich zu gestalten?«, sagt Joachim Kortlepel.

Die Bubble wird gebaut
Die Umsetzung des kuppelartigen, transparenten Erlebnisraums erwies sich als schwieriger als gedacht. »Zuerst dachten wir an aufblasbares Plastik, aber niemand weiß wirklich, wie lange so eine Konstruktion hält. Zudem verbraucht das konstante Aufblasen unglaublich viel Energie und ist dazu noch relativ laut«, sagt Kortlepel. Das Team testete diverse Materialien und entschied sich für eine Konstruktion aus ineinandergelegten transparenten Schalen. Um auf diese sauber projizieren zu können, mussten sie zudem mit einer speziellen Folie beschichtet werden.
In dieser Testphase arbeitete das Team noch mit vorläufigem Content. »Wir mussten die Hardware sehr früh festlegen, da die Bestellungen eine Vorlaufzeit von drei, vier Monaten hatten«, so Kortlepel. Das Sichten, Prüfen und Testen dauerte insgesamt circa vier Monate – auch weil weltweit Materialproben angefordert wurden, was während der Pandemie eine logistische Herausforderung war. Für den Bau der Bubble holte sich die Agentur Unterstützung von der Event-Produktionsfirma Pool Group.

Viele Gewerke in einer Bubble
Vor Baubeginn der physischen Bubble prüfte Jung von Matt die Anwendung in einer umfangreichen Computersimulation, in der die verfügbare Fläche so realistisch wie möglich gemappt wurde. Hierfür konnte das Team auf standardisierte Simulationen aus dem Messe- und Installationsbereich zurückgreifen. »Das Bubbleversum ist ein großes Investment für die Agentur. Wir mussten sicherstellen, dass unser Entwurf sitzt, alle Tests besteht und seine Langlebigkeit im Dauerbetrieb für die kommenden Jahre gewährleistet ist«, erklärt Joachim Kortlepel.
Als die Bubble stand, untersuchte das Team eingehend, wie die Inhalte dargestellt und Besucher:innen durch die Installation geführt werden sollten. Für die Programmierung und Animation des Contents war das Hamburger Studio Decode zuständig. »Wir haben quasi sieben Wochen in diesem Raum gelebt und jeden kleinsten Schritt getestet, damit sich die User Journey genau richtig anfühlt«, sagt Joachim Kortlepel. Dazu gehörte auch die Interaktion mit dem Content. Da es schwierig bis unmöglich ist, Körperbewegungen in einem runden Raum auszulesen, war Gestensteuerung keine Option. Für eine Steuerung per Voice müssten die Besucher die entsprechenden Cues kennen, also Wörter, die eine Aktion auslösen. Eine Avatar-Lösung wie Alexa lehnten Kortlepel und sein Team ab: »Der Bubble-Raum sollte keine eigene Persönlichkeit haben.« In der heutigen Experience dient ein Smartphone als Fernbedienung, denn seine Handhabung ist zum einen gelernt und passt zum anderen auch gut zur Metapher, weil das Smartphone hauptsächlich für das Formen und Ausspielen unserer Bubbles verantwortlich ist.
Zu Hochzeiten arbeiteten dreißig bis vierzig Leute am Bubbleversum. Das Projektteam teilte sich in fünf Workstreams auf: Installation, UX/Customer Journey, Design, Daten, Website. Jeder Stream war eigenverantwortlich und arbeitete iterativ an seinem Expertenthema. Dennoch mussten alle über ein Basisverständnis der anderen Gewerke verfügen, um zu wissen, wie das eigene Tun deren Arbeit beeinflusst und damit am Ende ein rundes Erlebnis entsteht. Es gab regelmäßige Abstimmungsrunden – und gemeinsame Deadlines. »Diese agile, unabhängige Arbeitsweise war das beste Modell für so ein komplexes Projekt«, sagt Kortlepel.

Die Experience-Trias
Um die Komplexität der zugrundeliegenden Daten verständlich zu vermitteln, legte Jung von Matt ein besonderes Augenmerk auf die User Journey. Das Team entschied sich für eine Abfolge von Prolog, Hauptteil und Epilog. In einem kleinen Raum – der wie der Raum mit der Bubble komplett schwarz ist – gibt es zunächst eine Einführung in das zugrunde liegende KI-Modell des Entwicklungsstudios Erason aus Lüneburg. »Diese Phase ist wichtig, um anzukommen, zu verstehen und sich auf die Experience einzulassen«, erklärt Robert Andersen, der diese Aufgabe bei meinem Besuch übernahm.
Hier erfährt man, dass das Datenmodell auf einer großen Konsument:innen-Media-Studie basiert, auf deren Grundlage eine KI namens Ailon anhand von über 70 000 Vorlieben sowie Abneigungen Zielgruppen bestimmt. Dank der KI kann das Bubbleversum nicht nur den Medienkonsum verorten, sondern auch themenspezifische Filterblasen ermitteln. Nach dieser Einführung konfiguriert man die Bubble, in die man eintauchen möchte. Insgesamt kann man drei Merkmale kombinieren (Alter, Geschlecht, Interessenstyp). Die elf wählbaren Typen, zu denen auch der Pumper gehört, basieren auf einer Umfrage des Berliner Meinungs- und Marktforschungsinstituts Civey, das 7000 Personen insgesamt 83 Fragen aus sechs Themenbereichen stellte.
Ist eine Gruppe ausgewählt, betritt man – in fast schon feierlicher Stimmung – die Bubble. Ihr Durchmesser beträgt 3,7 Meter. Das Besondere: Die Inhalte werden nicht vorab heruntergeladen, sondern von den Kanälen in Echtzeit abgefragt. Dazu musste das Team von JvM FLOW eigene APIs bauen (TikTok fehlt noch). Angereichert werden die Medieninhalte mit weiteren Daten von Civey, zum einen zu Soziodemografie, Mediennutzung und Interessens- und Einstellungsmerkmalen, zum anderen mit den bereits erwähnten Haltungsfragen zu aktuell gesellschaftlich polarisierenden Themen. Diese sind bei meinem Besuch noch stark vom Bundestagswahlkampf geprägt. »Die Haltungsfragen werden wir in regelmäßigen Abständen immer wieder aktualisieren«, erklärt Andersen. Spannende Insights und Posts lassen sich abspeichern und in der nächsten Phase, dem wieder im Vorraum stattfindenden Epilog, auswerten und gewichten. Die Daten werden 24 Stunden in einem digitalen Notizbuch gespeichert und dienen zum Beispiel als Grundlage für Strategiepräsentationen.
Insights und Inspiration
Das Bubbleversum soll integraler Bestandteil der Arbeit von Jung von Matt werden. Strateg:innen können damit ihre Annahmen über Zielgruppen hinterfragen, Kreative sich inspirieren lassen. »Wir bauen damit ein Verständnis für Zielgruppen auf, mit denen wir uns nicht selbst identifizieren können. Das hilft auch dabei, Diversität zu verstehen und Toleranz in der Kommunikation zu erhöhen«, glaubt Robert Andersen. Zudem rücke es Kreation und Mediaplanung näher zusammen: »Wir können nicht nur sehen, mit welchen Inhalten man Menschen ansprechen sollte, sondern auch Targeting und Platzierungen besser auswählen«, sagt Kortlepel.
Auch die Zusammenarbeit mit den Kund:innen soll mit dem Bubbleversum enger werden – dadurch, dass beide Seiten die Filterblasen der Zielgruppen gleichermaßen einsehen können. Das Interesse ist sowohl auf Agentur- als auch auf Unternehmensseite groß: Das Bubbleversum ist laut Joachim Kortlepel bis Weihnachten ausgebucht. Für alle Mitarbeitenden, die nicht in Hamburg sitzen – oder nicht warten wollen –, gibt es auch eine Webversion. Sie ist allerdings mehr Tool als Erlebnis. Für die Zukunft spielt Kortlepel mit dem Gedanken, die Experience via Datenbrille zugänglich zu machen. Eine entsprechende VR-Schnittstelle existiere bereits. »Wir wollen noch einiges ausprobieren. Das Bubbleversum ist ein fortlaufendes Forschungsprojekt.«
Der Aufwand hat sich jedenfalls gelohnt: Mit dem Bubbleversum demonstriert Jung von Matt sowohl (potenziellen) Auftraggeber:innen als auch (künftigen) Mitarbeitenden ihre Datenkompetenz – und das wesentlich eindrucksvoller als mit einem einfachen Webtool. Noch gibt es keine Cases, die auf den Erkenntnissen aus dem Bubbleversum beruhen – dafür ist es noch zu früh. Interessant wird auch sein, wie die Kreativen und ihre Kund:innen mit kritischen oder polarisierenden Insights umgehen. Etwa mit meinem leicht xenophoben Pumper: Bediene ich diese Neigung, indem ich ihm keine diversen Menschen zeige – oder werbe ich stattdessen dagegen an und riskiere, dass er mein Produkt ablehnt? Dieser Frage werden sich Markenverantwortliche demnächst noch weniger entziehen können.

Dieser Artikel ist in PAGE 12.2021 erschienen. Die komplette Ausgabe können Sie hier runterladen.