Zeit für Protest 3.0
Steckt heute eigentlich hinter jeder Politaktion ein Artdirektor?
Bild 1 und 2: Nein, das hier ist nicht die Werbefigur eines neuen Burger-Braters, sondern The MegaMouth, das von der Agentur Non- sense London für die Hilfsorganisation ActionAid zum G-20-Gipfel ersonnene Sprach- rohr für getwitterte Politparolen „Auf der Straße zu landen ist einfacher, als Sie denken“, schrieb Saatchi & Saatchi auf Laken in Frankfurter Designhotels. Würden Sie da gut schlafen? Schwer vorstellbar, dass sich diese Aktion fürs Diakonische Werk tatsächlich in einem Umfang realisieren lässt, der zu relevanten Ergebnissen führt.
Bild 3 und 4:Eine absurde Kampagne gegen Luftverschmutzung von JWT Hongkong für Friends of the Earth (via www.ibelieveinadv.com): „Pollution is closer than you think“ heißt es da – ja, sie ist noch viel näher als bei den scheinbaren Abgasen aus dem Röhrchen, nämlich in den Plastikbechern, deren Gebrauch derzeit galaktische Ausmaße annimmt.
Vor dem G-20-Gipfel vergangenen April in London gingen ulkige Typen in einem Kostüm irgendwo zwischen Superman und Ronald McDonald durch die Straßen. Durch ein Megafon riefen sie Parolen gegen Armut, Klimawandel und Wirtschaftskrise – also alles, was einem heutzutage so missfällt. Keine Parole war länger als 140 Zeichen – die Hilfsorganisation ActionAid hatte dazu aufgerufen, per SMS oder online Slogans einzusenden, um sie entweder via Twitter und über Megafon zu verbreiten. Idee und Umsetzung der sogenannten MegaMouth-Aktion kamen von der auf digitales Marketing spezialisierten Agentur Nonsense London. Die zeigt sich in der Dokumentation des Projekts auf ihrer Website erfreut, dass die TechCrunch-Blogger es als „Protest 2.0“ bezeichneten. Das Label 2.0 meint natürlich den Einsatz von Social Media. Aber wir wollen das hier einmal umdefinieren. Protest 1.0 war, als Aktivisten ihn noch selber machten. Damals, als langhaarige Greenpeaceler noch eigenhändig das Schlauchboot unter den Arm klemmten und zu Aktionen aufbrachen, die sie sich eigenhirnig ausgedacht hatten. Als man das „Handbuch der Kommunikationsguerilla“ noch als Manifest für neue Formen subversiver politischer Praxis las und nicht für den Ratgeber irgendeines selbst ernannten Marketinggurus hielt. Protest 2.0 denken sich Werbeagenturen für ihre Auftraggeber aus. Der Texter, der gestern noch für die Atomindustrie oder eine Großbank reimte, formuliert heute einen Slogan für Umweltschutz oder die Armenhilfe. Der Artdirektor bastelt ihn in schicker Typo in ein Motiv im Street-Art-Look ein. In Kooperation mit einer Event- und einer PR-Agentur werden Fassadenkletterer engagiert, die das Ganze in einer professionell für die Presse und YouTube dokumentierten Aktion an einem Hochhaus oder einer sonstwie exponierten Stelle anbringen. Ein paar Zeitungen und Blogs berichten (inzwischen nicht mehr so üppig, denn die Medien sind abgestumpft), die beteiligten Agenturen schmücken damit ihr Portfolio und gewinnen mit Glück noch einen Award. Dass Werbeagenturen (Pro-bono-) Kampagnen für egal welchen guten Zweck nutzen, um neben der langweiligen Kundenarbeit attraktive Wettbewerbseinsendungen zu haben, ist nicht neu. Doch früher verbreitete man die Goldideen in Print und TV, wo der werbliche Absender klar war. Heute gilt es bei jedem großen Kreativwettbewerb neue Kategorien zu bespielen, die „Innovative Advertising“ oder ähnlich heißen. Bei Organisationen mit gutem Namen wie Greenpeace, amnesty international und Co stehen die innovativen Werber geradezu Schlange, um ihre neuesten Guerilla-Ideen auszuprobieren – und gleich eine Pressemitteilung über ihre schicke gute Tat loszuschicken. Auch wir bei PAGE müssen uns fragen, ob wir uns nicht nur zum Rädchen dieser Maschinerie machen, wenn wir dann berichten. Die Werbetrommel für die gute Sache zu rühren und nebenbei noch etwas Eigen-PR zu machen, ist grundsätzlich nicht verkehrt. Häufig aber scheint die gute Sache vor lauter Verliebtheit in die kreative Idee in den Hintergrund zu treten. Zudem geht es fast immer um „gute Sachen“, die eh klar sind: Folter ist schlecht, Klimaerwärmung ist schlecht und Obdachlosigkeit auch. Und insbesondere bei den kleinen Guerilla-Aktionen muss man sich fragen, ob die Zielgruppe überhaupt erreicht wird – oder ob sich die Agenturen diese bloß auf gängigen Websites wie www.scaryideas.com oder www.ibelieveinadv.com gegenseitig vorführen, um sich selbst zu beweihräuchern. So sei vor dem übermäßigen Konsum solcher Sites gewarnt, denn am Ende könnte man den Glauben an jegliches wirklich von Herzen kommende Anliegen verlieren und alles nur noch für Fingerübungen Award-hungriger Kreativer halten.
Bild 1,2 und 3:Wer außer Werbeagenturen kämpft heute eigentlich noch für die Menschenrechte? Für Reporter ohne Grenzen baute Scholz & Friends zum Internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai vor dem Brandenburger Tor einen Drahtkäfig mit zerfetzter Kleidung auf – nach dem Motto „Ohne Pressefreiheit bleiben Opfer unsichtbar“
Bild 4:Keine Pseudo-Weltverbesserungskampagnen mehr, bloß um Awards zu kassieren! Für den auf Social Advertising spezialisierten Blog www.osocio.org entwarfen Jon Kubik und Adam Noel von der neuen New Yorker Agentur StealOurIdeas.com Anzeigenscribbles, die nun auf den einschlägigen Sites zu sehen sind
Bild 5:Seit die legendären Yes Men 1993 die Sprachchips von Barbies und GI-Joe-Puppen vertauschten und sie dann in die Geschäfte zurückstellten, greift die Werber-Kommunikationsguerilla zu ähnlichen Mitteln. Diese Puppen legte Mikado Publicis bei einer Kampagne gegen Menschenhandel in die Fleischtheken Luxemburger Supermärkte (via http://directdaily.blogspot.com)
Bild 6 und 7:Unter dem Motto „Save the Planet!“ ließ DDB Brazil für den WWF Doppelballons verteilen. Brachte man den äußeren zum Platzen, wurde der innere sichtbar – die ver- schmutzte Atmosphäre verschwand sozusagen. Pro erreichter Zielperson verdreckt die hübsche Idee die Umwelt allerdings ganz mächtig . . . (via http://adsoftheworld.com)
(Diesen Artikel finden Sie in Heft PAGE 09.2009)
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