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Warum Inklusion ein Schlüsselfaktor im Design ist

90 Prozent aller deutschen Verbraucher:innen halten Vielfalt und Integration laut einer Studie* von Integral Ad Science für wichtig. Warum Markenverantwortliche diesen Aspekt schon bei der Gestaltung auf der Uhr haben sollten und wie das geht, erklärt Julia Kühne von Gold & Wirtschaftswunder in einem Gastbeitrag.

Inklusive im Design: Klar, einfach und trotzdem emotional: Erscheinungsbild für die Nikolauspflege
Klar, einfach und trotzdem emotional – das Erscheinungsbild für die Nikolauspflege | Bild: © Gold & Wirtschaftswunder

Die Welt im 21. Jahrhundert ist multikulturell und vielfältig – Menschen mit (körperlichen) Einschränkungen sollen und wollen als potenzielle Zielgruppe adressiert werden. Behörden sind darüber hinaus verpflichtet, ihre Webangebote barrierefrei zu gestalten. Ebenso wie Unternehmen mit bestimmten Waren- und Dienstleistungen. Auch das Grundgesetz sowie die UN-Behindertenkonvention sorgen für Teilhabe. Jenseits gesetzlicher Rahmen ist es jedoch auch eine ganz banal geschäftliche Entscheidung, Kommunikation so zu gestalten, dass möglichst viele Menschen erreicht werden. Denn wer nicht inklusiv kommuniziert, lässt Marktanteile liegen – so einfach ist das. Doch natürlich weiß jeder Marketer: nicht alle können zu jeder Zeit eingebunden sein. Das uralte Gesetz gilt auch hier: was ist das Kommunikationsziel und wer genau die Zielgruppe?

Wollen wir informieren, unterhalten oder motivieren?

Für einige Menschen ist es extrem wichtig, dass eine kommunikative Maßnahme nicht nur gut lesbar, sondern inhaltlich klar und reduziert ist. Dabei geht es nicht um die Einhaltung von DIN-Normen, sondern darum, verschiedene Gestaltungslösungen mit unterschiedlichen Zielgruppen zu testen und Proband:innen aktiv in die Erarbeitung mit einzubeziehen. Ein Beispiel: Ich habe im Rahmen meiner Lehrtätigkeit einen Workshop an der HFG Gmünd zu diesem Thema angeboten. Es ging um einfache Vorgänge und Formulare für eine Arbeitsstätte für Menschen mit Autismus-Spektrums-Störung. Nach dem Feedback der Test-Zielgruppe war klar: einige gestalterische Lösungen, die sich aus der Anwendung von DIN-Normen ergeben hatten, mussten wir komplett überarbeiten.

Klare Kontraste und einfache Formen kennzeichnen das Erscheinungsbild für die Nikolauspflege
Klare Kontraste und einfache Formen kennzeichnen das Erscheinungsbild für die Nikolauspflege | Bild: © Gold & Wirtschaftswunder

Zielgruppe: Wer ist im Fokus?

Für jedes dieser Szenarien stehen im Design unterschiedliche gestalterische Werkzeuge zur Verfügung. Für einen Auftrag in unserer Agentur Gold & Wirtschaftswunder – ein Erscheinungsbild für eine Stiftung für Menschen mit Sehbehinderung – hat eine genaue Zielgruppendefinition zum Start den Erfolg gebracht: Für wen genau muss barrierefrei gestaltet werden? Welches Medium passt zu welcher Zielgruppe? Im Corporate Design gibt es etwa neben den Farben, die einen barrierefreien Kontrast ermöglichen, eine Farbpalette, die bewusst auf Barrierefreiheit verzichtet; im Rahmen dieses Projekts war klar, dass manche Kommunikationsmittel für eine vollsehende Zielgruppe (z.B. Spender:innen, Angehörige) gestaltet sind und es hier weniger um Information und viel mehr um Image geht. In diesem Bereich ist der Spielraum für die Gestaltung entsprechend größer und der Aspekt Barrierefreiheit kann zurücktreten. Es ist daher sinnvoll, im Vorfeld genau zu erarbeiten, wer wo welche Information sucht bzw. benötigt.

Das Erscheinungsbild für die Nikolauspflege auf einem Zeitungsformat
Bild: © Gold & Wirtschaftswunder

Standards sind eine solide Basis – aber nicht Maß aller Dinge

Ein wichtiger Touchpoint zwischen Unternehmen oder Organisationen und der jeweiligen Zielgruppe ist die Website. Da es allerdings für die Benutzung der Webseite schon unterschiedlichste Hilfsmittel gibt, wie etwa Sprachein- und -ausgabe, Vergrößerungssysteme oder spezielle Eingabegeräte, muss die Nutzung stets auch in diesem Kontext gesehen werden. Zudem gibt es unterschiedliche Einschränkungen: was für den einen eine große Hilfe ist, kann für die andere überhaupt keinen Effekt haben. Standards, die sich für die Gestaltung aus DIN-Normen heraus ergeben, sind deshalb häufig nur teilweise hilfreich: Sie bilden immer nur den kleinstmöglichen Nenner ab – weshalb die Zusammenarbeit mit Fokusgruppen und die klare Ausrichtung auf das Kommunikationsziel unerlässlich sind.

Es gibt aber viele hilfreiche Leitfäden, die man zumindest im ersten Schritt gut zur Anwendung bringen kann. Hier ein paar Beispiele:

  • der durch das World Wide Web Consortium (W3C) definierte Rahmen, der Standards für das Internet entwickelt.
  • die Web Accessibility Initiative (WAI), die bereits seit 1999 Richtlinien für barrierefreies Webdesign zur Verfügung stellt.
  • die Web Content Accessibility Guidelines, die praktische Anleitungen bereithalten.

In der praktischen Arbeit haben sich folgende Prinzipien bewährt:

  1. Wahrnehmbarkeit: Informationen müssen durch mindestens einen Sinn wahrgenommen werden können.
  2. Bedienbarkeit: Bedienelemente müssen von allen genutzt werden können.
  3. Verständlichkeit: Informationen und Bedienung sind verständlich gestaltet.
  4. Robustheit: Inhalte können bspw. mit Hilfstechnologien zugänglich gemacht werden.

Als Gestalterin ist mir natürlich extrem wichtig, dass es schlussendlich immer auch um ein ästhetisches Erlebnis geht, das trotz aller Normen und Einschränkungen visuell angenehm ist. Form und Funktion stehen eben nicht in einer Hierarchie, die Form muss nicht der Funktion folgen, sie hat selbst Funktion.

Die Schrift Atkinson Hyperlegible ist für den barrierefreien Einsatz optimiert
Die Schrift Atkinson Hyperlegible ist für den barrierefreien Einsatz optimiert Bild: © Gold & Wirtschaftswunder
Barrierefreiheit: Sprachsteuerung und Audio-Inhalte sind eine Erweiterung des Erscheinungsbilds und gehören zum Markenauftritt
Sprachsteuerung und Audio-Inhalte sind eine spannende Erweiterung des Erscheinungsbilds und gehören zum Markenauftritt Bild: © Gold & Wirtschaftswunder

Barrierefreie Webseiten: Google zeigt den Erfolg

Aber wer sagt mir, dass meine Umsetzung ihr Ziel erreicht hat? Zumindest für barrierefreie Webseiten gibt Google eine klare Richtschnur vor: Barrierefreie Webseiten werden von Suchmaschinen belohnt, denn die Nutzerfreundlichkeit ist hier ein wichtiger Rankingfaktor. Und für eine genauere Bewertung der Umsetzung ist dann natürlich auch hier wieder die Fokusgruppe relevant: sie gibt konkretes Feedback und hilft ggf., an der ein oder anderen Stelle nochmals zu justieren.

Es ist natürlich nicht nur aufgrund der Gesetzeslage ratsam, sich mit dem Thema Inklusion zu beschäftigen – s.o. Auch ist es die ureigene Aufgabe des Designs, möglichst Vielen dazu zu verhelfen, Zugang zu Information zu erhalten. Barrierefreies Gestalten kann aber auch ein Innovationstreiber sein, aber auch völlig neue Möglichkeiten des Ausdrucks für Gestalter:innen hervorbringen. Wer also schon früh im Design-Prozess überlegt, wer genau die Zielgruppe ist, seine Kommunikationsziele klar definiert, die ganze Medienpalette zum Einsatz bringt und während des gesamten Gestaltungsprozesses testet, wird nicht nur Chancen und neue Betätigungsfelder fürs Design erkennen, sondern sichert sich darüber hinaus die Sympathie seiner Kundschaft. Und die beeinflusst das Kaufverhalten. So einfach ist das.

Julia Kühne verrät, warum Inklusion ein Schlüsselfaktor im Design ist

Julia Kühne ist Creative Director und gemeinsam mit Christian Schiller Geschäftsführerin der Agentur Gold & Wirtschaftswunder in Stuttgart. Darüber hinaus ist sie seit 2012 Professorin an der Hochschule Mainz im Fachbereich Gestaltung. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf medienübergreifender Designkonzeption. Julia Kühne ist Mitglied im ADC (Art Directors Club Deutschland) und DDC (Deutscher Design Club).

Im Alltag von sehbehinderten Menschen kommen viele Geräte als Hilfestellung zum Einsatz. Dies stellt natürlich auch Anforderungen ans Design.
Im Alltag von sehbehinderten Menschen kommen viele Geräte als Hilfestellung zum Einsatz. Dies stellt natürlich auch Anforderungen ans Design. Bild: © Nikolauspflege Stuttgart, Verena Müller

Die Nikolauspflege in Stuttgart wurde am 15. Oktober 1856 von Olga von Württemberg als „Nikolaus-Pflege für blinde Kinder“ eröffnet.
Die Nikolauspflege in Stuttgart wurde am 15. Oktober 1856 von Olga von Württemberg als „Nikolaus-Pflege für blinde Kinder“ eröffnet. Bild: © Nikolauspflege Stuttgart, Verena Müller

 

 

Dieser Beitrag ist erstmals am 13. März 2024 erschienen. 

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